Home | Patienten | Gesundheitssystem | International | GKV | Prävention | Epidemiologie | Websites | Meilensteine | Impressum

Sitemap erstellen RSS-Feed

RSS-Feed
abonnieren


Weitere Artikel aus der Rubrik
Gesundheitssystem
Umgestaltung, neue Modelle


Medizinische Prävention ist nicht genug (25.10.23)
Lehrbuch "Sozialmedizin - Public Health - Gesundheitswissenschaften" in der 4. Auflage: Gesundheitskompetenz für alle! (28.6.20)
Kritik an Choosing Wisely-Empfehlungen gegen medizinische Überversorgung (6.2.20)
Verbessern finanzielle Anreize die Qualität gesundheitlicher Leistungen? Nein, und auch nicht wenn sie länger einwirken! (8.1.18)
"People-centred health systems" - Gesundheitssysteme à la Afrika, Südamerika oder Indien (6.10.14)
Pay for Performance bleibt Glaubensfrage - Empirie überaus schwach (3.8.13)
Auf rückwärtsgewandten Pfaden weiter zur Zweiklassenmedizin (24.5.13)
Globale Soziale Sicherung: So utopisch wie unverzichtbar (17.2.13)
Die Tücken des Wettbewerbs: Sondergutachten 2012 des Gesundheits-Sachverständigenrates (22.7.12)
Aufgewärmtes zur Praxisgebühr: Unbelehrbar, unbe-irr-bar oder einfach nur irre? (12.4.12)
Angriff der Refeudalisierer (2.2.12)
Neues und Fundiertes zur Kritik der schwarz-gelben Gesundheitspolitik (3.12.11)
"Englische Zustände" oder Erfolgsmodell für Steuerfinanzierung? Bericht zur Entwicklung des britischen NHS 1997-2010 (22.3.11)
Kommunale sektorübergreifende Versorgungskonferenzen: Eine Lösung für die gesundheitliche Versorgung in Stadt und Land!? (28.2.11)
Vorschläge von der Union für ein GKV-Versorgungsgesetz: Mehr Fragen als Antworten - aber für die CDU ganz schön mutig! (20.1.11)
Fachgesellschaft der Gesundheitsökonomen pfeift auf wissenschaftliche Empirie (13.1.11)
Weltgesundheitsbericht 2010 der WHO: Der Weg zu universeller Sicherung (26.11.10)
Steuerung durch Kassenwettbewerb - wenn ja, wie viel? (10.11.10)
FDP?! Mehr Staatsfinanzierung und Sozialbürokratie durch einkommensunabhängige Zusatzbeiträge mit Sozialausgleich (12.10.10)
Wie frei dürfen Privatkrankenversicherungen mit ihren Kunden umgehen? Bundesverwaltungsgericht zieht Grenze zugunsten Altkunden (28.6.10)
Zur Kritik der "Versloterhüschelung" der Sozialstaatsdebatte oder wozu eine Feier zum 65. Geburtstag auch dienen kann. (5.5.10)
Dreimal "Auswirkungen der DRGs": Ähnliche und völlig unterschiedliche Ergebnisse und Bewertungen dreier Politikfolgen-Studien (5.4.10)
Bedenkliche Schlagseite gesundheitspolitischer Ziele im Koalitionsvertrag (16.12.09)
Finanzierung der GKV durch Prämien a la Schweiz!? Wie sich die Bundesregierung mit einer Tasse Kaffee eine Kommission sparen kann! (21.11.09)
Wie zahlreich sind und welchen Nutzen haben die "Medizinischen Versorgungszentren (MVZ)"? Antworten des KBV-MVZ-Survey 2008 (25.5.09)
Wie viel kostet die Privatisierung von Leistungen der Krankenversicherung? Das Beispiel des "Medicare Modernization Act" von 2003 (5.5.09)
Kapitalistische Revolution ist lebensbedrohlich - vor allem für Männer (18.1.09)
"Reaching the poor with health services" - Beispiele für den Erfolg von Public Health-Modellen in Ländern der 3. Welt. (28.11.2007)
"Health Saving Accounts": wenig Wirkung, etwas für Reiche und nichts für Unversicherte - Zwischenbilanz aus den USA (2.9.2007)
Neues Gutachten des Sachverständigenrates schlägt umfassende Reformen und Neuerungen im Gesundheitssystem vor (3.7.2007)
Expertenrat: Trennung von Gesetzlicher und Privater Krankenversicherung aufheben (25.1.2007)
Gesundheitsforscher Prof. Beske fordert: "Mehr Geld ins System oder Leistungsausgrenzungen" (7.12.2006)
Gesundheitsreform 2006-2009: Zumindest den Überblick behalten! (2.11.2006)
Einführung des Gesundheitsfonds scheint beschlossene Sache (20.6.2006)
GKV-Beitragssatz könnte um 1-2 Prozentpunkte gesenkt werden (11.2.2006)
Modell der Gesetzlichen Krankenversicherung ist der PKV überlegen (28.9.2005)
Finanzierung der "solidarischen Gesundheitsprämie": Jährlich 15 Milliarden Euro Steuergelder für 25 Millionen GKV-Mitglieder (7.8.2005)
Kopfpauschale, Bürgerversicherung, Bürgerpauschale, ..... wo geht's lang? (29.7.2005)

