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Wie groß ist die Verschwendung in der Gesundheitsversorgung? Und wie viel davon könnte vermieden werden? - Das Beispiel USA

Artikel 2679 In jedem sozialen System gibt es Verschwendung von knappen Ressourcen, und ein Teil davon wird auch nicht vermeidbar sein. Dies gilt in einem System wie der Gesundheitsversorgung mit der Dominanz personaler Dienstleistungen in besonderem Maße. Trotzdem ist das bestmögliche Wissen über die Arten und den Umfang von Verschwendung jenseits der Meinung "da würde schon mal ein Tupfer zu viel verwendet" wichtig.

Was dabei herauskommt zeigt eine im Oktober 2019 veröffentlichte Studie über die Verschwendung in 6 potenziellen Schwerpunkten von Verschwendung im Gesundheitswesen der USA. Sie basiert auf 54 peer-reviewten Publikationen, Regierungs-Reports und Beiträgen aus der grauen Literatur.

Die Schwerpunkte mit den jeweiligen jährlichen Kosten der Verschwendung sind die Folgenden:

• Fehler bei der Erbringung von Behandlungsleistungen (z.B. nosokomiale Infektionen =102,4 bis 165,7 Milliarden US-Dollar,
• Fehler bei der Koordination von Versorgungsleistungen (z.B. Rehospitalisierungen) =27,2 bis 78,2 Mrd. US-Dollar,
• Überversorgung oder Behandlungen mit geringem Wert =75,7 bis 101,2 Mrd. US-Dollar,
• Fehlerhafte Preise bzw. Abrechnungen (z.B. für Laborleistungen) =230,7 bis 240,5 Mrd. US-Dollar,
• Betrug und Missbrauch =58,5 bis 83,9 Mrd. US-Dollar und
• Verwaltungskomplexität (z.B. Dokumentationsfehler) =265,6 Mrd. US-Dollar.

Die Gesamtsumme der Ausgaben für Verschwendung und wertlose Güter und Leistungen bewegte sich zwischen 760 und 935 Mrd. US-Dollar. Nimmt man die für 2019 geschätzten US-Gesundheitsausgaben von 3,82 Billionen US-Dollar, werden rund 25% für die sechs Arten der Verschwendung ausgegeben. Das einzig Positive ist, dass Anfang des Jahrzehnts der Anteil für Verschwendung noch zwischen 32% und 34% pendelte.
Auf der Basis der untersuchten Publikationen schätzten die AutorInnen auch, wie stark in fünf der sechs Bereiche (es fehlten Studien über die vermeidbare Verschwendung in der komplexen Verwaltung) Verschwendung vermieden werden könnte. Der Einsparbetrag bewegte sich zwischen 191 und 282 Mrd. US-Dollar, was einem Viertel der Gesamtkosten der Verschwendung entspricht.

Von dem Aufsatz Waste in the US Health Care SystemEstimated Costs and Potential for Savings von William H. Shrank, Teresa L. Rogstad, Natasha Parekh, veröffentlicht in der Medizinfachzeitschrift "JAMA" (2019;322(15):1501-1509), ist das Abstract kostenlos erhältlich.

Wer noch etwas über die Verschwendung in allen OECD-Mitgliedsländern wissen will, kann dies in dem online kostenlos lesbaren 306 Seiten umfassenden 2017 veröffentlichten OECD-Report Tackling Wasteful Spending on Health tun.

Eine Kurzfassung des Reports ist kostenlos herunterladbar.

Und wer nicht nur noch mehr nationale und internationale Daten zur Verschwendung durch Überversorgung erfahren, sondern auch praktizierte oder sehr gut begründete Lösungen kennenlernen möchte, kann dies in den Präsentationen auf der von der Bertelsmann Stiftung am 4.11. 2019 veranstalteten Konferenz: Braucht Deutschland mehr Choosing Wisely? tun. Dort gibt es kostenlos herunterladbare Präsentationen von John Bonning (Neuseeland), Huib Cense/Dr. Simone van Dulmen (Niederlande), Ulrich R. Fölsch (DGIM), Frederico Guanais (OECD), David Klemperer (Berlin), Cathleen Muche-Borowski (DEGAM), Hans-Dieter Nolting (IGES Institut) und Monika Nothacker (AWMF).

Bernard Braun, 26.11.19


Verantwortungsvolle Gesundheitsfinanzierung: Verfahren und Gestaltung gleichermaßen wichtig

Artikel 2570 Die Forderung nach good governance bestimmt seit vielen Jahren die entwicklungspolitische Landschaft: Gute Regierungspolitik, besser die verantwortungsvolle Führung der Staatsgeschäfte, bezieht sich auf alle Lenkungsaktivitäten der öffentlichen Hand und setzt einen leistungsfähigen und zuverlässigen Staat voraus. Vielerorts verhindern aber fehlende Rechtsstaatlichkeit, Verletzung der Menschenrechte und weit verbreitete Korruption jegliches Vertrauen in den Staat und die wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung der Länder. Fehlende politische Verantwortlichkeit konterkariert auch die globalen Bemühungen um universellen Zugang zu Gesundheit und sozialer Sicherung. Verantwortungsvolle Organisation und Abwicklung der Gesundheitsfinanzierung schließt auch die Durchsetzung rechtsbasierter Versorgungsansprüche ein und ist unerlässlich für die Stärkung der Gesundheitssysteme und die Ausweitung der sozialen Absicherung im Krankheitsfall.

Dass sich good financial governance in der Gesundheitsfinanzierung nicht auf das Funktionieren des Finanzierungssystems beschränken darf, sondern in entscheidendem Maße auch von den Finanzquellen, der Lastenverteilung bzw. dem Umverteilungspotenzial abhängt, zeigt ein soeben erschienenes Arbeitspapier des Fachbereichs Pflege und Gesundheit der Hochschule Fulda. Unter dem Titel Good Governance and Redistribution in Health Financing: Pro-poor effects and general challenges analysiert der Autor Jens Holst zunächst ausführlich die Verteilungswirkungen der verschiedenen Gesundheitsfinanzierungsformen im Hinblick auf wesentliche Kriterien wie Universalität, Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit.

Das Arbeitspapier aus der Fuldaer Serie pg papers zeigt verschiedene Zusammenhänge auf:

Im Gesundheitswesen umfasst Governance alle regulierenden und steuernden Maßnahmen von Regierungen oder anderen öffentlichen Entscheidungsträgern und schließt den transparenten, korrekten Umgang des Staats mit seinen Einnahmen sowie die nachvollziehbare Verwendung der Mittel zum Wohle der Bevölkerung ein. Daher verfolgt zum Beispiel die deutsche Entwicklungspolitik auch die Förderung von Good Financial Governance, also den Aufbau eines funktionierenden Systems öffentlicher Finanzen. Verantwortungsvoller Umgang mit Finanzmitteln ist nicht zuletzt auch bei der Gesundheitsfinanzierung unerlässlich. Neben Ansätzen, Strategien und Programmen zur Einrichtung, Verwaltung und Kontrolle von Finanzströmen nach gesetzlichen Vorgaben oder ergebnisorientierten Indikatoren muss Governance in der Gesundheitsfinanzierung unweigerlich die Frage einschließen, inwieweit die Ressourcengenerierung, -mischung und -allokation in sozial gerechter, fairer und nachhaltiger Weise organisiert sind.

Individuelle und kollektive finanzielle Nachhaltigkeit, Lastenaufteilung und soziale Kohärenz oder Solidarität sind wesentliche Bestandteile von Governance in der Gesundheitsfinanzierung und hängen stark von gesellschaftlichen Prioritäten und Werten ab. Soziale Gerechtigkeit bei der Finanzierung, transparente Risikomischung und Rechenschaftspflicht beim Einkauf von Gesundheitsleistungen sind intrinsische Elemente von Governance in der Gesundheitsfinanzierung und entscheidend für die Erreichung des Ziels einer universellen Absicherung im Krankheitsfall. Dabei liegt die Verantwortung für ein transparentes, rechenschaftspflichtiges und verlässliches Gesundheitsfinanzierungssystem bei den Regierungen, die Transparenz und gute finanzielle Steuerung gewährleisten müssen.


Im Hinblick auf nachhaltige, sozial gerechte und somit verantwortungsvolle Gesundheitsfinanzierung zeigt das Papier einige grundlegende Lehren auf:

• Universelle Absicherung im Krankheitsfall ist allein durch öffentliche Gesundheitsfinanzierung, also über Steuern oder Sozialversicherungen für (nahezu) die gesamte Bevölkerung eines Landes möglich;
• Steuerfinanzierung bietet zwar erhebliche Vorteile gegenüber sozialen Krankenversicherungssystemen im Hinblick auf die universelle Bevölkerungsabsicherung, ihre Verteilungswirkungen und die Fairness der Steuerfinanzierung hängen aber vom jeweiligen Steuersystem ab, nämlich der Effektivität der Steuererhebung, der Ausgestaltung des Besteuerungssystems und nicht zuletzt der Verteilung der Einnahmen aus direkten und indirekten Steuern;
• Soziale Krankenversicherungssysteme können relevante Umverteilungseffekte entfalten, aber nur, wenn sie die gesamte Bevölkerung einschließen und kein Ausscheren in private Alternativsysteme erlauben;
• Globale öffentlich-private Partnerschaften und vertikale Gesundheitsprogramme haben bisher keinen erkennbaren Beitrag zur Gesundheitssystemstärkung und -finanzierung geleistet;
• Innovative Geldquellen wie Finanztransaktionssteuern sind für die Aufstockung der Mittel zum Aufbau wirksamer Krankenversorgungssysteme unerlässlich.

Good financial governance im Gesundheitswesen hängt immer von der Fähigkeit des Systems ab, Ressourcen für den Aufbau und die finanzielle Ausstattung sozialer Sicherungs- und Umverteilungssysteme zu mobilisieren und bereitzustellen und dabei die finanzielle Belastung durch medizinische Versorgungsleistungen sozial gerecht zu verteilen. Insgesamt erweist sich die Finanzierung über öffentliche Mittel, also durch Steuermittel und/oder Sozialversicherungsbeiträge, als nachhaltiger und sozial gerechter als über private Quellen, nämlich private Krankenversicherungen oder Selbstzahlung. Allerdings hängen die gesamtgesellschaftlichen Verteilungswirkungen unmittelbar von der Gestaltung des Steuersystems und Effektivität der Steuererhebung bzw. von der bevölkerungsbezogenen Breite und der Organisation bestehender sozialer Krankenversicherungen ab.

Das Arbeitspapier zum Thema Gesundheitsfinanzierung good governance steht kostenlos zum Download zur Verfügung: pg paper 2/2017.

Bernard Braun, 25.5.17


Trotz Boom: Fast 40% atypisch Beschäftigte. Negative Folgen für die Finanzierung der Sozialversicherungsleistungen!

Artikel 2565 Schon seit vielen Jahren spielt der Anteil so genannter atypischer Beschäftigung an der Gesamtbeschäftigung für die bruttolohnbasierte Beitragsfinanzierung aller Sozialversicherungsträger eine belastende Rolle. Relevant ist dabei sowohl die absolute Anzahl dieser oft teilzeitbeschäftigten Personen als auch die teilweise geringe Höhe ihrer Einkommen.

Die neueste Auswertung der WSI-Datenbank "Atypische Beschäftigung" sieht so aus:

• 2016 waren rund 39,6 Prozent aller abhängigen Hauptbeschäftigungsverhältnisse (ohne Beamte und Selbständige) solche mit atypischen Bedingungen. 2015 lag die Quote bei 39,3 Prozent.
• Die Zahl der oft besonders schlecht bezahlten und abgesicherten Minijobber im Haupterwerb hat zwar im selben Zeitraum um etwa 46.000 Beschäftigte abgenommen - lag aber immer noch bei 5,14 Millionen.
• Etwa 23 Prozent aller abhängig Beschäftigten arbeiteten in Teilzeitjobs - zum Teil unfreiwillig. Diese Gruppe machte den größten Anteil der atypischen Beschäftigung aus.
• Mit einem Anteil von gut 28 Prozent sind bei den Teilzeitbeschäftigten Stundenlöhne unter der Niedriglohngrenze von 9,75 Euro brutto weit verbreitet. Bei den Vollzeitbeschäftigten beträgt diese Quote nach Auswertungen des Sozio-ökonomischen Panel (SOEP) für 2015nur etwa 11 Prozent.
• Ähnlich schlecht entlohnt werden die Leiharbeiter deren Anteil an den abhängig Beschäftigten im Jahr 2016 bei 2,6 Prozent lag. 46% von ihnen waren von niedrigen Löhnen betroffen.

Obwohl immer wieder von einer arbeitsmarktpolitisch äußerst günstigen Situation in Deutschland gesprochen wird, sinkt nicht nur der Anteil atpisch Beschäftigter nicht, sondern steigt noch leicht an. Und damit ändert sich nichts daran, dass ein erheblicher Teil von ihnen wegen ihrer niedrigen Bruttoeinkommen auch nur relativ geringe Beiträge in die gesetzlichen Sozialversicherungen (z.B. Kranken- oder Pflegeversicherung)einzahlen kann.

Die WSI-Datenbank "Atypische Beschäftigung" ist für weitere Recherchen kostenlos zugänglich.

Bernard Braun, 19.5.17


Deutschland: Platz 15 im EU-Vergleich der Lohnnebenkosten oder wie wenig gefährden sie den Wirtschaftsstandort

Artikel 2464 Zu den jahrzehntelangen Lieblingsargumenten von Arbeitgeberverbänden, ihnen nahestehenden politischen Akteuren und unterschiedlichen Regierungen gehört die Gefährdung des Wirtschaftsstandortes durch die zu hohen Lohnnebenkosten und Arbeitgeberbeiträgen zur Sozialversicherung. Es blieb auch nicht bei Argumenten, sondern führte zuletzt zum Einfrieren des Arbeitgeberbeitrags zur gesetzlichen Krankenversicherung und damit zur ausschließlichen Beitragsbelastung der GKV-Mitglieder im Falle künftiger Ausgabensteigerungen. Wer für die Vergangenheit mehr über diese ideologische Kampagne wissen will, wird mit dem Suchwort Lohnnebenkosten im forum-gesundheitspolitik.de vielfach fündig.

Der jüngste EU-Vergleich der Lohnnebenkosten der Privatwirtschaft im Verhältnis zu den Bruttoverdiensten im Jahr 2014 zeigt, was von dem Gefährdungsargument im Moment zu halten ist.
Sämtliche Lohnnebenkosten kosteten Arbeitgeber nämlich in der EU-28 zusätzlich zu 100 Euro Bruttoverdienst 31 Euro und in der EU-18 35 Euro. Spitzenreiter waren Frankreich mit 47 Euro, Schweden mit 46 Euro, Belgien mit 44 Euro und erst an fünfzehnter Stelle Deutschland mit 28 Euro. Schlusslichter waren Dänemark mit 15 Euro und Malta mit 9 Euro. Wichtige Handelspartner, mithin Wettbewerber, hatten also mehr Lohnnebenkosten als Deutschland, deren Arbeitgeber sogar im EU-Bereich unterdurchschnittlich belastet wurde.
Berücksichtigt man nun noch, dass Lohnnebenkosten auch und vor allem Ausgaben für Urlaub, Weiterbildung, Arbeitsschutz und nur zum kleineren Anteil Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung sind, erkennt man die Hohlheit der Lohnnebenkostendebatte als Arbeitgeberbeitrags-Kürzdebatte noch klarer. Deren Ziel ist nicht die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, sondern die Erhöhung des Gewinns.

