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Warum ist Schottland der "kranke Mann" Europas, war das immer so und sind Whisky sowie frittierte Schokoriegel die Hauptursachen?

Artikel 2183 Zwischen vergleichbaren Ländern Europas und Nordamerikas gibt es gerade in der jüngeren Vergangenheit erhebliche Gesundheits- und auch Sterblichkeitsunterschiede. Das bekannteste Beispiel ist die insbesondere für russische Männer nach der Auflösung der Sowjetunion und der Gründung Russlands dramatische Verringerung der Lebenserwartung auf durchschnittlich unter 60 Jahre. Allein zwischen 1990 und 1994 sank die Lebenserwartung für russische Männer von 63,8 auf 57,7 Jahre und für russische Frauen von 74,4 auf 71,2 Jahre. Näheres erfährt man in dem kostenlos erhältlichen Aufsatz "Causes of Declining Life Expectancy in Russia" von Francis C. Notzon, Yuri M. Komarov, Sergei P. Ermakov, Christopher T. Sempos, James S. Marks, Elena V. Sempos in JAMA (1998; 279(10): 793-800).

Als eine der wichtigsten Erklärungen für diesen in der Neuzeit wohl größten Verlust an Lebensjahren wurde von vielen Autoren die Einführung einer freien Marktwirtschaft, der Zusammenbruch relativ fester Institutionen und die Erosion sozialer Beziehungen als die entscheidenden sozialen Veränderungen genannt. Der hohe Wodkakonsum als gewichtigstem Gesundheitsverhaltensproblem ist sicherlich gerade auch in Russland zu beachten, erklärt aber die sinkende Lebenserwartung schon deshalb nicht entscheidend, weil er auch in der Sowjetunion relativ hoch war, wenn nicht sogar höher als im nachsowjetischen Russland oder der Ukraine.

Näheres zur Vielfalt von Erklärungen und auch zum langsamen Wiederanstieg der Lebenserwartung ab Mitte der 1990er Jahre findet man u.v.a. in den kostenlosen Abstracts der Aufsätze "Changes in life expectancy in Russia in the mid-1990s" von Vladimir Shkolnikov, Martin McKee und David A Leon in "The Lancet" (2001, Volume 357, Issue 9260: 917 - 921), "Huge variation in Russian mortality rates 1984—94: artefact, alcohol, or what?" von Dr David A Leon, Laurent Chenet, Vladimir M Shkolnikov, Sergei Zakharov, Judith Shapiro, Galina Rakhmanova, Sergei Vassin und Martin McKee in "The Lancet" (1997, Volume 350, Issue 9075: 383 - 388) und "Mass privatisation and the post-communist mortality crisis: a cross-national analysis" von David Stuckler, Lawrence King und Martin McKee in "The Lancet" (2009, Volume 373, Issue 9661:399 - 407).

Eine Gruppe schottischer Gesundheitswissenschaftler hat sich nun die Frage gestellt, warum Schottland auf einem weniger dramatischen Niveau mittlerweile im Vergleich mit Großbritannien und anderen west- und nordeuropäischen Ländern wegen einer deutlich niedrigeren Lebenserwartung als "kranker Mann Europas" gilt. Und auch dabei stellte sich die Frage, ob z.B. der traditionell hohe Whisky-Konsum und sonstige Besonderheiten des gesundheitlich relevanten individuellen Verhaltens in Schottland die entscheidenden Determinanten sind.

Die Wissenschaftler analysierten auf der Suche nach Antworten für den Zeitraum 1855 bis 2006 Daten aus der so genannten "Human Mortality Database" und stellten fest:

