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Wie weit ist die Theorie von "choice and price competition" auf Gesundheitsmärkten von der Wirklichkeit entfernt? Die Schweiz!

Artikel 1394 Wahlmöglichkeiten oder -freiheiten in Märkten, auf denen Krankenversicherungen agieren, sind eine zweiseitige oder gar zweischneidige Angelegenheit: Auf der einen Seite suggeriert die ökonomische Theorie, dass dann, wenn es mehrere konkurrierende Versicherer oder Versicherungsangebote gibt, die Versicherungsprämien niedriger sind und der Markt effizienter funktioniert. Außerdem hätten Konsumenten dann eine bessere Chance Angebote zu finden, die ihren Präferenzen entsprechen, wenn Versicherungen in der Lage sind unterschiedliche Leistungspakete anzubieten. Andererseits drohten Konsumenten dann, wenn die Wahlmöglichkeiten zunehmen von ihnen überwältigt zu werden und nicht mehr in der Lage zu sein, das preisgünstigste und bedarfsgerechteste Angebot zu finden. Insgesamt drohen Fehlentscheidungen bei der Wahl einer Krankenversicherung, die weitreichende negative Folgen für den einzelnen Versicherten und den Anbieter haben.

Wenn sich also Versicherungsanbieter und Versicherungsleistungen im Krankenversicherungsbereich differenzieren, steht nicht unbedingt oder automatisch fest, ob es sich dabei um eine positive oder negative Entwicklung handelt.

Umso wichtiger sind empirische Untersuchungen von realen Versicherungs-Märkten und den dort erkennbaren Entwicklungen. Wenn es solche Analysen überhaupt gibt, sind es zumeist Fallstudien aus einzelnen Ländern oder sogar nur Teilen ihres Krankenversicherungsgeschehens. Auch wenn die damit gewonnenen Erkenntnisse nicht repräsentativ sind, sind diese aussagefähiger oder wirklichkeitsnäher als die platonischen und apodiktischen Aussagen vieler ökonomischer Modelle.

Da auch im deutschen Krankenversicherungsmarkt seit 1993 Wahlfreiheiten bestehen, die durch die seit kurzem bestehenden Möglichkeiten selektiver Verträge und Wahltarife nochmals wesentlich in Richtung eines "Tarifdschungels" - so die eher skeptische Bewertung der Entwicklung - erweitert werden, besteht auch hierzulande ein gesteigertes Interesse, mehr über den Nutzen oder die unerwünschten Effekte von Wahlfreiheiten zu erfahren.

Dies wird durch die Ergebnisse einer Studie befriedigt, welche die US-Ökonomen Richard Frank und Karine Lamiraud unter dem Titel "Choice, Price Competition and Complexity in Markets for Health Insurance" als Working Paper 13817 des US-"National Bureau of Economic Research (NBER)" im Februar 2008 veröffentlicht haben. Sie untersuchen darin die Empirie und den Wert der Wahlmöglichkeiten in Krankenversicherungsmärkten am Beispiel der Schweiz.

Kurz dargestellt sieht der Krankenversicherungsmarkt in der Schweiz zum Zeitpunkt der NBER-Untersuchung so aus. Er ist auf der Ebene von Kantonen organisiert. Versicherer bieten dort ein weitgehend standardisiertes, umfassendes Leistungspaket an, das ambulante, stationäre und Pflegeleistungen umfasst. Jeder Versicherer setzt seinen eigenen Beitragssatz fest, der für alle Individuen derselben Altersgruppe im betreffenden Kanton gleich sein muss und auch für künftige Versicherte gelten muss. Alle BürgerInnen sind versicherungspflichtig und hatten in der Untersuchungszeit die Wahl zwischen rund 30 Versicherungsplänen oder -paketen. Die Versicherten können ihre Versicherung unaufwändig in der jährlichen Wahl- oder Wechselperiode wechseln. Preisinformation sind umfassend und verständlich erhältlich und ein Versicherungswechsel beeinträchtigt normalerweise in keiner Weise den Zugang des Wechslers zu einzelnen Ärzten.

Dies alles vorausgesetzt, wäre für den Schweizer Krankenversicherungsmarkt eigentlich ein aktiver Preiswettbewerb zu erwarten. Das Gegenteil trifft aber zu: Der Markt ist durch große und sich hartnäckig erhaltenden Preisunterschiede zwischen den Angeboten/Anbietern geprägt. Im Jahre 2004 hätte ein Wechsel zwischen dem billigsten und teuersten Krankenversicherer eine Beitragsdifferenz von nahezu 20 % erbracht. In einem Kanton betrug dieser Unterschied sogar 80% des durchschnittlichen Beitrages. Noch unerwarteter: Die Wechselrate war sehr gering, nämlich rund 3 % pro Jahr.

Was erklärt nun diese großen Beitragsunterschiede und die gleichzeitig geringe Wechselrate?