Die Tabelle mit dem EU-Vergleich der Lohnnebenkosten findet sich seit Mitte April 2015 auf der Website des Statistischen Bundesamtes.

Und selbst wenn dagegen u.a. im wirtschaftsnahen Handelsblatt eingewandt wird, bei den Arbeitskosten sähe es belastender aus, stimmt dies nicht in der beabsichtigten Dramatik. In dem am 4. Mai 2015 vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Arbeitskostenvergleich, d.h. der Bruttoverdienste und Lohnnebenkosten 2014 lag Deutschland mit 31.80 Euro im Bereich der Privatwirtschaft auf Platz 8 und beim verarbeitenden Gewerbe auf Platz 4. Richtig ist aber, dass dieser Betrag über dem EU-Durchschnitt liegt und nach über einem Jahrzehnt Stagnation seit 2011 stärker steigt als in anderen Ländern. Die Übersicht Arbeitskosten in der EU gibt es kostenlos .

Bernard Braun, 5.5.15


Was bedeutet die Forderung nach besseren Einkommen für Pflegekräfte und wie hoch ist es eigentlich?

Artikel 2437 Immer wenn es um die Frage geht, wie man mehr Nachwuchs für pflegerische Berufe im Gesundheitswesen gewinnen kann, spielt neben einer Verbesserung verschiedener materieller (z.B. Hebehilfen, Arbeitszeitpläne) und immaterieller (z.B. Autonomie, Wertschätzung) Arbeitsbedingungen auch die Erhöhung der Einkommen eine gewichtige Rolle. Wie hoch die derzeitigen Einkommen sind und wie sie sich in den letzten Jahren vor dem Hintergrund der Diskussion über mehr Nachwuchs für diese Berufe entwickelt haben, ist dabei häufig unbekannt oder unklar. Von welchem realen Niveau muss eine Einkommenserhöhung also starten und wie realistisch ist die Forderung nach ihr?

Darauf gibt eine kleine Analyse im Jahresbericht 2014 der Arbeitnehmerkammer Bremen ernüchternde Antworten:

• Während die tariflichen Einstiegsvergütungen der MetallfacharbeiterInnen zwischen 1995 und 2010 von nominell 23.006 Euro auf 38.544 Euro und damit um 67,5% gestiegen sind, stieg die Einstiegsvergütung der Krankenschwestern/-pfleger absolut von 21.912 Euro auf 26.612 Euro und damit lediglich um 21,4%. Bei AltenpflegerInnen betrug der Anstieg 20% und bei ErzieherInnen 37,7%.
• Im Vergleich mit MetallfacharbeiterInnen, Versicherungskaufmännern/-frauen, ErzieheriNnnen oder Bankkaufmännern/-frauen verdienten Krankenschwestern/-pfleger 2010 um bis zu einem Drittel weniger.
• Krankenschwestern/-pfleger und Altenpfleger stehen aber auch bei der Aufstiegsentlohnung schlechter da als die Angehörigen anderer Berufsgruppen. Während MetallfacharbeiterInnen und Versicherungskaufleute 2010 tarifliche Endlöhne von 53.000 oder 55.000 Euro erreichen konnten, lag die Spitzenentlohnung bei AltenpflegerInnen mit der Verantwortung für mindestens 10 Pflegepersonen bei 39.677 Euro und die von Krankenschwestern/-pfleger bei 50.912 Euro. Dieser Betrag ist aber erst auf der relativ seltenen Position einer Pflegedienstleiterin erreichbar.

Sieht man also vom möglichen Konkurrenzberuf AltenpflegerIn ab, müsste das Einkommen für Pflegefachkräfte enorm und gegen einen langjährigen Trend steigen, um bei Berufswahlentscheidungen konkurrenzfähig gegenüber zahlreichen anderen Berufen zu werden.
Die Autorin der Analyse ist sich dessen bewusst, wenn sie zwei Bedingungen nennt, die für eine Trendumkehr dieses Gewichts ihres Erachtens nötig sind: Eine "zunehmende Organisationsbereitschaft der Beschäftigten und eine Anpassung der Interessenpoilitik der Arbeitnehmervertreter an die spezifischen Beschäftigungsstrukturen im Gesundheitswesen."

Dass und welche soziale Bedingungen der Arbeit von Pflegekräften für diese Veränderungen gerade nicht förderlich sind, zeigt ein weiterer Beitrag in diesem Bericht. So waren bundesweit zum Stichtag 30. Juni 2013 58,7% der im Berufsbereich Gesundheit, Krankenpflege, Rettungsdienst, Geburtshilfe beschäftigten HelferInnen in Teilzeit beschäftigt. Bei den Fachkräften oder Spezialisten in diesem Berufsbereich waren es 40,7% - ob 30, 20 oder 15 Stunden.

Der im März 2014 veröffentlichte Bericht zur Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Land Bremen 2014 ist komplett kostenlos erhältlich. Zitiert wurden im auch sonst interessanten Bericht die Beiträge von Irene Dingeldey und Carola Bury.

Bernard Braun, 16.12.14


Mehr Gesundheitsausgaben, mehr Lebenszeit und Gesundheit oder auch weniger!? Interessantes aus OECD-/US-Bundesstaaten-Vergleichen

Artikel 2424 Wer glaubt, viele Gesundheitsausgaben bewirkten bessere Gesundheit oder verlängerten die Lebenserwartung oder wer nicht glaubt, höhere Gesundheitsausgaben könnten mit geringerer Lebenserwartung assoziiert sein, bekommt in einem anderthalbseitigen, am 16. Oktober 2014 online in der Zeitschrift "JAMA" veröffentlichten Text etwas Stoff zum Nachdenken.

Die Denkanstöße finden sich in einem einzigen Diagramm, das für 24 Mitgliedsländer der OECD sowie US-Bundesstaaten mit geringem oder hohem Einkommen die durchschnittliche Lebenserwartung sowie den prozentualen Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 2009 darstellt.

Zu den wichtigsten Erkenntnissen zählt:

• In entwickelten Ländern gibt es keine statistisch signifikante positive Assoziation zwischen Gesundheitsausgaben und Lebenserwartung.
• Dies gilt auch für die 25 reicheren US-Bundesstaaten. Bei den 25 ärmeren US-Bundesstaaten gibt es eine statistisch signifikante Korrelation, aber eine diametral andere als möglicherweise erwartet: höhere Gesundheitsausgaben sind nämlich dort mit einer geringeren Lebenserwartung assoziiert. Offensichtlich ein Effekt der dort stärkeren Morbidität.
• Für die inneren Verhältnisse der USA gibt es einige weitere interessante Details: So gibt selbst der US-Bundesstaat mit den geringsten Gesundheitsausgaben mit 12,6% vom BIP mehr aus als die Niederlande als das OECD-Land mit dem höchsten BIP-Anteil für Gesundheit (11,9%).

Für die hier angestellten und andere Gesundheitssystemvergleiche empfiehlt der Autor abschließend, in jedem Fall noch andere Einfluss- und Outcomefaktoren einzubeziehen als Lebenserwartung und Gesundheitsausgaben. Er denkt dabei an die meist komplexere aber auch schwieriger zu ermittelnde Lebensqualität, die angemessene Balance zwischen persönlicher und gesellschaftlicher Verantwortung, Freiheitsspielräume oder soziale Gerechtigkeit.

Der in der Rubrik "Viewpoint" erschienene Text Critiquing US Health Care von Victor Fuchs ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 6.11.14


Senkung der Lohnnebenkosten alternativlos im öffentlichen Interesse? Wie das BVerfG einem Arbeitgebermythos auf den Leim geht!

Artikel 2381 Wer das Mehrfache einer durchschnittlichen Altersrente bezieht, hält "ein paar Euro weniger" für tragbar und nur wer sich den seit Jahrzehnten von Arbeitgebern und ihren gut bezahlten Kopflangern und Mietmäulern zur Systemfrage aufgepumpten Mythos, die "Lohnnebenkosten" gefährdeten die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf dem Weltmarkt ungeprüft zu eigen macht, erteilt ihrer Senkung eine Art System- oder Verfassungssegen.

Beides findet sich in der Begründung mit der das Bundesverfassungsgericht am 3. Juni 2014 "unanfechtbar" eine Verfassungsklage von fünf Rentnern gegen vorinstanzliche Sozialgerichtsurteile und Bescheide der Bundesversicherungsanstalt beziehungsweise der Rentenversicherung zurückweist. Die Rentner hatten verschiedene gesetzliche Kürzungen bzw. Verschlechterungen ihrer Rente für unzulässig und letztlich verfassungswidrig gehalten. 2005 fiel wegen der geringen Lohnentwicklung die Rentenerhöhung aus, begann der langfristig das Rentenniveau absenkende so genannte Nachhaltigkeitsfaktor zu wirken und gleichzeitig verringerte sich die Rentenhöhe wegen der Einführung eines nur von GKV-Mitgliedern und nicht von ihren Arbeitgebern oder der Rentenversicherung zu zahlenden Zusatzbeitrags von 0,9% für die gesetzliche Krankenversicherung. Die Kläger sahen sich dadurch in ihrem Eigentumsgrundrecht nach Artikel 14 des Grundgesetzes verletzt.

Die Begründung dieses Urteils ist lesenswert:

• "Darüber hinaus stellten die im Revisionsverfahren überprüften "Verschlechterungen" im Beitragsrecht der Krankenversicherung der Rentner und Pflegeversicherung der Rentner gemessen an Art. 14 GG auch im Kontext anderer Beitragserhöhungen der letzten Jahre, der "Einschnitte" im Leistungsrecht der gesetzlichen Rentenversicherung wie dem Unterbleiben von Rentenanpassungen in den Jahren 2004 und 2005 sowie der ab 2005 schrittweise beginnenden Besteuerung von Renten keine Überforderung des Beschwerdeführers dar, da sie nicht derart niveauabsenkend seien, dass die Rente dadurch ihre prinzipielle Struktur und ihre Funktion als freiheits- und existenzsichernde Leistung verliere."
Kein Gedanke, dass es doch gerade die von den Verfassungsrichtern zutreffend angedeutete Kaskade von materiellen Belastungen ist, die so viel Nachteile für die Bevölkerung brachte, dass die aktuellen Beiträge das "Fass" zum Überlaufen brachten.
• "Die mit dem GKV-Modernisierungsgesetz und dem Gesetz zur Anpassung der Finanzierung von Zahnersatz vom 15. Dezember 2004 … angestrebte Senkung des Beitragssatzniveaus und damit auch der Lohnnebenkosten ist ein Regelungsziel, das im öffentlichen Interesse liegt, denn mit der finanziellen Entlastung der Arbeitgeber und auch der Rentenversicherung sollte die Reform der gesetzlichen Krankenversicherung dazu beitragen, Beschäftigung zu fördern, was wiederum zu mehr Einnahmen und damit zu einer Stabilisierung der Finanzgrundlagen der Sozialversicherung insgesamt führen sollte (vgl. BTDrucks 15/1525, S. 72)."
Hier plappert das Bundesverfassungsgericht ungeprüft nach, dass die "Lohnnebenkosten" so hoch seien, dass sie Arbeitsplätze gefährdeten oder Investitionen in neue Arbeitsplätze verhinderten. Zahlreiche Analysen in den letzten 20 Jahren (siehe dazu u.a. die unter dem Suchbegriff zu findenden Beiträge in diesem Forum) haben aber nachgewiesen, dass der durch Sozialversicherungsbeträge bestimmte Anteil der Lohnnebenkosten allein wegen seiner geringen Höhe eine für die Wettbewerbsfähigkeit lediglich marginale Kostengröße an den im Wettbewerb einzig relevanten Gesamtkosten eines Produkts oder einer Dienstleistung darstellt - und selbst das nur, wenn es um den gesamten Arbeitgeberbeitrag z.B. zur Krankenversicherung ginge.
• Und noch deutlicher: "Es liegt auch innerhalb des dem Gesetzgeber eingeräumten Gestaltungsermessens, wenn er aus arbeitsmarktpolitischen Gründen der Senkung des Beitragssatzniveaus und damit auch der Lohnnebenkosten Priorität einräumt. Dabei liegt die Annahme, dass hohe Lohnnebenkosten zum Wegfall oder zum Nichtentstehen versicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse beitragen, in der Einschätzungsprärogative des zur Gestaltung des Sozialstaats berufenen Gesetzgebers …. Ein milderes Mittel stand ihm nach eigener Einschätzung vor dem Hintergrund der zeitgleich in die Wege geleiteten strukturellen Reformen nicht zur Verfügung; zentrale medizinische Leistungen zu rationieren, konnte von ihm von Verfassungs wegen nicht verlangt werden."
Es ist das gute Recht aller BürgerInnen und auch der Verfassungsrichter in politischen Debatten je nach politischer Couleur die Einschätzungen von Politikern über die Alternativlosigkeit ihrer Entscheidungen zu teilen oder auch nicht. Die "eigene Einschätzung" der Mehrheitsparteien im Bundestag kein "milderes Mittel" gehabt zu haben als die genannten Verschlechterungen, zum allein geltenden Maßstab für eine Entscheidung über dessen Verfassungsmäßigkeit zu erheben, legimiert allerdings die Feigheit oder Einfallslosigkeit der Politik. Die Verfassungsrichter ignorieren damit z.B. eine seit Jahren diskutierte politische Alternative zur Rationierung zentraler medizinischer Leistungen, in Gestalt der milliardenschweren Fülle von Über- und Fehlversorgung mit gesundheitlich nicht notwendigen Diagnosen und Therapien. Deren Abbau könnte doch durchaus "von Verfassungs wegen … verlangt" werden!?
• Angesichts der mehrfach betonten staats- und systemtragenden Bedeutung der Lohnnebenkosten verwundert die folgende Schlussfolgerung des BVerfG kaum mehr: "Bei einem Vergleich der Schwere der - unterstellten - grundrechtlichen Beeinträchtigung und der Bedeutung des mit der Gesetzesänderung verfolgten öffentlichen Belangs ist den Rentnern die ihnen auferlegte zusätzliche Beitragslast zumutbar. Sie ist nicht derart gravierend, dass sie von ihnen nicht getragen werden könnte, zumal die auferlegte zusätzliche Belastung einkommensproportional ausgestaltet ist."