• Die Lebenserwartung der schottischen Bevölkerung entsprach fast ein Jahrhundert der in vergleichbar wohlhabenden Ländern Westeuropas.
• Sie begann erst nach 1950 langsamer zu wachsen als in vergleichbaren Ländern. Insbesondere seit 1980 nahm die mit Alkohol, Gewalt, Selbstmord, Arzneimitteln und verschiedenen Erkrankungen assoziierte Sterblichkeit noch einmal erheblich zu. Damit verbunden war die enorme Zunahme immer ungleicher verteilten Erkrankungs- und Sterberisiken. Eine ähnliche Verschlechterung bei der Lebenserwartung begann im Übrigen nach 1981 auch in den USA.
• Die Lebenserwartung in Schottland liegt im Moment zwischen der der westeuropäischen Ländern inklusive England, Wales und Nordirland und der in den osteuropäischen Ländern bzw. den Nachfolgestaaten der Sowjetunion.
• Nach Meinung der Forschergruppe gibt es mindestens 17 Hypothesen über Faktoren welche das besondere Mortalitätsgeschehen in Schottland erklären.
• Nach einer systematischen Überprüfung der Evidenzen dieser Erklärungen konzentrieren sich die Autoren auf eine der Hypothesen, die insbesondere für die besondere Entwicklung seit dem Beginn der 1980er Jahre evidente empirische Belege zu liefern scheint.
• Die entscheidende Annahme dieser Hypothese ist, dass Schottland nach dem Antritt der konservativen Thatcherregierung im Jahre 1979 "suffered disproportionately from a neoliberal 'political attack'".
• Als Indikator für die Existenz und das Wirken neoliberaler Orientierungen und Einflussnahmen benutzen die Autoren den "Index of Economic Freedom". Dieser Index wird aus 23 Faktoren (für den aktuellsten Bericht über das Jahr 2009 42 Indikatoren) gebildet, welche Ökonomen als Indikatoren für ein neoliberales ökonomisches System betrachten. Wer Näheres wissen und sich auch kritisch mit dem Index auseinandersetzen will, kann dies anhand der neuesten Ausgabe "Economic Freedom of the World: 2011 Annual Report"von James Gwartney, Robert Lawson und Joshua Hall machen, die komplett kostenlos von der Website des Fraser Institute heruntergeladen werden kann.
• Insbesondere für die osteuropäischen Länder gab es einen deutlichen inversen Zusammenhang von hohem Index (dieser bewegt sich zwischen 0 für wenig und 10 für viel "freedom" im neoliberalen Verständnis) und Lebenserwartung. Je mehr und verbreiteter neoliberale Bedingungen und Einflüsse vorhanden sind und wirken desto geringer steigt zwischen 1980 und 2006 im Vergleich mit Ländern in denen es weniger neoliberale Einflüsse gibt die Lebenserwartung an oder sinkt sogar. Für Schottland gibt es allerdings nur einen mäßigen ("moderate") statistischen Zusammenhang.

In derselben Ausgabe der Zeitschrift setzt sich der mit internationalen Vergleichen seit Jahrzehnten erfahrene niederländische Gesundheitswissenschaftler Johan Mackenbach kritisch mit dem Erklärungsansatz der schottischen Wissenschaftler auseinander. Trotz einer Reihe bedenkenswerter Argumente kommt aber auch er zu dem folgenden für die weitere Beschäftigung mit der Erklärung ungleicher Risiken zwischen Ländern wichtigen Schluss: "That (seine kritischen Anmerkungen) should, however, not discourage readers to seriously consider the possibility that political decisions, past and present, are playing a role in the explanation of variations in health between Scotland and the rest of the UK, and between countries generally."

Alle Autoren sind sich einig, dass vordergründige Erklärungen wie z.B. mangelhafte Ernährung oder exzessiver Alkoholkonsum nicht und vor allem nicht allein geeignet sind, ungleiche Sterblichkeitsrisiken zu erklären.

Der Aufsatz "Has Scotland always been the 'sick man' of Europe? An observational study from 1855 to 2006" von Gerry McCartney et al. ist im Dezemberheft 2012 des "European Journal of Public Health" (22 (6): 756-760) erschienen und komplett kostenlos erhältlich.

Vom Editorial "From deep-fried Mars bars to neoliberal political attacks: explaining the Scottish mortality disadvantage" Johan P. Mackenbachs (European Journal of Public Health, Vol. 22, No. 6, 751) ist kostenlos nur ein Extrakt erhältlich.

Notwendiger Nachtrag: Warum dem nichtschottischen Betrachter beim Thema Lebenserwartung in Schottland Schokoriegel einfallen könnten und was beides miteinander zu tun haben könnte, gibt Mackenbach preis, wenn er von der angeblich in Schottland verbreiteten Sitte spricht, tiefgefrorene Marsriegel in heißes Öl zu tunken und dann aufzuessen. Selbst wenn man das Verspeisen anfrittierter Schokoriegel nur mit ordentlichen Mengen Whisky bewältigen sollte, wäre auch damit das kürzere Leben der Schotten wahrscheinlich nicht hinreichend erklärbar.

Bernard Braun, 25.11.12