• Eine der möglichen Standarderklärungen der ökonomischen Theorie, hohe Such- und Wechselkosten, spielen nach Meinung der Autoren in der Schweiz keine wesentliche Rolle.
• Eine wesentliche plausiblere Erklärung liegt dagegen mit Erkenntnissen der neueren Forschung zum menschlichen Verhalten in ökonomischen Kontexten vor. Diese Forschung hat nachgewiesen, dass dann, wenn komplexe ökonomische Entscheidungen von weitreichender Bedeutung gefällt werden müssen, ein Zustand der Wissensüberfülle bzw. -überforderung ("cognitive overload") eintreten kann und Ängste vor falschen Entscheidungen auftreten. Beide Faktoren zusammen können zu einer Zurückhaltung vor Entscheidungen führen und damit zur "Wahl" des Status quo. Dieses Entscheidungs- bzw. Nichtentscheidungsverhalten geht u.a. mit einer Unterschätzung der Gewinne und einer Überschätzung der Verluste einher, die mit einem Versicherungswechsel verbunden gesehen werden.

Ob diese Erklärung auch für das tatsächliche Geschehen in der Schweiz zutrifft, untersuchen die Autoren auf der Basis einer Haushaltsbefragung zum Wechselgeschehen in den Jahren 1997-2000 und Informationen der Versicherer über ihre Angebote.
Die Wissenschaftler entdeckten dabei, dass Wechselraten vor allem und ausgerechnet dann konsistent niedriger sind, wenn die Versicherten mehr Wahlmöglichkeiten besitzen. Dies gilt selbst dann, wenn die Versicherten mit ihrem aktuellen Versicherungsunternehmen unzufrieden waren. Diese Ergebnisse unterstreichen nachdrücklich die praktische Relevanz der "decision overload theory". Die daneben ebenfalls bestehende Bedeutung von Preisunterschieden für das Wechselverhalten zeigt sich darin, dass im beschriebenen Rahmen mehr gewechselt wurde, wenn die Preisunterschiede zunahmen.

Die Autoren zeigen, dass Wechsler ihre Beiträge im Vergleich zu den Kassenverbleibern um durchschnittlich 16 % verringerten. Dies heißt aber, dass viele Versicherte durch ihren Nichtwechsel "leave money on the table" - und zwar nicht zu wenig.

Wenn der Preis aber offensichtlich für viele Schweizer BürgerInnen nicht der wichtigste entscheidungssteuernde Faktor ist, stellt sich die Frage was dann schwerer wiegt?

• Die Möglichkeit von Qualitätsunterschieden verwerfen die Autoren unter Hinweis auf die gewollt minimalen Qualitätsunterschieden im schweizerischen Versicherungsmarkt.
• Eine ähnlich geringe Rolle spielt danach die Erwartung, dass ein Versicherungsunternehmen dauerhaft im Markt präsent ist (angesichts der Insolvenz einiger Unternehmen in der Vergangenheit ein denkbarer Faktor).
• Ein weiterer entscheidungssteuernder Faktor könnte der Wunsch sein, sich ähnlich wie eine bekannte Personengruppe zu verhalten. Dafür spricht die Tatsache, dass 40 % der Haushalte sagten, sie träfen ihre Entscheidung auf der Basis der Entscheidungen und Empfehlungen von Angehörigen oder Freunden oder aus Tradition.
• Schließlich könnte auch die Größe des bisherigen Versicherers eine Rolle spielen: Nichtwechsler finden sich eher in großen nationalen Versicherungsunternehmen.

Die US-Ökonomen ziehen aus diesen empirischen Resultaten zwei Schlussfolgerungen. Erstens und etwas allgemeiner: "One implication of these results is that expanding choice to very large numbers is likely to reduce the effectiveness of consumer decision-making which may in turn result in larger markups by health insurers." Zweitens auf den Zuwachs der Wahlmöglichkeiten im US-Versicherungsmarkt bezogen: "At a moment in history when elderly Americans are facing large numbers of choices in private health plans and prescription drug plans our findings may offer some cautions regarding the need for decision support and mechanisms that simplify such health insurance choices."

Obwohl die Autoren also empirisch eine Fülle von strukturell wirkenden Hindernisse für eine Steuerung durch Wahlfreiheiten auf komplexen Versicherungsmärkten liefern, halten auch sie nach dem Motto "die Hoffnung stirbt zuletzt" verwunderlicherweise an der scheinbar uneingeschränkten Machbarkeit oder Funktionsfähigkeit der Wahlfreiheit und des Preiswettbewerbs fest oder glauben, durch technische und organisatorische Detailkorrekturen die offensichtlich hemmenden Bedingungen korrigieren zu können.

Gerade auf der Basis der Erkenntnisse ihrer Fallstudie müssen sich Frank und Lamiraud die Frage gefallen lassen: Wie oft muss sich eigentlich ein ökonomisches Modell empirisch als nicht funktionierend oder gescheitert erweisen bevor es selbst für gescheitert gilt?

Von der Studie "Choice, Price Competition and Complexity in Markets for Health Insurance" gibt es kostenlos nur ein Abstract im "NBER Bulletin on Aging and Health", Heft 2 2008.

Wer die komplette Studie lesen will, der kann sie als PDF-Datei durch die Onlinezahlung von 5 US-$ über das "Social Science Research Network" elektronisch beziehen.

Wer außerdem wissen will, wie das GKV-System der Kassenwahlfreiheit funktioniert bzw. welche massiven Wechselbarrieren es hierzulande gibt, findet einige interessante Erkenntnisse in der bereits im Forum-Gesundheitspolitik vorgestellten Studie von Wissenschaftlern des Zentrums für Sozialpolitik (ZeS) der Universität Bremen und der Universität Duisburg-Essen (Braun, Greß, Rothgang, Wasem).

Bernard Braun, 12.11.08