Die komplette Begründung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts mit dem Aktenzeichen 1 BvR 79/09 vom 3.6.2014 ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 30.7.14


Alter, saurer Wein wird auch nicht süßer, wenn der Kellner wechselt: Bundesbank und Dämpfung möglicher Gesundheitskosten-Explosion

Artikel 2377 In regelmäßigen Abständen prognostizieren wechselnde Institutionen und mehr oder weniger traditionelle Player der Gesundheitspolitik eine in absehbarer Zeit bevorstehende Finanzierungs- oder Ausgabenkrise der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), bewerten die bisherigen gesetzlichen Interventionen als wirkungslos und fordern stattdessen meist den "sauren Wein" oder die Ladenhüter von gut über 35 Jahren Kostendämpfungs-Gesundheitspolitik.
Die neuesten gesundheitspolitischen "Kellner" sind im Juli 2014 die Experten der "Deutschen Bundesbank", die einen Beitrag ihres "Monatsberichts" diesem Themenbereich widmen.

Die "Gänge" der Bundesbanker lauten so:

• "Die aktuelle Finanzlage der GKV stellt sich mit einem nochmaligen Überschuss im vergangenen Jahr und hohen Rücklagen auf den ersten Blick gut dar. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei nur um eine Momentaufnahme handelt und ein wieder größerer finanzieller Druck absehbar ist. Nicht nur aufgrund des demografischen Wandels, sondern auch aufgrund einer grundsätzlich steigenden Nachfrage dürften die Gesundheitsleistungen künftig weiter an Bedeutung gewinnen. Soweit sich dies in der GKV niederschlägt, ist bei konstanten Beitragssätzen auch künftig eine Finanzanspannung infolge einer grundsätzlich schwächer wachsenden Beitragsbasis zu erwarten."
• "In Beitragssätze umgerechnet, würde sich gemäß den Vorausberechnungen der Europäischen Union bis zum Jahr 2060 ein Anstieg auf einen Wert zwischen 16,5 und 21,5 Prozent ergeben."
• "Diese grundlegenden Probleme im Rahmen einer Versicherung können mit verschiedenen Instrumenten eingedämmt werden, die in der gesetzlichen Krankenversicherung noch intensiver genutzt werden könnten. Ein Ansatzpunkt wäre eine höhere Transparenz für die Patienten über die in Rechnung gestellten Behandlungen und Kosten. Diese könnte beispielsweise durch einen (teilweisen) Wechsel vom Sachleistungs- zum Kostenerstattungsprinzip verbessert werden."
• Und wenn Patientenquittungen, Selbstbehalte und Kostenerstattung kredenzt werden, dauert es meist nur wenige Zeilen bis die Kapitaldeckung an Stelle der angeblich untauglichen und nicht zukunftsfesten Umlagefinanzierung auftaucht: "Ein kapitalgedecktes System mit Alterungsrückstellungen wäre diesen Veränderungen weniger stark ausgesetzt. Allerdings wäre ein Wechsel des Finanzierungssystems übergangsweise mit Doppelbelastungen der Mitglieder verbunden, da sie zusätzlich zu den laufenden Ausgaben den Aufbau eines Kapitalstocks zu finanzieren hätten." Dass dieser Übergang Jahrzehnte dauern müsste und die Protagonisten der Kapitaldeckung bereits jetzt über eine zu hohe Sozialabgabenlast klagen, wird ebenso reflexartig verschwiegen.

Wer schließlich glaubt, die Maßnahmen der Bundesbank-"Kellner" seien wirklich hilfreich, sollte u.a. folgenden empirischen Sachverhalte in die Diskussion einbeziehen:

• Die Private Krankenversicherung (PKV) für rund 10% aller Krankenversicherten in Deutschland verfügt bereits über Kostenerstattung, Kapitaldeckung/Altersrückstellung, Selbstbehalte und eine Reihe weiterer "guten Tropfen", die Über- oder Fehlinanspruchnahme von Gesundheitsleistungen vermeiden helfen sollen. Dies hat empirisch bisher nicht die erwarteten oder erhofften Wirkungen gezeigt - im Gegenteil!
• Andere Länder mit jahrzehntelang dominierendem Kostenerstattungsprinzip, so Frankreich, planen gerade jetzt wegen seiner z.B. seit 1946 nicht wirklich nachweisbaren positiven Effekte, das Sachleistungsprinzip à la GKV einzuführen.

Die wenigen Hinweise der Bundesbanker, es müsse z.B. auch über die Erhöhung der Erwerbstätigenrate etwas für die Finanzierung der GKV getan, also nach jahrzehntelanger Austrocknung durch Arbeitslosigkeit, Teilzeitarbeit und Niedriglöhne die Einnahmenseite gestärkt werden und die guten Längsschnittübersichten über die Entwicklung wichtiger Eckgrößen der GKV, ändern an dem im Titel dieses Beitrags zugespitzt formulierten Eindruck nichts.

Der Aufsatz Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung und Herausforderungen für die Zukunft findet sich im "Monatsbericht der Deutschen Bundesbank - Juli 2014" und ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 24.7.14


Keine Trendwende bei der Beschäftigungssituation von 55+-Personen - "Verbesserungen" bei gering entlohnten Teilzeitbeschäftigungen

Artikel 2370 In den aktuellen Debatten über die Einführung und die Verhinderung des möglichen Missbrauchs der Altersrente ab 63 stellt die angesichts der demografischen Entwicklung notwendige und angeblich auch mögliche Beschäftigung von 55+-Personen ein wichtiges Argument dar. Wie die Situation für diese Altersgruppe wirklich aussieht und welche Chancen der Neueinstellung 55- bis 64-jährige Personen haben, untersucht seit einigen Jahren der "Altersübergangsreport" des "Instituts für Arbeit und Qualifikation" der Universität Duisburg/Essen im Auftrag der Hans Böckler Stiftung.

Die aktuelle Ausgabe 2/2014 dieses Reports fasst die Entwicklungen im Zeitraum 1993 bis 2010 folgendermaßen zusammen:

• "Entgegen der Annahme, dass angesichts einer steigenden Alterserwerbsbeteiligung auch die Eintrittsraten der Älteren gestiegen seien, lässt sich derzeit noch kein klarer Trend bei der Einstellungshäufigkeit von Älteren erkennen. Zwar nimmt die Anzahl der älteren neu Eingestellten zu, dem stehen aber demografisch bedingt und wegen längerer Erwerbsphasen steigende Zahlen an älteren Beschäftigten gegenüber.
• Die Altersungleichheit von Neueinstellungen ist in Großbetrieben besonders hoch: Dort werden anteilig mehr Jüngere als Ältere eingestellt. Gleichwohl ist in jeder Betriebsgrößenklasse, auch den Großbetrieben, die Altersungleichheit langfristig zurückgegangen.
• Neueinstellungen verhalten sich spiegelbildlich zur Beschäftigungsstabilität, d.h. sie kommen dort häufig vor, wo die Beschäftigungsstabilität niedrig ist. So sind beispielsweise die Eintrittsraten bei Teilzeitbeschäftigten und Frauen hoch und in Großbetrieben niedrig."

Offensichtlich muss weiterhin deutlich zwischen der beschäftigungs- und ruhestandspolitischen Rhetorik und der Wirklichkeit der Beschäftigungs- und Einkommenssituation der 55- bis 65-Jährigen unterschieden werden. Die u.a. mit der Teilzeitbeschäftigung verbundenen niedrigen Einkommen, wirken sich daher auch weiter negativ auf die Sozialabgaben und die Einnahmesituation der Sozialversicherungsträger aus.

Ausführliche Belege aus einem speziellen Datensatz mitr Individual- und Betriebsdaten enthält der Altersübergangsreport 2-2014 von Martin Brussig und Katarina Eggers, der komplett kostenlos erhältlich ist.

Bernard Braun, 1.7.14


Pay for Performance bleibt Glaubensfrage - Empirie überaus schwach

Artikel 2258 Seit langem gibt es unter Gesundheitswissenschaftlern und teilweise unter Gesundheitsökonomen eine lebhafte Diskussion über Sinn und Unsinn einer leistungs- oder erfolgsabhängigen Honorierung der Leistungserbringer im Gesundheitswesen. Während BefürworterInnen dieser Form der finanziellen Steuerung einen Erfolg versprechenden Ansatz zur Unterstützung erwünschter Verhaltensweisen der Anbieter, zur Verbesserung der Versorgungsqualität und letztlich auch zur Kostendämpfung sehen, verweisen SkeptikerInnen auf die zusätzlich anfallenden Kosten, fragliche Qualitätsverbesserungen sowie die Gefahr unerwünschter Effekte durch rein pekuniäre Motivation und mögliche Fehlsteuerung durch Verlagerung auf einkommensrelevante Leistungen.

Etwas Licht in die laufende Debatte zu bringen verspricht ein kürzlich in der Fachzeitschrift Health Policy veröffentlichter Überblicksartikel mit dem Titel Effects of pay for performance in health care: A systematic review of
systematic reviews
. Darin bestätigt die deutsch-niederländische Forschergruppe nicht nur die große Bandbreite von Erfahrungen und Erkenntnissen, sondern vor allem, dass die zustimmende oder ablehnende Haltung von einer Reihe zusätzlicher Faktoren und damit letztlich von der eigenen Einstellung abhängt.

Pay-for-performance (P4P) oder performance-based payment (PBP) bezeichnet eine solche erfolgsabhängige Vergütung, die sich an Hand festgelegter Qualitäts- oder Ergebnisindikatoren bemisst und zur Steigerung der Behandlungsqualität und verbesserter Versorgung beitragen soll. P4P ist als ein externes Anreizsystem im Rahmen der Bezahlung für Gesundheitsleistungen beispielsweise von niedergelassenen Ärzten oder Krankenhäusern, das Leistungserbringer motivieren soll, vordefinierte Ziele möglichst weitgehend zu erfüllen. Diese erfolgsorientierte Vergütung soll zum einen direkten Einfluss auf das Einkommen eines Leistungserbringers haben und zum Anderen über ein öffentlich zugängliches Berichtssystem indirekte Auswirkungen auf das Verhalten von Leistungserbringern haben.

Im Unterschied zu Deutschland haben andere Länder teils langjährige Erfahrungen mit leistungs- und qualitätsorientierten variablen Vergütungsanteilen bzw. P4P. In den USA finden seit über 20 Jahren erfolgsorientierte Prämien auf der Basis bestimmter Qualitätsindikatoren Anwendung. Großbritannien ist bemüht, die hausärztliche Qualität mithilfe finanzieller Anreize in Form leistungsbezogener Vergütungsanteile zu verbessern. Praktisch alle britischen Praxen beteiligen sich am dortigen P4P Programm, das niedergelassenen Hausärzten auf Grundlage von 150 festgelegten Qualitätsindikatoren eine durchschnittlich 25-prozentige Einkommenssteigerung beschert. Auch viele andere Länder wie Kanada, Israel, Neuseeland, Taiwan oder Ruanda wenden zunehmend P4P-Ansätze an.

Wie alle marktorientierten Neuerungen - vor allem wenn sie aus den USA kommen - stieß der P4P-Ansatz seit Anbeginn auf große Resonanz vor allem unter Gesundheitsökonomen, aber auch bei Gesundheitswissenschaftlern. Mittlerweile liegt eine Vielzahl von Studien und wissenschaftlichen Publikationen zu den Wirkungen von erfolgsabhängiger Honorierung im Gesundheitswesen vor. Überwogen anfangs eher positive Auswertungen und Einschätzungen, die vielfach aus der Feder der Initiatoren stammten und zumeist nur kurzfristige Auswirkungen erfassten, hat sich mittlerweile die verfügbare empirische Evidenz unübersehbar zu kritischeren Bewertungen verschoben. Auf weniger optimistische Ergebnisse wies das Forum Gesundheitspolitik beispielsweise im letzten Jahr mit dem Artikel "Pay for performance" auch nach 6 Jahren ohne positive Wirkung hin. Die Heterogenität der Befunde konnten auch verschiedene systematische Meta-Analysen nicht reduzieren, da sie jeweils unterschiedliche Schwerpunkte verfolgten.

Die nun vorgelegte Meta-Meta-Analyse versucht, auf diesem widersprüchlichen Gebiet einen strukturierten umfassenden Überblick über vorliegende Evidenzen zu P4P-Wirkungen und deren Begleitumständen zu liefern. In diese Meta-Meta-Analyse schlossen die Autoren aus Rotterdam und Nürnberg insgesamt 22 Studien ein, die einen sehr breiten Kanon von P4P-Effekten aufzeigten. Zwar deuten einige Analysen auf eine mögliche (Kosten-)Effektivität einer erfolgsabhängigen Honorierung von Leistungserbringern hin; allerdings sind die Hinweise insgesamt nicht überzeugend, denn viele Studien fanden überhaupt keine oder allenfalls sehr schwache Auswirkungen auf die Effektivität und nur wenige Untersuchungen konnten P4P-Effekte überzeugend von denen anderer Veränderungen abgrenzen. Während P4P zur Abschwächung von Ungleichheiten zwischen verschiedenen sozioökonomischen Gruppen beitragen konnte, war bei anderen Ungleichheiten kein positiver Effekt zu beobachten. Allerdings fand das deutsch-niederländische Forscherteam Hinweise auf unerwünschte Wirkungen insbesondere bei solchen Behandlungen, für die keine erfolgsabhängige Vergütung erfolgte.

Die Ergebnisse im Einzelnen:

• Allenfalls geringe Effektivitätssteigerung bei Prävention: Begutachtungen der Effektivität des P4P-Ansatzes bezogen sich im Wesentlichen auf präventive Maßnahmen wie Impfungen und Früherkennung zeigten ein sehr gemischtes Bild, das keine Rückschlüsse zulässt, zumal die in einigen Studien erfasste positive Auswirkung von P4P ausgesprochen gering war.

Unterschiedliche Effekte bei verschiedenen Krankheiten: P4P hatte geringen Einfluss auf die Behandlungsqualität bei Asthma und Diabetes, aber nicht bei Herzerkrankungen.

Nachhaltigkeitslücke: Die zumeist ohnehin eher schwachen Wirkungen von P4P sind im ersten Jahr nach Einführung erfolgsabhängiger Honorierung am stärksten ausgeprägt und geht danach zurück.

• Kosteneffektivität: Es fehlt bisher der Nachweis, dass P4P-Ansätze die mit ihrer Einführung und Umsetzung einhergehenden Mehrausgaben für das Gesundheitssystem rechtfertigen, indem potenzielle bzw. erwünschte Kostendämpfungen die dafür erforderlichen Ausgaben zumindest kompensieren. Zudem lassen die Studien auch regelmäßig die Frage offen, ob gemessene Verbesserungen nicht allein durch die aufgrund des P4P-Ansatzes vermehrt verfügbaren Ressourcen erklärbar sind.

• Auswirkungen auf Behandlungen außerhalb der erfolgsabhängigen Honorierung: Auch hier zeigt die Zusammenschau diverser Meta-Analysen ein sehr uneinheitliches Bild, das den Verdacht auf negative Effekte auf nicht für die leistungsabhängige Vergütung relevante Procedere und die intrinsische Motivation nahe-, aber nicht belegen.

• Gesundheitliche Ungleichheit: P4P kann zumindest kurzfristig zu einer Verringerung sozialer Ungleichheit bei der Nutzung von Präventionsangeboten beitragen, indem Anbieter proaktiver Personen für diese Maßnahmen rekrutieren; ansonsten bleiben aber vertikale und vor allem horizontale Ungleichheiten weitgehend unberührt.

