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GVG- und Kasseler Konzept: Zwei weitere Gutachten zur Situation und Perspektive der sozialen Selbstverwaltung aus dem Jahr 2008

Artikel 1458 2008 war von Anzahl und Inhalt her eines der seltenen Jahre, in denen die soziale Selbstverwaltung in den deutschen Sozialversicherungsträgern und besonders in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) besondere wissenschaftliche und politische Aufmerksamkeit erfuhr. Dazu trugen auch die beiden Gutachten bei, auf die hier hingewiesen werden soll.

Vorgestellt wurde hier bereits ein vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) an Bremer, Hallenser und Neubrandenburger WissenschaftlerInnen in Auftrag gegebenes Gutachten zur "Geschichte und Modernisierung der Sozialwahlen", das mittlerweile in einer gestrafften Version als Buch im Nomos-Verlag, Baden-Baden erschienen ist.
Auf dieses Gutachten beziehen sich das durch die Hans Böckler Stiftung geförderte Gutachten des Kasseler Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder und das im Kontext der "Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e.V. (GVG)" - einer seit 1947 bestehenden Organisation, die vorrangig von den gesetzlichen Sozialversicherungen, den Sozialpartnern und einer Reihe von Individualmitgliedern getragen wird - erstellte Memorandum ex- und implizit sowie kontrovers.

Das in einer Arbeitsgruppe unter Leitung des Bremer Ökonomen Winfried Schmähl erarbeitete GVG-Memorandum verzichtete auf eigene Analysen und stellt überwiegend ein politisches Plädoyer für die Selbstverwaltung dar.
Das Schroeder-Gutachten stützt sich auf die empirischen Ergebnisse von vorausgegangenen Projekten und verzichtet ebenfalls weitgehend auf eigene empirische Erhebungen.
Kritisch liegt auch diesen beiden Gutachten die Feststellung zugrunde: "Den Status quo der sozialen Selbstverwaltung zu verteidigen erscheint angesichts der vielfältigen Veränderungen und Kritiken keine tragfähige Strategie" (Schroeder).

Trotz der Kritik an der aktuellen Funktionsfähigkeit, heben beide Gutachter die prinzipielle Bedeutung und Notwendigkeit der Selbstverwaltung und deren potenzielle Leistungsfähigkeit auch im 21. Jahrhundert hervor:
"In der Selbstverwaltung leisten die gesellschaftlichen Akteure durch ihr persönliches sozialpolitisches Engagement selbst einen Beitrag zur sozialen Sicherheit und sozialen Teilhabe. Das Engagement der Selbstverwaltung ist damit im Grundsatz Teil der selbstverantwortlichen, demokratischen Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger an der Verwaltung des sozialen Rechtsstaats und Kernbestandteil des bundesdeutschen Sozialstaatsmodells" (GVG:15). Und weiter: "Dieser Delegation von Aufgaben liegt die berechtigte Einschätzung zugrunde, dass die Selbstverwaltung sachgerechtere Entscheidungen treffen kann, weil sie näher an den konkreten Sachfragen und Bedürfnissen der Menschen ist. Zugleich hat dieses Selbstverwaltungsmodell somit in erheblichem Maße eine staatsentlastende Funktion" (GVG 2007: 16). Und schließlich: Die Selbstverwaltung ist "Ausdruck bürgerschaftlichen Engagements", das es "zielorientiert auszuschöpfen und zu stärken (gilt)" (GVG: 41).

Auch das Kasseler Gutachten betont die Wichtigkeit der verschiedenen Funktionen der sozialen Selbstverwaltung: Einerseits ist "die in der Selbstverwaltung praktizierte Partizipation der Beitragszahler ... eine Form gelebter Demokratie". Andererseits ermöglicht die ausgesprochene Nähe der sozialen Selbstverwaltung zu den Versicherten einen bedarfsbezogenen Anschluss an die Lebenswelt der Betroffenen, wodurch eine effektive und sachgerechte Gesundheitsversorgung gesichert werden soll (Schroeder).
Die Einigkeit aller ExpertInnen hört aber schnell bei den konkreten Reformvorschlägen auf, die insbesondere von den BMAS-Gutachtern pointiert radikal vorgetragen wurden. Dies gilt insbesondere für die Vorstellungen die soziale Basis der Selbstverwaltung in Richtung einer Orientierung auf Betroffene statt Beitragszahler sowie auf die Arbeits- und Lebenswelt zu erweitern und die Forderung nach einer verpflichtenden kompetitiven Wahl der Mitglieder von Selbstverwaltungsorganen.