Seite mit den Texten aller Artikel aufrufen:
Umgestaltung, neue Modelle
 

Andere Rubriken in "Gesundheitssystem"


Umgestaltung, neue Modelle

Finanzierung und Kosten, Lohnnebenkosten

Demografie, Krankheitslast

Medizinisch-technischer Fortschritt

eHealth / IT: Versichertenkarte, Patientenakte

Das Märchen von der Kostenexplosion

Internationaler Gesundheitssystem-Vergleich

Gesundheitswirtschaft

Andere Themen



Weltgesundheitsbericht 2010 der WHO: Der Weg zu universeller Sicherung

Artikel 1881 Für viele kam und ist er ziemlich überraschend, der Weltgesundheitsbericht 2010. Nicht nur der Titel Health Systems Financing: Path to universal coverage ist vielversprechend nach jahrzehntelanger Vorherrschaft neoliberaler, marktideologischer Forderungen nach Rückbau des Staates und Fokussierung auf pures Wirtschaftswachstum ohne Rücksicht auf soziale Verluste. Zwar hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schon der Vergangenheit wiederholt die Themen Gesundheitssystementwicklung bzw. Gesundheitsfinanzierung aufgenommen. Dabei hatte sie sich jedoch wiederholt der Kritik von einigen Regierungen, vielen Nichtregierungsorganisationen (NGO) und nicht wenigen Wissenschaftlern ausgesetzt, die eine vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern wenig hilfreich erscheinende ökonomistische Einengung und Betonung von marktwirtschaftlichen Lösungsansätzen erkannten. Damit lag die WHO zwar näher an der Linie anderer großer internationaler Organisationen, allen voran der Weltbank, der Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Welthandelsorganisation (WTO).

Nun hat sich die WHO als Sonderorganisation der Vereinten Nationen im Bereich Gesundheit offenbar wieder stärker als in vergangenen Jahren auf ihr Kerngebiet besonnen und ihre Alleinstellungsmerkmale wieder entdeckt. Denn der WHR 2010 definiert ein zentrales, letztlich allen anderen Kriterien übergeordnetes Ziel von Gesundheitssystementwicklung und vor allem Gesundheitsfinanzierung: die universelle gesellschaftliche Absicherung gegen finanzielle Krankheitsrisiken. Universal coverage lautet der von der WHO genutzte Begriff, der systemunabhängig die Zielsetzung umreißt. Universalität beschränkt sich dabei nicht mehr nur auf die Frage, ob die gesamte Bevölkerung sozial abgesichert ist, sondern bezieht zwei zusätzliche Dimensionen ein, die für bezahlbaren Zugang zu erforderlichen Gesundheitsleistungen für Alle unerlässlich sind, nämlich den Umfang des zugänglichen Leistungskatalogs und das Ausmaß der Kostenübernahme.