• Öffentliches Berichtswesen: Die mit der leistungsabhängigen Vergütung medizinischer Anbieter verbundene Offenlegung von Daten zur Qualität ihrer Versorgung scheint zu einer Verstärkung der erwünschten P4P-Effekte beizutragen bzw. diese zu einem nicht unerheblichen Teil mit zu verursachen.

• Abhängig von einer Vielzahl anderer Faktoren: Letztlich hängen die Wirkungen des performance-based payment von einer ganzen Reihe Umsetzungs- und Umgebungsfaktoren ab, nämlich von der Art der Erfolgs- und Zielvorgaben, Größe der Einrichtung, Häufigkeit der erfolgsabhängigen Honorierung etc.

Von dem Artikel Effects of pay for performance in health care: A systematic review of systematic reviews von Frank Eijkenaara, Martin Emmert, Manfred Scheppach und Oliver Schöffski, in der Health-Policy Ausgabe 110 (2-3) steht für Nicht-Abonnenten nur das Abstract kostenfrei zur Verfügung.

Jens Holst, 3.8.13


Auf rückwärtsgewandten Pfaden weiter zur Zweiklassenmedizin

Artikel 2253 Der 116. Deutsche Ärztetag vom 28. Bis 31. Mai 2013 in Hannover hat einen Antrag des Vorstands der Bundesärztekammer (BÄK) zur zukünftigen Finanzierung der Krankenversicherung angenommen. Nach längerer und teilweise kontroverser Diskussion sprach sich eine Mehrheit der Delegierten für die Beibehaltung des dualen Krankenversicherungssystems in Deutschland und vor allem für einen Übergang von der einkommensabhängigen Finanzierung zu einer Kopfpauschale aus. Offenbar sind die deutschen Ärzte mehrheitlich in erster Linie an der Sicherung ihrer eigenen Pfründe interessiert. Trefflicher als ein Blog im radikalen Ärztenetzwerk Hippokranet zum Ärztetag kann man es kaum ausdrücken: "Egal ob Armut krank macht oder Krankheit arm macht, die zukünftigen Ärzte sind wegen persönlicher Armut (...) immer dabei - und sollen auch noch die enorme Verantwortung für die Patienten tragen obgleich ihnen die finanzielle Sicherheit und Unabhängigkeit dafür genommen wurde."

Dass eine Kopfpauschale ärmere Menschen relativ höher als Gutverdiener belastet, entzieht sich offenbar dem gängigen Medizinerverständnis. Inhaltliche Kritik an dem BÄK-Vorstand-Antrag war bereits laut geworden, bevor die deutsche Ärzteschaft überhaupt über diesen Antrag diskutieren konnte, nachdem der Vorstand das politisch ausgesprochen einseitige Papier an die Öffentlichkeit lanciert hatte. Doch bei Weitem nicht alle Ärztinnen und Ärzte fühlen sich bei den BÄK-Vorschlägen zur Zukunft der Gesundheitsfinanzierung in Deutschland richtig vertreten. Deutlichen Diskussions- und Nachbesserungsbedarf meldeten beispielsweise der verein demokratischer Ärztinnen und ärzte (vdää) an, der sich über die Vorabveröffentlichung wundert. "Es ist äußerst ungewöhnlich und befremdlich, dass dieser Antragsentwurf - bevor er überhaupt in der Ärzteschaft diskutiert wurde - schon heute als Meinung der deutschen Ärzteschaft an die Presse gegeben wird" heißt es in der Presseerklärung des vdää vom 23. April dieses Jahres.

Der Antrag der Bundesärztekammer Anforderungen zur Weiterentwicklung des dualen Krankenversicherungssystems in Deutschland entstand aufgrund einer entsprechenden Entschließung auf dem letztjährigen Ärztetags in Nürnberg: "Der 115. Deutsche Ärztetag 2012 fordert den Vorstand der Bundesärztekammer auf, zum 116. Deutschen Ärztetag 2013 in Hannover ein tragfähiges Konzept zur Finanzierung des Krankenversicherungssystems in Deutschland vorzulegen. Dieses muss den Grundsätzen der ärztlichen Freiberuflichkeit sowie der Subsidiarität und Eigenverantwortung gerecht werden und die Sicherstellung der Versorgung gewährleisten."

Schon dieser Auftrag war überaus tendenziös, denn erstens stellt sich die Frage, was die vielzitierte ärztliche Freiberuflichkeit überhaupt mit tragfähiger Finanzierung zu tun hat, und zweitens sticht die Betonung der Eigenverantwortung hervor, die wirtschaftliberaler Ideologie entspringt und den Realitäten im Gesundheitswesen kaum angemessen gerecht werden kann. Unverkennbar trägt der BÄK-Antrag die Handschrift des BÄK-Vorsitzenden Frank Ulrich Montgomery, der als gefragter Talkshow-Gast und anderswo gerne seine Vorstellungen von einer einheitlichen Beitragspauschale darlegt, die Segnungen der Privaten Krankenversicherungen preist oder die ach so arge Belastung der deutschen Wirtschaft durch Sozialabgaben geißelt. Von nennenswertem gesundheitspolitischem Fachwissen sind seine Beiträge nicht geprägt, dafür bedient er klassische Mythen und greift gerne zu schlichten Falschaussagen wie der, deutsche Arbeitgeber hätten die weltweit höchsten Lohn"neben"kosten zu tragen.

Beratend stand der einschlägig als Befürworter von Kopfpauschalen in der GKV bekannte Leiter des Kieler Instituts für Mikrodaten-Analyse (IfMDA), Thomas Drabinski, zur Seite, der seine Vorstellungen beispielsweise im Januar 2010 in einem längeren Beitrag im Deutschen Ärzteblatt zum Besten gab. Diese Beratung war zwar sicherlich ideologisch passend, trug aber offenbar nicht hinreichend dazu bei, die in der Ärzteschaft offenkundig mangelnde gesundheitspolitische Sachkenntnis und insbesondere grundlegenden Verständnismängel im Bereich der Gesundheitsfinanzierung auszugleichen.

Während sich die Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU) schon lange von ihrer eigenen Idee einer Kopfpauschalenfinanzierung der GKV verabschiedet hat, weil die Mehrheit der WählerInnen die einkommensabhängige Finanzierung bevorzugt, halten einige Lobbyisten-Gruppen unbeirrbar an dieser regressiven Finanzierungsform fest, die Gutverdiener begünstigt und vor allem die Existenz der PKV nicht in Frage stellt.

Damit findet die BÄK-Führung zwar uneingeschränkte Zustimmung in den Teilen der niedergelassenen Ärzteschaft, die sich als wehrlose Systemopfer und an angemessener Gewinnerzielung gehindert fühlen. Wie Hippokranet im Februar dieses Jahres meldete, zeigte eine Umfrage von TNS Emnid im Auftrag von "Focus-money", dass 86 % der befragten Niedergelassenen gegen die Bürgerversicherung seien; die Befürworterquote für die Kopfpauschale dürfte im Umkehrschluss ebenso hoch anzusiedeln sein. Zwar fordern auch Hippokranet-Blogger in einem Beitrag gelegentlich die Überarbeitung des BÄK-Antrags. Allerdings wurde im Hippokranet nach dem Ärztetag auch überraschend offene Kritik daran laut, dass sich die Ärzteschaft mit Themen befasst, von denen sie eigentlich gar keine Ahnung hat: "Seit wann ist es Aufgabe der Ärzteschaft, sich um Versicherungsmodelle zu kümmern? Was befähigt die Ärzteschaft, sich darum zu kümmern?" ist in einem anderen Beitrag zu lesen. Wohl wahr!

Neben der vdää-Presseerklärung zum Antrag der BÄK zur Weiterentwicklung der Krankenversicherung finden Sie hier kostenfrei eine lesenswerte Kritik des Gesundheitspolitikers Hartmut Reiners am BÄK-Papier mit dem Titel Die Bundesärztekammer: Vertretung der Ärzteschaft oder Lobbyorganisation der PKV?.

Jens Holst, 24.5.13


Was wäre, wenn die Gesundheitsausgaben in den USA seit 30 Jahren "nur" so hoch gewesen wären wie in der Schweiz? 4 Ipads for all!

Artikel 2242 Das schweizerische und das us-amerikanische Gesundheitssystem sind seit Jahrzehnten die teuersten der Welt, egal ob es um den Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt oder die Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit geht. Während die Pro-Kopf-Ausgaben beider Länder 1980 fast identisch waren lagen sie in den USA im Jahr 2010 um fast 3.000 US-Dollar (gerechnet in inflationsbereinigten Dollarpreisen des Jahres 2012) über den Ausgaben in der Schweiz und damit die USA weltweit einsam an der Spitze.

In einem Beitrag für den Blogbereich des Commonwealth Fund vom 21. März 2013 stellt sich ein Autor zwei interessante Fragen: Als erstes berechnet er, wie viele US-Dollar in den USA nicht in das Gesundheitssystem geflossen wären, wenn das dortige Ausgabenniveau in den 30 Jahren seit 1980 weiter dem in der Schweiz entsprochen hätte. Zweitens fragt sich der Autor was stattdessen hätte mit dem "eingesparten" Betrag hätte finanziert werden können.
Die kumulative Einsparung hätte 15,5 Billionen US-Dollar betragen (da es in den USA keine Milliarde gibt, steht im Blogbeitrag der Betrag von 15,5 Trillionen US-Dollar).

Mit dieser Summe hätte das

• heutige Defizit im US-Bundeshaushalt von 11,6 Billionen US-$ in ein Plus von 3,9 Billionen US-$ umgewandelt werden können,
• hätte während dieses Zeitraums für 175.401.721 Studenten eine vierjährige College-Studium finanziert werden können,
• hätte ein Gebiet mit der Fläche des Bundesstaats South Carolina mit Solaranlagen bedeckt werden können, die mehr umweltfreundliche Energie erzeugen könnten als die USA selber brauchen
• oder hätte die US-Regierung jedem Erdenbürger 4 Ipads kaufen können.

Egal wie skurril oder machbar die Ausgabenalternativen im Detail sind, zeigt diese Berechnung doch, welche Unsummen knapper Finanzressourcen in der Gesundheitswirtschaft landen und ceteris paribus an anderen Ecken in der Gesellschaft fehlen. Und nicht nur im Falle der USA hat - wie zahlreiche Studien belegen - ein Teil der Gesundheitsausgaben noch nicht einmal einen Nutzen oder schadet sogar mehr als er nützt.

Bleibt die Frage, wie viele Ipads oder Samsung-Tablets man mit den Einsparungen aus einem 30-Jahres-Vergleich der deutschen Gesundheitsausgaben mit denen in den Niederlanden oder Schweden hätte kaufen können?
Wie man mit der drohenden Überversorgung mit Tablets umgehen kann, sollte dann aber gleich mitgeklärt werden.

Der kurze Beitrag The Road Not Taken: The Cost of 30 Years of Unsustainable Health Spending Growth in the United States von David Squires im "The Commonwealth Fund Blog" vom 21.3.2013 ist kostenlos zugänglich.

Bernard Braun, 23.3.13


"Sich um das Wesentliche kümmern können": Bürokratieabbau im Gesundheitssystem "Ja", aber wo, wie viel und was?

Artikel 2241 Im deutschen Gesundheitssystem nimmt in den letzten Jahren nicht nur z.B. der Umfang des gesamten Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V) und einzelner Paragraphen scheinbar unaufhaltsam zu, sondern als Folge und Lösungsversuch dieser für normale Versicherte wachsenden Unübersichtlichkeit auch die Anzahl gedruckter und digitalisierter Navigatoren, Case-, Care-, Versorgungs-, Beratungs- oder Entlassungsmanager und Anzahl wie Umfang der Dokumentationspflichten für Leistungserbringer.

Vor allem niedergelassene und stationär tätige Ärzte, Krankenschwestern oder Angehörige ambulanter Pflegedienste klagen seit geraumer Zeit über den tatsächlich oder vermeintlich ständig steigenden Anteil von patienten- oder behandlungsfernen administrativen Tätigkeiten.

Wie viel genau an Zeit und Geld von Leistungserbringern und Versicherten oder Patienten aufgebracht werden muss, um bestimmte Leistungen zu erhalten, stützte sich bisher vor allem auf diese Klagen oder war rein spekulativ.

Der im Auftrag der Bundesregierung vom Normenkontrollrat erstellte und am 20. März 2013 veröffentlichte Bericht "Erfüllungsaufwand im Bereich Pflege - Antragsverfahren auf gesetzliche Leistungen für Menschen, die pflegebedürftig oder chronisch krank sind", stellt für einige Leistungen erstmals Transparenz her oder verbessert sie. Der Bericht liefert z.B. Antworten auf Fragen wie Wie viel Zeit und Kosten beansprucht die Dokumentation der Pflege? Wie viele Anträge auf Leistungen der häuslichen Krankenpflege werden jährlich gestellt? Welche Kosten werden durch die Antragsverfahren verursacht? Welche Zeit müssen Versicherte für den Erhalt dieser Leistungen aufbringen?

Die wichtigsten Erkenntnisse in Kürze:

• Der so genannte Erfüllungsaufwand liegt für die AntragstellerInnen von 10 Rehabilitations-, Hilfsmittel- und Pflegeleistungen zwischen drei Minuten für Anträge zu Leistungen der medizinischen Rehabilitation und 435 Minuten für Anträge für die Hilfe zur Pflege. Für einen Antrag zur Befreiung von Zuzahlungen benötigt allein der GKV-Versicherte rund 53 Minuten.
• Die Antragsverfahren für diese 10 Leistungen kosten die Krankenkassen, andere Sozialleistungsträger und die Wirtschaftsbetriebe jährlich rund 449 Millionen Euro.
• Die Dokumentation ambulanter und stationärer Pflege kostet die entsprechenden Wirtschaftsbetriebe jährlich rund 2,7 Mrd. Euro. Mehr als zwei Drittel dieser Kosten entfallen dabei auf das Ausfüllen von Leistungsnachweisen z.B. für jeden besuchten Pflegebedürftigen und jede einzeln erbrachte Leistung. Die Feststellungen von Pflegestufen verursachen 110 Mio. Euro. Die Kosten für die Antragsverfahren im Bereich der häuslichen Krankenpflege betragen 54 Mio. Euro.
• Alleine das Ausfüllen der Leistungsnachweise als Kernstück der Pflegedokumentation kostet jährlich rund 1,9 Mrd. Euro und wird jährlich rund 408 Mio. mal durchgeführt.
• Das bei jeder Neuaufnahme einer pflegebedürftigen Person notwendige Einrichten der Pflegedokumentation verursacht in den Pflegeeinrichtungen einmalig zwischen 158 Minuten in der Tagespflege und 386 Minuten in stationären Pflegeeinrichtungen. In jedem zweiten Fall entsteht zusätzlich ein Aufwand von 17 Minuten (entspricht rund 1,5 Millionen Euro) für Ärzte, die Informationen zwecks Erstellung der Pflegedokumentation an die Pflegeeinrichtung weitergeben. Daneben müssen Bürgerinnen und Bürger, zumeist deren Angehörige, im Mittel eine Stunde für die Zulieferung von notwendigen Informationen aufbringen.
• Der Gesamtaufwand für die Bearbeitung eines Antrags auf Feststellung der Pflegestufe durch eine gesetzliche Pflegekasse beträgt rund 66 Minuten.
• Wenn die Begutachtung eines Pflegeantrags beim MDK durch internes Personal erfolgt, fallen im Mittel neben den rund 30 Minuten MDK-Sachbearbeitung noch 77,5 Minuten für die Gutachterin bzw. den Gutachter für die Begutachtung an.
• Legt ein Versicherter Widerspruch gegen einen Pflegebescheid ein, braucht er für die Erstellung insgesamt 170 Minuten, d.h. mehr Zeit als für die erstmalige Antragstellung. Und auch der Zeitaufwand für den Umgang mit einem Widerspruch liegt mit rund 102 Minuten pro Fall über dem Aufwand für die Erstantragsstellung.