Der Vorschlag, den Kreis der potenziellen SV-Akteure vor allem in der GKV in Richtung Betroffenenvertreter zu erweitern, wird sowohl im Kasseler Konzept als auch in der Studie der GVG abgelehnt. Schroeder sieht dadurch "den Charakter der sozialen Selbstverwaltung grundlegend" (58) verändert und fügt gegen eine Repräsentation von Patienteninteressen argumentierend an: "Zudem ist zu bedenken, dass jede einzelne Interessengruppe der Patienten an einer optimalen Nutzenorientierung für ihre Gruppe orientiert ist. Sollten diese Gruppen einen stärkeren Einfluss innerhalb der Kassen gewinnen, würde es zukünftig noch weitaus schwieriger werden, die Interessen der verschiedenen Gruppen auszubalancieren" (58).
Obwohl auch die GVG-Studie und das Kasseler Konzept die Praxis der "Friedens"wahlen in Teilen als problematisch bewerten, versuchen sie letztlich, diese zu rechtfertigen und vor Veränderung zu bewahren.
Trotz des Ziels "Selbstverwaltung als Ausdruck bürgerschaftlichen Engagements … auszuschöpfen und zu stärken" (GVG: 41) ringt sich die GVG nur dazu durch, dass "Urwahlen da umgesetzt werden (sollen), wo immer sie möglich und sinnvoll sind" (GVG: 47). Es gibt leider keinen expliziten Hinweis, was eine "sinnvolle" Nichtwahl ist und wer dies feststellt.

Das Kasseler Konzept stellt seinen Reform-Vorschlag für die Sozialwahlen in einen Spannungsbogen zwischen einem "emphatischen Demokratieverständnis" (Schroeder: 80) und einer "realistischen Demokratietheorie" (ebd. 45). So müsse man beispielsweise "diskutieren, ob nicht manche der Ansprüche hinsichtlich Beteiligung und Transparenz die Leistungsfähigkeit moderner, demokratischer Staaten überfordern" (45). "Urwahlen könnten die Sozialpartner jedoch personell und materiell überfordern. … und … Mehrheitsverhältnisse (könnten) unübersichtlicher, die Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse schwieriger werden" (81).

In drei im Mittelpunkt seines Gutachtens stehenden Szenarien zur Zukunft der sozialen Selbstverwaltung baut Schroeder diese Position systematisch aus:

• Sein erstes Szenario befasst sich mit dem Bruch mit der bekannten Form der Selbstverwaltung in Richtung Verstaatlichung oder Privatisierung dessen was Selbstverwaltung ausmacht, das Schroeder wie alle aktuellen Gutachter eindeutig verwirft.
• Sein zweites Szenario beschäftigt sich mit der "einseitigen Stärkung der demokratischen Beteiligung und Legitimation", also der Forderung nach einer verpflichtenden Sozialwahl, die eine, aber keineswegs die einzige oder einseitige Forderung der BMAS-Gutachter ist.
• Seine eigene Position enthält das Szenario III, das er mit Revitalisierung der bestehenden Selbstverwaltungspolitik überschreibt. In einem 4-Punkte-Programm finden sich dann die folgenden "Vorschläge zur Revitalisierung der sozialen Selbstverwaltung aus Gewerkschaftsperspektive": Kompetenz- und Professionalisierungsoffensive, Stärkung der Öffentlichkeitsarbeit und Versichertennähe, verstärkte informelle Integration von Betroffeneninteressen und Revitalisierung der Sozialwahl.

Die hier in selbstverpflichtendem Gestus als Alternative zu den BMAS-Gutachtensvorschlägen vorgestellten Vorschläge sind lesenswert und ihnen ist in vielerlei Hinsicht zuzustimmen. Das letztlich umschiffte Problem der meisten dieser Vorschläge und ihres Verbindlichkeitsgrads ist, dass sie bereits seit Jahren propagiert werden und ihre fortgesetzte Nichtumsetzung auch zum kritikwürdigen Status quo der Selbstverwaltung gehört.
Für die Diskussion der Gründe und Ursachen liefern aber auch die Kasseler- und GVG-Studien eine Fülle systematischer und empirischer Hinweise und Anhaltspunkte. Auch wenn es Anzeichen gibt, dass sich an den politischen Rahmenbedingungen der Sozialwahlen (die nächste Wahl findet im Jahr 2011 statt) und den Selbstverständnissen der wichtigsten aktuellen Akteure der Selbstverwaltung in keine der vorgestellten Richtungen etwas ändern wird, kann dies zumindest nicht mehr mit einem Mangel an Kenntnissen und Erkenntnissen gerechtfertigt werden.

Das 105 Seiten umfassende Gutachten "Zur Reform der sozialen Selbstverwaltung in der Gesetzlichen Krankenversicherung - Kasseler Konzept" von Wolfgang Schroeder ist kostenlos als PDF-Datei aber auch für 12 € als Buch erhältlich.
Eine pointierte vierseitige Zusammenfassung der Positionen dieses Gutachtens ist unter dem Titel Soziale Selbstverwaltung und Sozialwahlen. Traditionsreiche Institutionen auch von morgen? von Wolfgang Schroeder und Benjamin Erik Burau in der Reihe "Analysen und Konzepte zur Sozial- und Wirtschaftspolitik der Friedrich Ebert Stiftung direkt" im November 2008 erschienen und kostenlos erhältlich.

Die 110 Seiten des von der GVG bereits 2007 herausgegebenen Memorandums "Zur Bedeutung der Selbstverwaltung in der deutschen Sozialen Sicherung. Formen, Aufgaben, Entwicklungsperspektiven" ist komplett nur als kostenpflichtiges Buch (nanos Verlag, Bonn) erhältlich. Lediglich eine Leseprobe von 11 Seiten steht kostenlos zur Verfügung.

Bernard Braun, 6.1.09