Damit hat die WHO klare Vorgaben für den Aufbau ebenso wie für die Reform von Gesundheitssystemen gemacht, Vor dem Hintergrund, dass Milliarden Menschen über keinerlei soziale Absicherung verfügen, ist jedes Land aufgefordert, den Schutz seiner gesamten Bevölkerung anzustreben - egal wie zahlungskräftig die einzelnen BürgerInnen sind. Der WHR sagt dazu eindeutig, die Einbeziehung der Armen kann nur über öffentliche Mittel funktionieren, was im Übrigen in den europäischen und anderen Industrieländern viel selbstverständlicher der Fall ist, als viele Beobachter oder Politiker wahrnehmen.

Doch es reicht nicht, so die WHO in ihrem Jahresbericht 2010, dass die Menschen irgendeinem sozialen Sicherungssystem angehören; schließlich ist das Recht auf Gesundheit(sversorgung) in vielen Ländern in der Verfassung verankert, nützt den Menschen aber rein gar nichts. Entscheidend ist auch die Frage, welche Gesundheitsleistungen überhaupt abgesichert sind und in welchem Umfang das der Fall ist. Gerade in Entwicklungsländern haben die BürgerInnen nur Anspruch auf ein kleines Leistungspaket, oft nur Prävention und ambulante Versorgung, oder nur stationäre Behandlungen. Das akzeptiert der WHR 2010 allenfalls als Zwischenzustand auf dem Weg zum klar umrissenen Ziel, möglichst für alle Gesundheitsrisiken Schutz zu gewährleisten. Und es ist eine klare Absage an die von Weltbank und anderen Gebern Vorstellung eines "essential package" für ärmere Menschen, deren Absicherung nur von den verfügbaren oder als verfügbar angenommenen Ressourcen, aber nicht vom realen Bedarf abhängen soll.

Die dritte Dimension ist der effektive finanzielle Schutz, den das jeweilige soziale Sicherungssystem seinen Mitgliedern zugesteht. Der hängt zwar direkt mit dem Umfang des Leistungspakets zusammen, wo Menschen nicht abgesicherte Leistungen voll aus eigener Tasche zahlen müssen. Aber auch bei den eingeschlossenen diagnostischen- und Behandlungsleistungen erfolgt vielfach keine vollständige Kostenübernahme. Alle Formen von Selbstbeteiligungen bzw. Zuzahlungen schränken den Umfang der sozialen Absicherung ein und laufen daher dem Konzept universeller Absicherung zuwider. Überhaupt erkennt die WHO in ihrem Jahresbericht 2010 erstmalig ohne nennenswerte Relativierung die potenziell schädlichen Wirkungen von Direktzahlungen im Gesundheitswesen an: "Direct payments have serious repercussions for health. Making people pay at the point of delivery discourages them from using services (particularly health promotion and prevention), and encourages them to postpone health checks. This means they do not receive treatment early, when the prospects for cure are greatest." Und weiter heißt es: "Direct payments also hurt household finances. Many people who do seek treatment, and have to pay for it at the point of delivery, suffer severe financial difficulties as a consequence".