Der Bericht enthält bereits eine Mischung von neuen oder meist jahrzehntealten Verbesserungsvorschlägen für die verständliche Gestaltung von Antragsformularen (dies steht z.B. bereits im § 17 Abs. 1 Satz 3 des Ersten Buch des SGB aus dem Jahr 1975), den kostenfreien Zugang zu Beratungsstellen der Sozialversicherungsträger (bisher noch oft teure 0180er Nummern) oder die Entfristung von Pflegestufen-Einstufungen.

Ob es zu der erhofften Entbürokratisierung und Verwaltungsvereinfachung kommt oder trotz Bürokratieabbau-Rhetorik lediglich zum Umfüllen des alten Weines in neue Schläuche, wird abzuwarten sein. Allein die Lektüre der für mögliche weitere Vereinfachungen zuständigen und zu moderierenden institutionellen Akteure lässt zumindest die Hoffnung auf schnelle Lösungen schrumpfen. Auf "Vorschlag der Krankenkassen" soll eine "gemeinsame Arbeitsgruppe", der "Beteiligte, BMG/BMAS, Statistisches Bundesamt, OBF" (Ombudsfrau zur Entbürokratisierung der Pflege) angehören, diese weiteren Arbeiten unter Leitung des Statistischen Bundesamtes als "neutralem Moderator" übernehmen. Einige dieser Akteure tragen seit Jahrzehnten durch ihr Verhalten eher zum Vertrauensschwund zwischen den Hauptakteuren im Gesundheitswesen, dem Grund-Misstrauen gegen Versicherte und Patienten, zur Zunahme des Verwaltungsaufwandes, der Notwendigkeit aufwändiger Beratung und der organisierten Nichtverständigung auf gemeinsam verpflichtende Lösungen bei.

Aufpassen sollten aber alle Interessierten vor allem darauf, nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten und z.B. bei anhaltender normativer und regulatorischer Unübersichtlichkeit oder Undurchsichtigkeit das Zusammenstreichen von Beratungsaufwand oder Weiterbildungsangeboten für Sachbearbeiter als Verwaltungsvereinfachung zu verkaufen.

Der Originalbericht Erfüllungsaufwand im Bereich…Pflege. Antragsverfahren auf gesetzliche Leistungen für Menschen, die pflegebedürftig oder chronisch krank sind aus der "Projektreihe Bestimmung des bürokratischen Aufwands und Ansätze zur Entlastung" von 239 Seiten wird von der Bundesregierung und dem Statistischem Bundesamt gemeinsam herausgegeben und ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 21.3.13


Wie handlungsanregend sind zusätzlich 0,008 QALY's/Kopf/Leben oder wie überzeugt man Nicht-Ökonomen von Gesundheitsprogrammnutzen?

Artikel 2230 Initiatoren und Finanziers von alten oder neuen kurativen oder präventiven gesundheitsbezogenen Maßnahmen und Angebote fordern und nutzen für Entscheidungen über die Verwendung knapper Ressourcen neben gesicherter Evidenz ihrer Wirksamkeit zunehmend auch (gesundheits-)ökonomische Bewertungen oder Indikatoren.
Dies gilt auch für die Motivation und "Überweisung" von körperlich inaktiven Personen mit Risikofaktoren für schwerere Erkrankungen (z.B. Herz-Kreislauferkrankungen, Diabetes) durch ihre Hausärzte, z.B. Fitnessklubs aufzusuchen und dort an einem maßgeschneiderten Übungsprogramm teilzunehmen. In einem "Health Technology Assessment"-Bericht (Pavey T. et al. (2011): The clinical effectiveness and cost-effectiveness of exercise referral schemes (ERS): a systematic review and economic evaluation. (15 (44): 1-254 oder den entsprechenden Forumsbeitrag) fanden die AutorInnen in den sieben bewerteten randomisierten kontrollierten Studien Evidenz für den Nutzen und die Wirtschaftlichkeit von ERS - auch wenn sie sie selber als "very limited" bezeichneten. Im Vergleich mit Personen oder Patienten, die wie üblich z.B. nur mit verbalen Hinweisen auf Bewegungsmöglichkeiten behandelt wurden, war die Wahrscheinlichkeit, dass ERS-Empfänger körperlich aktiv wurden, um 11% höher. Dieser Unterschied war aber statistisch nicht signifikant.

Die gesundheitsökonomischen Eckwerte für ERS gab der HTA-Bericht so an: Die Mehrkosten pro Kopf betrugen 169 britische Pfund und der Zugewinn an "quality-adjusted life-year (QALY)" beträgt pro Nutzerkopf und pro gesamter Lebenszeit 0,008. Damit kostet ein ganzes QALY für inaktive Personen ohne eine medizinische Erkrankung 20.876 £. Die Kosten für ein QALY sinken bei inakiven übergewichtigen Personen auf 14.618 £, bei inaktiven Personen mit Bluthochdruck auf 12.834 £ und bei Personen mit einer Depression auf 8.414 £.

Die Frage, die sich zwei britische Gesundheitsökonomen nun in einem im Januar 2013 veröffentlichten Aufsatz stellten, ist, ob sich mit den aus der klassischen Kosten-Nutzenanalyse (cost-utility analysis [CUA]) stammenden Werten wie dem beschwerdefreien Lebensjahrezugewinn von 0,008 Jahre Gesundheitspolitiker oder gar gesundheitsferne Kostenverwalter dazu bewegen lassen, Geld für ERS auszugeben. Nachdem sie diese Frage verneinen und in der spröden und technischen Charakteristik von Kostenwerten einen Hauptgrund für die Startschwierigkeiten wichtiger gesundheitsbezogener Leistungen sehen, schlagen sie als Lösung das gesundheitsökonomische Alternativkonzept der so genannten "cost-consequence analysis (CCA)" vor.

Der Argumentationsgang der CCA beginnt mit den für eine Kohorte von 100.000 Personen geschätzten Gesamtausgaben von 22 Millionen £ für die Leistungen der Gesundheitsanbieter und 12 Millionen £ von den TeilnehmerInnen noch zusätzlich zu finanzierenden Mitgliedsbeiträgen etc.. Der Nutzen wird in der CCA in "natürlichen Einheiten" ("natural units")dargestellt. So werden durch ERS im Vergleich zu normal Behandelten zusätzlich 3.900 von 100.000 Personen körperlich aktiv, 51 Fälle von schweren Herz-Kreislauferkrankungen, 16 Schlaganfälle und 86 Fälle Erkrankungen am Altersdiabetes werden verhindert. Insgesamt nimmt die Anzahl von QALY's um rund 800 Jahre zu. Insgesamt trägt das ERS-Programm dazu bei, dass zusätzlich 152 Personen erkrankungsfrei bleiben. Am Ende einer noch wesentlich längeren Liste von sinnlich fassbarem und vermittelbarem Nutzen des Programms gibt es aber auch Nachteile der Intervention: So steigt das Risiko von Muskel- und Skelettverletzungen oder schmerzhaft behindertem Gang um das Vierfache.

Im Resumée der britischen Ökonomen ist die CUA weiterhin eine Art "common currency" für die Berechnung und Darstellung der Wirtschaftlichkeit von Interventionen. Da deren Ergebnisse aber erfahrungsgemäß oft nur "little resonance with stakeholders from the non-health sector" haben und wenig Überzeugungsimpluse und Handlungsanreize liefert, könnten die Ergebnisse einer CCA hier überzeugen und initiieren helfen.
Dies gilt selbst dann auf jeden Fall für andere nachweisbar wirkungsvollere Intervention und Therapien, wenn man am Nutzen von ERS wegen der oben genannten schwachen Evidenz zweifelt und daher auch keinen Nicht-Ökonomen davon überzeugen will.

Der materialreiche und ideenreiche Aufsatz Applying economic evaluation to public health interventions: the case of interventions to promote physical activity von Paul Trueman und Nana Kwame Anokye ist im "Journal of Public Health" (2013, Vol. 35, No. 1: 32-39) erschienen und als "open access"-Beitrag komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 24.2.13


Globale Soziale Sicherung: So utopisch wie unverzichtbar

Artikel 2226 Universelle Absicherung im Krankheitsfall steht zurzeit weit oben in der Entwicklungszusammenarbeit. Nachdem führende internationale Organisationen wie Weltbank, IWF und jahrzehntelang das hohe Lied vom Wirtschaftswachstum als Schlüssel zur Entwicklung gepriesen hatten, in dessen Folge sich alle Herausforderungen überwinden ließen, misst die internationale Gemeinschaft seit einigen Jahren der gesellschaftlichen Entwicklung und insbesondere der sozialen Absicherung wachsende Bedeutung bei. Beredte Beispiele für die zunehmende Bedeutung von universeller Absicherung im Krankheitsfall liefern der Weltgesundheitsbericht 2010 Health Systems Financing: The path to universal coverage der WHO und zuletzt der Bericht Right of everyone to the enjoyment of the highest attainable standard of physical and mental health, den der zuständige Sonderberichterstatter Anand Grover bei der 67. UN-Vollversammlung im Oktober 2012 in New York vorlegte.

Im Mai 2012 veranstalteten die Nichtregierungsorganisationen medico international aus Frankfurt und Hélène-de-Beir-Foundation aus Gent einen dreitägigen Workshop, um über Ansätze und Möglichkeiten eines weltweiten sozialen Sicherungssystems zu diskutieren. Auf dem von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) finanziell unterstützten Treffen kamen VertreterInnen aus unterschiedlichen sozialen, akademischen und politischen Einrichtungen in Europa, Afrika sowie Nord- und Südamerika zusammen, um argumentative Grundlagen, Ideen und Konzepte für ein globales Absicherungssystem im Krankheitsfall zu diskutieren. Die wichtigsten Beiträge zum Thema sind nun in Form eines Workshop-Readers nachzulesen, in dem die AutorInnen die Idee eines globalen sozialen Sicherungssystems unter verschiedenen Gesichtspunkten entwickeln und analysieren.

Zunächst fordert der Geschäftsführer von medico international, Thomas Gebauer, die herrschende Neoliberale Ideologie zu überwinden und das Solidarprinzip international und global zu institutionalisieren. UN-Sonderberichterstatter Anand Grover und seine Mitarbeiter beleuchten das Recht auf Gesundheit und soziale Absicherung vor dem Hintergrund bestehender internationaler Rechtsvereinbarungen. Gorik Ooms, Geschäftsführer der Hélène-de-Beir-Stiftung, führt vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen in der Entwicklungszusammenarbeit in eindrücklicher Weise dreieinhalb Gründe für ein weltweites System sozialer Absicherung im Krankheitsfall an, bevor der britische Ökonom David Woodward die Bedeutung sozialer Sicherungssysteme im Kontext zunehmender weltweiter Ungleichheit beleuchtet und dabei die extreme Ungleichverteilung von Einkommen und Anrechten darlegt.

Der Professor für Philosophie und International Beziehungen Thomas Pogge von der Yale-Universität stellt die provokante Frage: "Verletzen wir die Menschenrechte der Armen dieser Welt? " und liefert unter Verweis auf eine Vielzahl internationaler Rechtsvereinbarungen detaillierte philosophisch-soziale Begründungen für eine Pflicht der Reichen und der reichen Länder, den Armen dieser Welt Teilhabe zu ermöglichen. Anstelle eines eigenen Beitrags des ILO-Vertreters Aurelio Fernández enthält der Reader eine bibliografisch angepasste Fassung der Zusammenfassung des Berichts der Beratergruppe zum Social Protection Floor unter Vorsitz der ehemaligen chilenischen Präsidentin Michelle Bachelet.

Angelehnt an den Ablauf des Workshops analysiert der Gesundheitswissenschaftler und Entwicklungsberater Jens Holst die Potenziale eines Risikostrukturausgleichs sowie nationaler und regionaler Kompensationsfonds als Vorlagen für ein globales System sozialer Absicherung; dabei zeigt sich, dass sowohl der deutsche Länderfinanzausgleich als auch die EU-Entwicklungsfonds wichtige Hinweise für den Aufbau eines solchen Systems liefern. Der ehemalige mocambikanische Gesundheitsminister Francisco Songane fordert anschließend eine Abkehr von vertikalen, krankheitsbezogenen und meist kurzfristigen Projekt- hin zu systemischen Ansätzen im Dienste nationaler Entwicklungsstrategien und nicht nach Vorgaben der Finanzierer.

Der belgische Jura-Professor Lieven Denys beleuchtet das viel versprechende Potenzial einer Globalen Solidaritätsabgabe auf Finanz- und insbesondere Wechselkurstransaktionen, bei der negative ökonomischen Auswirkungen auszuschließen sind, die aber erhebliche Mittel für die weltweite soziale Absicherung abwerfen würde. Vanessa López von der spanischen NGO Salud por derecho stellt ein erstes Konzept einer Art Weltkrankenkasse mit internem Finanzausgleich zwischen reichen und armen Ländern vor. Die kenianische Juristin und Hochschullehrerin Attiya Waris hebt die enge Verbindung zwischen sozialer Sicherung und effektiver Steuererhebung hervor, beleuchtet die historische Entwicklung von Steuersystemen und leitet daraus die Notwendigkeit wirksamer internationaler Besteuerung in Zeiten der Globalisierung ab.

Jean-Olivier Schmidt von der GIZ erläutert den Ansatz der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, der sich von der Förderung der Gesundheitsversorgung in den Ländern des Südens auf die Unterstützung und den Aufbau von Gesundheitsfinanzierungssystemen verlagert hat. Den Abschluss dieses vielseitigen und hochkarätigen Sammelbandes bildet ein weiterer kurzer Beitrag von Gorik Ooms, in dem er die Bedeutung langfristiger und zuverlässiger finanzieller Entwicklungszusammenarbeit hervorhebt, da viele Länder vor allem im südlichen Afrika, aber auch in Teilen Asiens und Mittelamerikas nicht über hinreichende eigene Ressourcen verfügen, um eine angemessene Versorgung der ganzen Bevölkerung zu finanzieren.

Der Sammelband liefert reichhaltiges Material und wichtige Denkanstöße für internationale Politikansätze zum Aufbau eines globalen Systems sozialer Absicherung und verfolgt explizit das Ziel, die Debatte über die Globalisierung sozialer Sicherungssysteme voranzubringen. Auf der Website von medico international steht der Workshop-Reader Global Social Protection Scheme - Moving from Charity to Solidarity daher kostenfrei zum Download zur Verfügung.

Jens Holst, 17.2.13


Selbstbeteiligungen in Entwicklungsländern machen ärmer und kränker

Artikel 2223 Nicht nur in Deutschland und anderen Industriestaaten gehören nachfrageseitige finanzielle Steuerungsmechanismen wie Patientenselbstbeteiligungen zum Standardrepertoire von Gesundheitsreformen. Auch die meisten Entwicklungs- und Schwellenländer greifen immer wieder auf das ebenso alte wie fragwürdige Instrument von Zuzahlungen zur Krankenbehandlung zurück. Ein soeben veröffentlichtes Discussion Paper der mittlerweile beendeten Forschungsgruppe Public Health am Wissenschaftzentrum für Sozialforschung Berlin (WZB) geht detailliert den Fragen der Anwendung, Bedeutung und vor allem Wirkung von so genannten user fees (Nutzergebühren) und anderen Formen von Selbstbeteiligungen in den armen Ländern des Südens nach. Der Arzt, Gesundheitswissenschaftler und Entwicklungsberater Jens Holst beleuchtet zunächst den theoretischen Begründungszusammenhang von Patientenzuzahlungen im Gesundheitswesen, verweist dabei aber explizit auf ausführlichere Betrachtungen in seinem vorangegangenen WZB Discussion Paper zu Auswirkungen von Zuzahlungen in Industrieländern, worauf wir seinerzeit in dem Forumsbericht Was Sie schon immer über Zuzahlungen wissen wollten ... hinwiesen. Der Hauptteil des aktuellen Discussion Papers widmet sich messbaren Zuzahlungswirkungen in Entwicklungs- und Schwellenländern im Hinblick auf makro- und mikroökonomische Aspekte, die Problematik von Opportunitätskosten und feststellbare Strategien des Umgangs mit Selbstbeteiligungen sowie Möglichkeiten und Herausforderungen von Zuzahlungsbefeiungen. Ein weiteres Kapitel analysiert spezifischer die Effekte von Zuzahlungen bei der Steuerung des Nachfrageverhaltens im Gesundheitswesen, gefolgt von einem Überblick über relevante Metaanalysen zu dieser Thematik.

Die Finanzierung der medizinischen Versorgung ihrer Bevölkerung stellt die meisten Entwicklungs- und viele Schwellenländer vor das Dilemma knapper öffentlicher Ressourcen und konkurrierender Prioritäten. Vielerorts ist die öffentliche Krankenversorgung zwar kostenfrei, aber chronisch unterfinanziert und weder quantitativ noch qualitativ in der Lage, die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen zu befriedigen. Auf der Suche nach zusätzlichen Finanzierungsquellen zur Verbesserung der Krankenversorgung entstand die Idee, deren NutzerInnen, also die PatientInnen stärker an den Kosten ihrer Behandlungen zu beteiligen. Insbesondere in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre drängten nicht nur die üblichen Verdächtigen unter den internationalen Organisationen wie Weltbank und IWF die Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas zur Einführung von Nutzergebühren bei Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen; andere UN-Sonderorganisationen wie WHO und UNICEF schlugen in dieselbe Kerbe. Im Zuge der so genannten Bamako-Initiative führten viele afrikanische Länder generelle Behandlungsgebühren in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen ein. Auch in den allermeisten anderen Entwicklungs- und Schwellenländern mussten bzw. müssen Patienten in zunehmendem Maße selber für ihre Krankenversorgung aufkommen.

In ihrer viel beachtenden Strategiestudie Financing Health Services in developing countries: an agenda for reform forderte die Weltbank unter anderem eine deutliche Erhöhung der Nutzergebühren in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen. Sechs Jahre später unterstrich der Weltbank-Jahresbericht Investing in Health die Notwendigkeit von Nutzergebühren sowie einer Zweiklassenmedizin, da umfassende Leistungspakete aus öffentlichen Mitteln nicht für alle bezahlbar seien.

Dabei verfolgte die systematische Einführung von Nutzergebühren im Gesundheitswesen nach Auffassung ihrer BefürworterInnen im Wesentlichen drei Ziele: Generierung zusätzlicher Mittel zur Verbesserung der Krankenversorgung, Überwindung bestehender Ungerechtigkeiten beim Zugang zu Versorgungsleistungen und Kostendämpfung durch Effizienzsteigerung im Gesundheitswesen. Diese Annahmen standen ganz im Zeichen der neoklassischen Wirtschaftstheorie, die vornehmlich mikroökonomische Ansätze in der Logik individueller Nutzenmaximierung propagierte und in Entwicklungsländern in Form der Strukturanpassungsprogramme Einzug hielt. In der Gesundheitspolitik verdrängten zunehmend ökonomische Vorstellungen sozialpolitische Zielsetzungen, und es setzte sich das Denken in finanziellen Anreizsystemen zur Steuerung von Anbieter- und Nachfragerverhalten durch. Perfiderweise bezogen sich die Verfechter von user fees gleichzeitig explizit auf die Basisgesundheitsbewegung von Alma Ata und deren Forderung nach Dezentralisierung, Transparenz, Empowerment und Governance.

Das aktuelle WZB Discussion Paper versucht in erster Linie, die Studienlage an Hand der mittlerweile riesigen Zahl empirischer Untersuchungen über die Auswirkungen von Nutzergebühren im Gesundheitswesen von Entwicklungs- und Schwellenländern darzulegen. Dabei zeigen sich zum einen grundlegende Schwächen der theoretischen Begründungszusammenhänge, denn in die meisten ökonomischen Modellrechnungen so viele Annahmen und Einschränkungen ein, dass ihre Relevanz für die Versorgungsrealität fragwürdig ist.

Auf praktischer Ebene hat sich gezeigt, dass die erwünschten Effekte nur teilweise und in geringem Ausmaß eingetreten sind. Bei aller Heterogenität der vorliegenden Untersuchungen bleibt die Bilanz von Patientenzuzahlungen in Entwicklungsländern in Bezug auf die Systemstärkung und Nachhaltigkeit der Gesundheitsfinanzierung insgesamt hinter den Erwartungen zurück. Dieser Gesamteindruck verstärkt sich, wenn man die Studien jenseits formalwissenschaftlicher Kriterien oder ihres wirtschaftstheoretischen Ansatzes analysiert. So führten primär mikroökonomische Entwicklungsansätze in Form der Cost-Sharing-Politik zu grundlegenden, nachhaltigen Änderungen wie beispielsweise der Kürzung der Regelfinanzierung öffentlicher Leistungserbringer und weitergehenden sozialpolitischen bzw. wohlfahrtsstaatlichen Konsequenzen. Ohnehin stimmen etliche Analysen und Befunde unübersehbare mit weltbanknahen positiven Einschätzungen der meist kurzfristig verbesserten Versorgungsqualität überein oder reproduzieren die unbelegte Annahme, Nutzergebühren wirkten als Vorläufer von Krankenversicherungssystemen.
Aller anfänglichen Euphorie und rezidivierenden Befeuerung nachfrageseitiger Steuerungsideen im Gesundheitswesen zum Trotz hat die wachsende Erkenntnis eher bedenklicher als positiver Effekte von Behandlungsgebühren allerdings sowohl in Entwicklungs- und Schwellenländern als auch bei internationalen Organisationen mittlerweile kritische Positionen gegenüber Patientenzuzahlungen gestärkt. Insbesondere die unerwünschten Auswirkungen auf Arme sowie offenkundige Nachhaltigkeitsprobleme haben die Hürden für die Umsetzung einer Politik der Nutzergebühren erhöht. Die zunehmende Bedeutung von universeller Absicherung im Krankheitsfall als entwicklungspolitisches Ziel machten die Forderung nach Abschaffung von Patientenzuzahlungen zuletzt zu einem wichtigen Thema in der Entwicklungszusammenarbeit.
Im Zuge der dominierenden Debatte über Universal Health Coverage haben die KritikerInnen von Zuzahlungen in Entwicklungs- und Schwellenländern momentan Oberwasser in der entwicklungspolitischen Diskussion über die Gesundheitssystementwicklung und -stärkung in den armen Ländern dieser Welt. Soziale Sicherung und vor allem die Absicherung im Krankheitsfall stehen weit oben auf der internationalen Agenda. Doch zum einen ist die Vorstellung einer wirksamen und unschädlichen patientenseitigen Steuerung der Nachfrage nach Krankenversorgungsleistungen noch immer tief in vielen Köpfen verankert. Und zum anderen dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, wann das Pendel wieder umschlägt und die unkaputtbare Forderung nach Eigenbeteiligungen Oberhand gewinnt. Wer für diesen Fall und für immer wiederkehrende Diskussionen über Sinn und Unsinn von Nutzergebühren gewappnet sein will, der findet im Discussion Paper Direktzahlungen in der Krankenversorgung in Entwicklungs- und Schwellenländern: Ein Reforminstrument mit überwiegend negativen Wirkungen überaus reichhaltiges empirisches Material, hilfreiche Einordnungen, wichtige Denkanstöße und nicht zuletzt die vermutlich umfangreichste Literaturzusammenstellung zu dieser Thematik.

Jens Holst, 14.2.13


Produktionsverlagerungen ins Ausland und "zu hohe" Lohnnebenkosten? Aktuelle Industriedaten zur Verlagerung und Rückverlagerung

Artikel 2200 Die zum gesundheitspolitischen Standardrepertoire der Arbeitgeber und den ihnen nahestehenden Politiker und Wissenschaftler in Deutschland gehörende Lohnnebenkostendebatte suggeriert, insbesondere der Arbeitgeberanteil an den Sozialversicherungsbeiträgen sei so hoch, dass der "Wirtschaftsstandort Deutschland" kostenmäßig im internationalen Wettbewerb immer weniger bestehen könne. Unternehmen, die weiterexistieren wollen bliebe nichts anderes übrig, als ihre Produktion ins billigere Ausland zu verlegen. Die jahrzehntelange Welt- und Vizeweltmeisterschaft beim Export, die anders als bei vielen "Konkurrenten" Deutschlands seit Jahren stagnierenden Lohnstückkosten und nicht zuletzt die wiederum im internationalen Vergleich stabile aktuelle wirtschaftliche Situation zeigen, dass in der Lohnnebenkostendebatte zum Teil mit falschen Karten gespielt wird. Trotzdem zeigt die Debatte Wirkung, d.h. der Arbeitgeberbeitrag zu GKV-Beiträgen ist seit Jahren eingefroren, die Lohneinkommen bewegen sich insgesamt seit über 10 Jahren nur so leicht nach oben, dass EZB wie OECD darin eine Gefahr für die konjunkturelle Entwicklung in Europa sehen und der Anteil dauerhafter Niedriglohneinkommen aus "atypischer Beschäftigung" verfestigt sich auf relativ hohem Niveau immer mehr.

Über die Wirklichkeit der Abwanderung von Arbeitsplätzen aus Deutschland in Niedriglohnländer gibt die aktuelle Ausgabe einer vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) und der Hochschule Karlsruhe im Auftrag des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) durchgeführten Erhebung "Produktionsverlagerungen und Auslandsproduktion" bei maximal 1.600 Betrieben der Metall- und Elektroindustrie (M & E) und des Verarbeitenden Gewerbes (VG) Auskunft.

Danach ergibt sich folgendes Bild:

• Der Anteil der Betriebe der M & E-Industrie, die zwei Jahre vor der Befragung eine Verlagerung realisiert hatten, stieg von 17% im Jahr 1995 auf ein Maximum von 27% im Jahr 1999. Von diesem Jahr an nahm der Anteil von Betrieben mit Verlagerungen ins Ausland, abgesehen von einem Zwischenhoch von 25% im Jahr 2003, kontinuierlich auf 11% im Jahr 2012 ab.
• Dieser Anteil sank im VG in den Jahren 2006 bis 2012 von 15% auf 8%.
• Zu den Gründen dieser Produktionsverlagerungen zählten bei 72% der Produktionsverlagerer vor allem die Personalkosten. Der zweitwichtigste Grund waren bei 29% die Markterschließung und bei 26% die Kundennähe.
• Der Anteil der M & E-Betriebe, die zwei Jahre vor der Befragung ihre ausgelagerten Betriebe wieder nach Deutschland zurückverlagerten, schwankte schon immer zwischen 4% und 6%. Bei insgesamt geringerer Verlagerung stabilisierte sich der Anteil der rückverlagernden Betriebe auf 2% bis 3%.
• In den Jahren 2006 bis 2012 verlagerten ebenfalls 2% bis 3% aller VG-Betriebe ihre ausländischen Produktionsstandorte wieder zurück. Als Gründe für diese Rückverlagerung gaben diese Betriebe Flexibilitätseinbußen (59 %) und Qualitätsprobleme (52 %) an den ausländischen Standorten an.

Auch wenn die Gründe für Rückverlagerungen sicherlich noch etwas komplexer sind (z.B. Anstieg der Lohnkosten in den lange beliebten südosteuropäischen Ländern), erweist sich das "Gespenst" des Arbeitsplatzexportes auch als weniger fürchterlich als es die Protagonisten eines weiteren Abbaus der Lohnnebenkosten erscheinen lassen wollen.

Dabei bleibt noch völlig unberücksichtigt, dass Lohnkosten in der M & E-Industrie oder im VG nur noch durchschnittlich 20%der Gesamtkosten ausmachen, also z.B. die gesamten GKV-Arbeitgeberbeiträge nur noch mit höchstens 1% zu den Gesamtkosten beitragen.

Die Ergebnisse der Befragung sind am 18.12.2012 unter dem Titel ""made in Germany" oder Niedriglöhne? Produktionsverlagerung und Auslandsproduktion. Produktionsverlagerungen auf niedrigstem Stand seit 18 Jahren" veröffentlicht worden. Kostenlos erhältlich sind die Presseerklärung und eine Grafikpräsentation.

Bernard Braun, 31.12.12


Verborgene Kosten des Gesundheitssystems der USA. 15,4% aller Kosten sind unbezahlte gesundheitsbezogene Tätigkeiten

Artikel 2192 Die vom "National Health Expenditure Accounts (NHEA)" für die USA veröffentlichten Gesundheitsausgaben betrugen im Jahr 2010 2,6 Billionen US-Dollar und entsprachen damit 17,9% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der USA. Damit wurden pro Kopf der Bevölkerung rund 8.402 US-Dollar ausgegeben. Für die nächsten Jahre wird eine jährliche Zunahme dieser Kosten um 5,8% geschätzt. Dies würde über dem geschätzten jährlichen gesamtwirtschaftlichen Wachstum von 1,1% liegen und zur Folge haben, dass 2020 4,6 Billionen US-Dollar für Gesundheit ausgegeben werden, was dann 19,8% des BIP entspräche.

Es mag an der Größe dieser Zahlen liegen, dass sowohl in den USA als in anderen Ländern die Gesundheitsausgabenrechnung hier endet oder nicht sehr differenziert weitergeführt wird. Dass weitere gesundheitsbezogene Ausgaben in nicht unerheblichem Umfang existieren und welche Aufwendungen dazu im Einzelnen gehören, hat nun das "Deloitte Center for Health Solutions" ebenfalls für das Jahr 2010 berechnet. Deloitte ist eines der vielen weltweit aktiven großen Wirtschaftsprüfungsunternehmen, die sich immer intensiver für die Gesundheitssysteme als bereits jetzt relativ großem und vermutlich weiter wachsenden Wirtschaftsbereich interessieren.