Alles zusammen genommen ist der Weltgesundheitsbericht 2010 eine klare Absage an gängige Glaubenssätze, die bisher die nationale wie die internationale Gesundheitspolitik bestimmten. Dazu gehört auch die von der aktuellen Bundesregierung unaufhörlich wiederholte Idee, eine Stärkung der Privatwirtschaft könne genügend ökonomische Reserven frei setzen, um im Sinne des ohnehin mittlerweile widerlegten Trickle-Down-Effekts irgendwann auch den Armen zu Gute zu kommen. Insgesamt liefert der WHR 2010 überzeugende konzeptionelle Begründungen und empirische Belege dafür, dass mehr Markt im Gesundheitswesen schwerlich die allseitig suggerierten heilsbringenden Effekte erwarten lässt. Der Bericht enthält viele nachvollziehbar begründete und empirische belegte Empfehlungen sowohl für die nationale Gesundheitspolitik, als auch für die internationale Entwicklungszusammenarbeit, die einige bisherige Ansätze grundsätzlich in Frage stellt und zum Neu-Denken auffordert. Nicht zuletzt in Deutschland, wo die Gesundheitspolitik der letzten Regierungen, also sowohl von Rot-Grün als auch der großen Koalition und Schwarz-Gelb, nur beim Einschluss der Gesamtbevölkerung Fortschritte erzielt haben; die kontinuierlichen Abstriche beim Leistungspaket und zunehmende Zuzahlungen entfernen das deutsche Gesundheitswesen hingegen zunehmend von universeller Absicherung im Krankheitsfall.

Die offizielle Vorstellung des Weltgesundheitsberichts fand in diesem Jahr im Berliner Sitz des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) in Berlin statt. Noch unter der großen Koalition hatte sich Deutschland als nicht-ständiges Mitglied im Exekutivrat der WHO für das Thema soziale Sicherung stark gemacht und die Weltgesundheitsorganisation in ihrem Bemühen unterstützt, dem Thema der sozial gerechten und nachhaltigen Gesundheitsfinanzierung den Raum zu geben, den es entwicklungs- und sozialpolitisch einnehmen sollte.

Die mittlerweile liberal geführten Ministerien BMG und BMZ (Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) organisierten gemeinsam aus Anlass der Vorstellung des Weltgesundheitsberichts am 22. Und 23. November 2010 eine internationale Ministerkonferenz, an der knapp 40 Minister aus ganz unterschiedlichen Kontinenten teilnahmen. Zentrales Thema war die Frage, wie Länder die Gesundheitsversorgung ihrer Bürger organisieren können. In enger Anlehnung an den Weltgesundheitsbericht 2010 lag das Augenmerk der anderthalbtägigen Konferenz auf der Frage, wie universelle Sicherung im Gesundheitswesen im Sinne er WHO-Definition zu erreichen ist.

Die Hauptrede hielt der ehemalige WHO-Mitarbeiter und mexikanische Gesundheitsminister Julio Frenk zum Thema Leadership for Universal Health Coverage. The Technical, Political, and Ethical Pillars of Reform. Darin analysierte er die Wege und die Effektivität wachsender internationaler Ressourcen für Gesundheit und betonte vor allem die große Bedeutung der Berücksichtigung empirisch belegter Ergebnisse und Auswirkungen in Politikentscheidungen im Sinne von "evidence-based policy". Genau darauf hatte er in seiner sechsjährigen Amtszeit gesetzt und mit Hilfe eines großen Teams aus Epidemiologen, Gesundheitswissenschaftlern, Ökonomen und anderen Disziplinen immer wieder überzeugende empirische Belege liefern können, um den Finanzminister davon zu überzeugen, dass mehr Geld heute später Einsparungen bewirken würde. Die Keynote des jetzigen Dekans der Public-Health-Fakultät in Harvard, der wie wenig andere Wissenschaft und Politikentscheidungen zusammenbringt, während der internationalen Ministerkonferenz Ende November 2010 steht hier zum Download zur Verfügung.

Weitere Vorträge und anderes Material zur internationalen Ministerkonferenz us Anlass der Vorstellung des Weltgesundheitsberichts finden Sie auf der Konferenzwebsite.
Den gesamten World Health Report 2010 in englischer Sprache kann man kostenfrei hier herunterladen. Ebenfalls frei verfügbar ist eine deutschssprachige Kurzfassung des Weltgesundheitsberichts 2010.

Jens Holst, 26.11.10