Berücksichtigt man sämtliche anderen gesundheitsbezogenen Ausgaben, erhöht sich der Gesamtbetrag um 23,9% auf 3,2 Billionen oder 10.392 US-Dollar pro Kopf der Bevölkerung. Dies sind bereits 22% des BIP.
Welche Arten von Gütern, Dienstleistungen etc. zu den im weiteren Sinne verstandenen Gesundheitsausgaben gehören und welche Anteile einige Ausgabenblöcke haben, ist den folgenden Angaben zu entnehmen:

• So genannte notwendige oder nicht ermessensartige ("non-discretionary") Ausgaben für professionelle Behandlung durch diverse Ärzte (26% aller Ausgaben) und Kliniken (25%) und Arzneimittelausgaben (8%) umfassen 60% aller Gesundheitsausgaben. Darunter befinden sich aber auch Wahlleistungen wie beispielsweise Tests, die als nicht notwendige Leistungen betrachtet werden könnten.
• Mit den restlichen 40% werden die Langzeitpflege, die direkten administrativen Ausgaben, die Ausgaben für Medizinprodukte wie Nahrungsergänzungsmittel oder Gesundheitspublikationen und vor allem auch die so genannte "supervisory care" bezahlt. Mit letzterem ist die meist unbezahlte, aber für diese Analyse der verborgenen Kosten monetarisierte Behandlung und Pflege von Familienmitgliedern oder anderen Gemeindeangehörigen für schwer erkrankte Angehörigen oder MitbürgerInnen gemeint. Monetarisiert bedeutet, dass ein Betrag berechnet wird, der für professionelle Pflege etc. aufgebracht werden müsste, wenn es diese unbezahlten Tätigkeiten bzw. HelferInnen nicht gäbe.
• 479 Milliarden US-Dollar, d.h. 79% der über die NHEA-Ausgabenwerte hinausgehenden verborgenen Ausgaben oder 15,4% aller Gesundheitsausgaben werden für die "supervisory care" ausgegeben. Dabei handelt es sich um mehr als das Dreifache was z.B. für Pflegeheime oder ambulante Heimpflege aufgebracht wird. Der Großteil dieser Ausgaben entfiel auf die Behandlung/Pflege von Individuen, die in Familien mit niedrigem Einkommen oder in Zwei-Personen-Familieneinheiten lebten und meistens zur Gruppe der Senioren gehörten. Die Schlussfolgerung der Verfasser der Deloitte-Studie lautet daher auch: "The hidden burden of supervisory care is substantial and has significant implications for employers, consumers, and the health care sector."
• Für die Gesamtcharakteristik des US-Gesundheitswesens ist schließlich Folgendes interessant: 40% der für 2010 geschätzten Gesamt-Gesundheitsausgaben von 3,2 Billionen US-Dollar sind durch Medicare, Medicaid und weitere staatliche Versicherungen steuerfinanziert, private Krankenversicherungen bezahlten für 27% aller Ausgaben und so genannte "out-of-pocket"Zuzahlungen machten 13% aller Ausgaben aus. Dies unterstreicht plastisch, dass auch das us-amerikanische Gesundheitswesen keineswegs ein dominant privatwirtschaftlich finanziertes und organisiertes ist, sondern wie viele andere Systeme Hybridcharakter besitzt.
• Der Anteil der direkten Verwaltungsausgaben an den Gesamt-Gesundheitsausgaben beträgt 2010 mit 408 Milliarden US-Dollar rund 12,8%.

Der Bericht enthält noch zahlreiche andere, zum Teil neue oder auch nur neu zusammengestellte Informationen zu den offenen und verborgenen Kosten des US-Gesundheitssystems. Vor allem der Versuch, die von den Versicherten, Patienten und ihrem sozialen Umfeld erbrachten gesundheitsbezogenen Ausgaben als verborgene Kosten geldwert darzustellen, verdient angesichts der ständigen Rufe im deutschen Gesundheitswesen nach "mehr Eigenverantwortung" sprich höherer finanziellen Beteiligung, besondere Beachtung. Nachahmung ist dringend empfohlen!!!

Der 26 Seiten umfassende Bericht "The hidden costs of U.S. health care: Consumer discretionary health care spending" von Paul H. Keckley, Sheryl Coughlin und Leslie Korenda ist komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 17.12.12


Warum selbst Arbeitgeber im Moment nicht so richtig über die Last zu hoher Lohnnebenkosten durch die Sozialversicherung klagen ?

Artikel 2187 Eine Triebkraft der jetzt schon mehrere Jahre geführten Debatte über die wirtschaftliche und soziale Zukunft von Griechenland, Portugal, Spanien und Italien, für die Aussichten der diversen Rettungsschirm- und Schuldensschnittprogramme, für die Zukunft des Euro, und der aktive Beitrag Deutschlands zu dieser Entwicklung, ist der bereits mehr als 10 Jahre alte Sonderweg der deutschen Lohnstück- und Arbeitskosten.
Dadurch, dass sie im EU-Vergleich auf einem leicht überdurchschnittlichen Niveau am langsamsten wachsen, erhalten und verbessern sie zum einen die Wettbewerbsfähigkeit und Exportmacht deutscher Unternehmen. Diese Entwicklung verschlechtert dann andererseits die schon traditionell nicht besonders starke Wettbewerbsposition u.a. der genannten Ländervolkswirtschaften, aber auch die Einnahmen der einkommensbasierten deutschen Sozialversicherungsträger und last not least die Binnen- oder Konsumnachfrage in Deutschland.

Die diese Position bestätigenden Daten liefert anschaulich der im November 2012 erschienene Report 77 des "Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK)" in der Hans-Böckler-Stiftung.
Die wichtigsten Erkenntnisse lauten:

• "In Deutschland kostete 2011 eine Arbeitsstunde in der Privatwirtschaft 30,1 Euro. Damit liegt Deutschland im europäischen Vergleich weiterhin an siebter Stelle. Im Dienstleistungssektor kostete die Arbeitsstunde 20 % weniger als im Verarbeitenden Gewerbe. In keinem anderen EU-Land ist dieser Rückstand so gross." Dieses Tiefstniveau bei Dienstleistungssektor-Einkommen trägt selbst in den Berechnungen des arbeitgebernahen "Instituts der deutschen Wirtschaft (IW)" zum extrem günstigen Kostenniveau der Vorleistungen z.B. in der verarbeitenden Industrie bei. Während das IW den direkten Kostenvorteil im Jahr 2011 auf 5,8% oder 2,05 Euro pro Stunde schätzt, spart das verarbeitende Gewerbe, also eine Stütze der Exportstärke durch das Preisniveau der gesamten Vorleistungsproduktion fast 13%.
• Das IMK weist zu Recht darauf hin, dass mit den niedrigen Einkommen im Diestleistungsbereich nicht nur die gegenwärtige Einkommenssituation vieler dort Beschäftigter schlecht ist und ihre Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung relativ niedrig sind. Die Kehrseite ihres Beitrags zur Wettbewerbsfähigkeit der heutigen Unternehmen sind drohende Niedrigstrenten und geringe Krankenversicherungsbeiträge.
• "In Deutschland stiegen seit Beginn der Währungsunion Arbeitskosten und Lohnstückkosten also die Kosten im Verhältnis zur Produktivitätsentwicklung nur wenig. Dies lähmte die Binnennachfrage und schadete den sozialen Sicherungssystemen."
Eine der Schlussfolgerungen und Ratschläge der traditionell nachfrageorientierten Oekonomen des IMK lautet daher, die Lösung der heutigen wirtschaftlichen und sozialen Probleme nicht allein den europäischen Ländern zu überlassen, die u.a. Opfer des Wettbewerbsvorteils a la Deutschland geworden sind. Um diese jemals vom Dauertropf der Rettungsschirmen oder der EZB-Hilfen loszubekommen und drohende soziale Schieflagen in der eigenen Zukunft frühzeitig zu vermeiden, schlägt das IMK dagegen vor: "Um die Leistungsbilanzungleichgewichte im Euroraum schneller abzubauen und die Anpassung in den Krisenländern zu erleichtern, müssen die deutschen Löhne über etliche Jahre um mehr als 3 % zulegen."

Der 22 Seiten umfassende faktenreiche IMK-Report "Zu schwache deutsche Arbeitskostenentwicklung belastet Europäische Währungsunion und soziale Sicherung. Arbeits- und Lohnstückkosten in 2011 und im 1. Halbjahr 2012" von Ulrike Stein, Sabine Stephan und Rudolf Zwiener ist komplett kostenlos erhältlich.

Zum Schluss: Keine Sorge, dass sich an der relativen Ruhe an der Mythenfront über zu hohe Lohnnebenkosten bereits bei der ersten Absatzkrise alles schlagartig ändert.

Bernard Braun, 3.12.12


Die Tücken des Wettbewerbs: Sondergutachten 2012 des Gesundheits-Sachverständigenrates

Artikel 2145 Ende Juni 2012 legte der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR-G) Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr sein Sondergutachten 2012 vor, das sich dem Wettbewerb an der Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Gesundheitsversorgung widmet. Zwar sieht nicht nur die FDP in der Einführung von immer mehr Marktelementen im Gesundheitswesen den entscheidenden gesundheitspolitischen Ansatzpunkt, aber unverkennbar drückt die diesjährige Themenstellung die Prioritätensetzung des FDP-Gesundheitsministers aus. So erklärte Bahr bei der Vorstellung des Sondergutachtens 2012, das Thema des Gutachtens habe gerade aus liberaler Sicht große Bedeutung. Er betrachtet das von ihm selbst in Auftrag gegebene SVR-Gutachten denn auch als Bestätigung für den gesundheitspolitischen Kurs der derzeitigen Regierung insgesamt und nicht zuletzt seines eigenen Ministeriums, mehr wettbewerbsorientierte Elemente im Gesundheitswesen zu etablieren. Das stand schließlich schon im Koalitionsvertrag, dessen gesundheitspolitisch relevante Passagen hier nachzulesen sind. Im Forum Gesundheitspolitik hatten wir bereits in einemfrüheren Beitrag den Koalitionsvertrag analysiert.

Als notwendige Voraussetzungen für einen sinnvollen Wettbewerb im Gesundheitswesen fordern die Gutachter echte Wettbewerbsoptionen sowohl für Kostenträger als auch für Leistungserbringer, eine quantitativ und qualitativ hinreichende personelle Ausstattung auf der Versorgungsebene sowie die Fähigkeit von Versicherten bzw. Patienten, im Rahmen des bestehenden Wettbewerbs qualifizierte Wahlentscheidungen treffen zu können. Konkrete Konzepte und Vorschläge unterbreiten sie zum Schnittstellenmanagement, zum Qualitätswettbewerb und zu den erforderlichen wettbewerblichen Rahmenbedingungen in der sektorenübergreifenden Versorgung. Als wesentliche Zielsetzungen benennen sie dabei Effektivitäts- und Effizienzverbesserungen im Gesundheitswesen. Zudem hat sich der Sachverständigenrat im Sondergutachten 2012 mit Selektivverträgen beschäftigt und ist dabei der Frage nachgegangen, inwieweit die bestehenden Rahmenbedingungen einen funktionsfähigen Wettbewerb zulassen und welche Leistungsbereiche sich für die Weiternetwicklung selektivvertraglicher Arrangements anbieten. Außerdem behandelt das Gutachten mögliche Wechselwirkungen, die sich aus dem Verhältnis von Preis- und Qualitätswettbewerb im Leistungsbereich auf der einen und dem Zusatzbeitrag in der gesetzlichen Krankenversicherung auf der anderen Seite ergeben können. Hier verfolgt der Sachverständigenrat in erster Linie die Vorstellung den Qualitätswettbewerb im Leistungsbereich als gleichgewichtige Säule neben dem Preiswettbewerb zu etablieren und zu fördern.

Wie die meisten Gutachten des SVR-G bietet auch das diesjährige Sondergutachten eine gute Bestandsaufnahme der aktuellen gesundheitspolitischen Agenda und hat allein deshalb einen hohen Gebrauchswert, auch wenn man nicht mit allen Analysen und Schlussfolgerungen einverstanden sein muss. Fragwürdig ist z. B. die im Gutachten postulierte Messung der allokativen Effizienz des Gesundheitswesens anhand der Relation von gesundheitlichen Outcomes zu den volkswirtschaftlichen Kosten, ein von Gesundheitswissenschaftlern seit je her stark bezweifelter Indikator. Auch muss man sich fragen, welchen Nutzen die langatmigen, über 30 Seiten umfassenden Ausführungen zu den Auswirkungen des § 116 b SGB V (ambulante spezialfachärztliche Versorgung) auf Basis einer überholten Rechtslage haben sollen. Dennoch bietet das Gutachten einen sehr guten Überblick zu den Diskussionen über so wichtige Themen wie das Wettbewerbs- bzw. Kartellrecht und das Vergaberecht in der GKV oder den Anforderungen an Umfang, Struktur und Qualifikation der Beschäftigten im Gesundheitswesen. Auch die den gesundheitsökonomischen Diskurs seit jeher bestimmenden Informationsasymmetrien auf Gesundheitsmärkten werden mitsamt der daraus folgenden Notwendigkeit von Informations- und Beratungssystemen für Versicherte und Patienten angemessen thematisiert. Unterm Strich macht das Gutachten deutlich, welche Probleme mit dem Wettbewerb im Gesundheitswesen verbunden sind und mit welchen besonderen Komplikationen das deutsche Gesundheitssystem in dieser Hinsicht aufwartet. Eine systematische Debatte über die Grenzen des Wettbewerbs in der GKV vermeidet der SVR-G allerdings.

Das wird besonders deutlich in dem wohl interessantesten achten Kapitel des Gutachtens über die Auswirkungen des Zusatzbeitrages auf den Kassenwettbewerb (Ziffern 487 ff. bzw. S. 387ff). Der SVR-G präsentiert eine sehr gute Bestandsaufnahme der vorhandenen empirischen Erkenntnisse zu den Wettbewerbsparametern des GKV-Systems sowie dem Verhalten von Versicherten und Kassen und liefert über eigene Erhebungen neue Informationen. Demnach orientieren sich die Kassen nach wie vor am Preis- und nicht am Qualitätswettbewerb. Das sei, so der Rat, zwar bedauerlich, aber ökonomisch rational, weil der Beitragssatz für die Versicherten eine sehr viel transparentere Größe sei als die schon für Experten schwer messbare Versorgungsqualität. Ein größerer Teil der Versicherten möchte sich am liebsten gar nicht mit dem Thema Krankenversicherungsschutz beschäftigen und begegnet "neuen Wahlmöglichkeiten mit Verunsicherung und Skepsis bis hin zu genereller Ablehnung." (Ziffer 499) Zwischen 2000 und 2009 wechselten im Schnitt 5 % der Versicherten pro Jahr die Versicherung, fast ausschließlich wegen des Beitragssatzes. Dieser Effekt hat sich ab 2010 durch den Zusatzbeitrag zugespitzt. Seitdem waren 90 % der gesamten Netto-Mitgliederverluste bei Kassen mit einem Zusatzbeitrag zu beobachten, die zwischen 9,6 und 28,2 % ihrer Mitglieder verloren. Die Wechselwahrscheinlichkeit liegt bei Kassen ohne Zusatzbeitrag bei 3,5 %, bei solchen mit Zusatzbeitrag bei 10 %. Der SVR-G nennt drei Gründe für diese Wirkung (Ziffer 512):
• Die Versicherten tragen den Zusatzbeitrag allein.
• Er wird nicht automatisch vom Arbeitgeber eingezogen und die Versicherten müssen ihn gesondert zahlen.
• Absolute Beträge wirken stärker als prozentuale.

Die Kassen betreiben vor diesem Hintergrund nach Feststellung des SVR-G eine Schatzbildung zur Risikoabsicherung: "Einige Kassen verfügen über derart hohe Rücklagen, dass sie vermutlich noch über das Jahr 2013 hinaus einen Zusatzbeitrag vermeiden können." (Ziffer 521) Der Zusatzbeitrag führt demnach zu einer Behinderung eines auf die Verbesserung der medizinischen Versorgung abzielenden Wettbewerbs, da die Kassen ihre Überschüsse lieber zur Vermeidung eines Zusatzbeitrages bunkern und überdies risikoscheuer bezüglich Investitionen in neue Versorgungsformen werden. Merkwürdigerweise sieht der SVR-G trotz dieser Erkenntnisse keine Notwendigkeit, den Zusatzbeitrag anders zu gestalten, geschweige denn, ihn abzuschaffen. Wie aber soll dann die von ihm geforderte verstärkte Orientierung des Kassenwettbewerbs auf die Versorgungsqualität zustande kommen? Darauf gibt er keine wirklich befriedigende Antwort. Oder möchte er nur seinen Auftraggeber nicht verprellen?

Das Sondergutachten Wettbewerb an der Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Gesundheitsversorgung steht auf der Homepage des Sachverständigenrates} als Langfassung sowie als Kurzfassung kostenfrei zum Download zur Verfügung.

Hartmut Reiners, 22.7.12


Langzeitstudie zu Diabetes-Kosten 2000-2009: Konstant und zunehmend zugleich!?

Artikel 2130 Langzeitstudien über den Verlauf von Krankheiten, das Leben von Kranken, ihre Behandlung und die dabei entstehenden Kosten sind selbst für häufige Krankheiten eher selten. Umso interessanter sind die Ergebnisse der mittlerweile seit 2000 durchgeführten so genannten KoDiM-Studie (Kosten des Diabetes mellitus Studie). Deren Erkenntnisse werden durch eine Sekundäranalyse der Daten einer 18,75%igen Zufallsstichprobe der Versicherten der AOK Hessen gewonnen. Diese Stichprobe umfasste im Jahr 2000 316.905 und im Jahr 2009 noch 260.658 durchgängig Versicherte. Die Kostenanalysen schließen die direkten Kosten der Behandlung einer Diabeteserkrankung und die direkten Exzess-Kosten ein. Die Exzess-Kosten sind die Kosten, die einem Versicherten zusätzlich aufgrund seiner Diabeteserkrankung entstehen.

Eine aktuelle Auswertung der Daten für den Zeitraum 2000 bis 2009 durch die PMV-Forschungsgruppe an der Uniklinik Köln zeigt:

• Die individuellen Kosten pro Diabetiker sind in diesem Zeitraum weitestgehend konstant blieben. Ein durchschnittlicher Diabetiker verursacht die 1,8-fachen Kosten im Vergleich zu einem Nicht-Diabetiker. Dieser Wert blieb über den gesamten Zeitraum unverändert. Bereinigt um Inflation und demographische Effekte schwankten die Kosten im 10-Jahres-Zeitraum zwischen 2.600 und 2.900 Euro. Alters- und inflationsbereinigt stiegen die Kosten der Diabetespatienten von 2000 bis 2009 um 27,9%.
• Die Gesamtkosten stiegen trotzdem, und zwar weil die Zahl der behandelten Diabetiker innerhalb von zehn Jahren um 49 % angestiegen ist. Eine Hochrechnung auf Gesamtdeutschland zeigt eine Zunahme der Prävalenz von Diabetes um 18 % allein aufgrund der Alterung der Bevölkerung. Im Jahr 2000 wurden noch 5,36 Millionen Menschen wegen ihres Diabetes behandelt. Ihre Anzahl stieg auf 7,95 Millionen im Jahr 2009. Der Anstieg fiel bei Männern (plus 57 %) stärker aus als bei Frauen (plus 40 %). Die höchsten Steigerungsraten verzeichnete die Altersgruppe ab 60 Jahren. Nach den PMV-Berechnungen ist die Alterung der Bevölkerung zu 18 Prozent für die Zunahme der Erkrankungszahlen verantwortlich. Die restlichen 31 % Steigerung beruhen nach Meinung der ForscherInnen ("kann nur spekuliert werden") auf Risikofaktoren wie Übergewicht und Bewegungsmangel, aber auch auf einer erhöhten Aufmerksamkeit für die Erkrankung und deren besseren Dokumentation im Rahmen der seit 2004 existierenden Disease Management Programme ("administrative Prävalenz").
• Da AOK-Versicherte eine überdurchschnittliche Diabetesprävalenz aufweisen und diese nachweisbar auch regionsspezifisch variiert, könnten die KoDiM-Daten die Kostenlast der Diabeteserkrankungen etwas überschätzen.

Der Aufsatz "Fortschreibung der KoDiM-Studie: Kosten des Diabetes mellitus 2000 - 2009." von Ingrid Köster, Eduard Huppertz und Ingrid Schubert ist in der "Deutschen Medizinischen Wochenschrift" (2012, 137: 1013-1016) erschienen. Kostenlos ist lediglich das Abstract erhältlich.

Bernard Braun, 7.6.12


Angriff der Refeudalisierer

Artikel 2075 Den Heuschrecken und neuen Weltherrschern ist das bisher Erreichte offenbar noch lange nicht genug. Anders kann man die Warnung der Ratingagentur "Standard & Poors" nicht verstehen, steigende Gesundheitsausgaben gefährdeten in näherer Zukunft die Kreditwürdigkeit der Industrieländer. Das Deutsche Ärzteblatt macht in seiner Meldung Gesundheitskosten gefährden Rating der stärksten Wirtschaftsnationen vom 1. Februar 2012 auf diese Einmischung externer Mächte in innere Angelegenheiten eigentlich souveräner Staaten aufmerksam.

Seit Langem sind Ratingagenturen in der Kritik, im Dienste von Partialinteressen gerade die europäischen, aber auch andere Staaten vor sich ehr zu treiben. Ratingagenturen agieren als flankierende Maßnahmen einer völligen Entfesselung des globalen Finanzkapitals, das Staaten nach Belieben vor sich her treibt und damit die Macht der neuen Weltherrscher festigt. Hinter Worthülsen wie den ach so empfindlichen Märkten und dem ständigen Verweis auf Sparzwänge verbirgt sich nicht anderes als die Neuordnung der Machtverhältnisse. Bei dieser Refeudalisierung spielen das Finanzkapital und vor allem seine RepräsentantInnen eine führende Rolle und hebeln systematische alle Formen von Mitbestimmung, Partizipation und Demokratie aus. Der sehr lesenswerte Artikel Demokratie? Bin ich nicht für zuständig von Harald Welzer, dem Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen aus dem Berliner Tagesspiegel beschreibt treffend die Lage sowie die vorherrschende Reaktion.

Im Dienste der neuen Gesellschaftsstruktur und der systematischen Umverteilung von unten nach oben stehen auch die Aufforderungen von S&P zum forcierten Sozialabbau:
• Vereinfachung der Gesundheitssysteme durch breitere Anwendung von Technologie, Kostendämpfung bei medizinischen Verordnungen und Verhinderung von Missbrauch
• Veränderung des Verhältnisses zwischen dem öffentlichen und privaten Sektor bei Finanzierung und Versorgung - gemeint ist dabei natürlich eine Verlagerung zu privater Bezahlung und Leistungserbringung
• Verringerung des Umfangs und der "Großzügigkeit" der Absicherung - im Klartext: Zusammenstreichen des Leistungspaketes.

Insgesamt keine wirklich neuen Vorschläge, sondern der übliche Einheitsbrei aus mikroökonomischer Denkweise - allerdings unterlegt mit der massiven Androhung unüberwindlicher Verschuldung. Vereinfachung - gerne auch als Bürokratieabbauverkauft wie jüngst von der Unternehmensberatung A.T. Kearney, wie kürzlich hier im Forum berichtet - wünschen sich alle, Abbau des üblicherweise massiv überschätzten Missbrauchs ebenso; ob Technologie wirklich hilft, Kosten zu sparen, erscheint eher zweifelhaft, zumal ja auch bestimmte Player damit verdienen wollen. Die Forderung nach Privatisierung des Gesundheitswesens gehört ebenfalls zum Standardrepertoire neoklassischer ÖkonomInnen, die sich entweder halsstarrig der Einsicht verweigern, dass privat organisierte Systeme nicht zur Absicherung der gesamten Bevölkerung taugen, oder dies auch gar nicht als Ziel von Gesundheitssystemen anerkennen. Und - last but not least - Leistungskürzung, ausgehend von gefühlten Wahrnehmung privilegierter Kreise, die soziale Absicherung in Europa, Japan, Kanada oder anderen Industrieländern außen den USA sei eh viel zu großzügig. Der Testlauf für die massive Reduzierung des Umfangs der sozialen Absicherung im Krankheitsfall ist zurzeit Griechenland, das aufgrund der "Sparzwänge" die erworbenen Ansprüche seiner BürgerInnen nicht mehr befriedigen darf.

Kein Wunder übrigens, dass S&P natürlich von den üblichen Mythen und Halbwahrheiten, die insbesondere, aber keineswegs ausschließlich VertreterInnen der wirtschaftswissenschaftlichen Zunft ebenso unaufhörlich wie unbegründet verbreiten. So ist in Abb. 1 des S&P-Berichts ein gigantischer Anstieg der Gesundheitsausgaben aufgrund der Alterung der Bevölkerung zu erkennen. Dahinter stehen vor allem Wunschdenken oder Panikmache, aber keinerlei belastbare Empirie, wie hier im Forum bereits mehrfach aufgezeigt, wie z.B. in dem Beitrag Medikalisierung vs. Kompression: Künftiger Anstieg der Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben im Alter deutlich überschätzt.

S&P arbeitet zudem mit falschen Zahlen, vermutlich aus purem Unwissen, die bei der weit verbreiteten Ignoranz von US-AmerikanerInnen bzgl. europäischer Sozialsysteme und öffentlicher Verantwortlichkeiten auch nicht wirklich überrascht. So setzn die AutorInnen des Berichts offenbar öffentliche und gesamte Gesundheitsausgaben, denn sie sehen für Deutschland im Jahr 2050 einen Anstieg von heute 6,3 % auf 11,1 % des Bruttoinlandsprodukts voraus - gehen also offenbar von den aktuellen GKV-Ausgaben aus. Oder betrachten sie die privaten Gesundheitsausgaben, also die Beiträge zur Privatversicherung und Selbstbeteiligungen bzw. Zuzahlungen - nicht als Teil des heraufziehenden Finanzierungsproblems.

Die Politik hat immer noch nicht begriffen oder will nicht begreifen, woher die Angriffe auf die freiheitliche deutsche Grundordnung kommen. S&P und seine Anhänger in Deutschland sind ein Fall für den Verfassungsschutz, denn ihre Politik zielt auf die Aushöhlung des Grundgesetzes, in erster Linie der Eigentumsverpflichtung in Art. 14 - Abs. (2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen - und des Sozialstaatsgebots laut Art. 20 - Abs. (1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Anstatt sich in der gegenseitigen Unterwanderung der rechtsradikalen Szene zu verheddern und VolksvertreterInnen der Linken und vermutlich anderer Parteien zu überwachen, sollten Verfassungsschützer ihre Aufmerksamkeit auf die wahren Feinde von Demokratie und Grundgesetz konzentrieren.

Als erstes Anschauungsmaterial empfehlen wir dem Verfassungsschutz die Lektüre des S&P-Berichts Mounting Medical Care Spending Could Be Harmful To The G-20's Credit Health steht im Prinzip kostenlos zur Verfügung, erfordert aber eine vorherige Registrierung.

Jens Holst, 2.2.12


Windchill-Effekt auch bei der Bürokratie wirksam

Artikel 2073 Nun haben wir es endlich schwarz auf weiß: Die gefühlte Bürokratie-Belastung niedergelassener ÄrztInnen in Deutschland ist hoch, sehr hoch sogar, und allemal zu hoch. Das ist das einzige verwertbare Ergebnis einer im Dezember 2011 mit großem Brimborium lancierten Untersuchung "Deutsches Gesundheitssystem auf dem Prüfstand. Kostenfalle Komplexität" der Unternehmensberatungsfirma A.T. Kearney.

Die einschlägige Presse griff die Botschaften der Unternehmensberater dankbar auf. Der Spiegel titelt am 31. Dezember Im Gesundheitssystem versickern Milliarden und legt am 2. Januar mit Bürokratie treibt Kosten nach. Die Welt übernimmt ebenfalls am Silvestertag in ihrem Beitrag Bürokratie macht Viertel der Gesundheitskosten aus unreflektiert die Aussagen der Unternehmensberater-Agentur, und das Handelsblatt zieht den überraschenden Schluss Gesundheitswesen kostet mehr als gedacht, der sich nur daraus erklären lässt, dass mensch entweder vorher falsch gedacht hat oder die von A.T. Kearney angeführten Zahlen glaubt, die beiden Gesamtausgaben interessanterweise etwa 25 Milliarden über denen des Gesundheitsministerium liegen. Die Ärztezeitung widmet sich dem Thema erstmalig zum Neujahrstag mit ihrem Beitrag Lebt das Bürokratie-Monster in der GKV? und legte am 5. Januar in Bürokratie im Orkus nach, wo auch Bundesärztekammerpräsident Montgomery die Möglichkeit zu einer überflüssigen Stellungnahme im Dienste der Standesorganisationen und -vertreterInnen erhält: "Wir begrüßen es außerordentlich, dass einmal mehr auf die absoluten Missstände der Bürokratisierung des Gesundheitswesens hingewiesen wird".

Was war geschehen? Was war der Grund für einen derartigen Presserummel? Eigentlich nichts, außer vielleicht ein wenig heiße Luft. Eine Unternehmensberatungsfirma, die bisher nicht im Verdacht steht, über nennenswerte Expertise im Bereich Gesundheit zu verfügen, hatte im Auftrag einer ganz bestimmten Gruppe niedergelassener ÄrztInnen eine Umfrage gestartet, um herauszufinden, wie viel bürokratischen Aufwand die Leistungserbringer im deutschen Gesundheitswesen zu bewältigen haben bzw. zu bewältigen haben fühlen. Zwischen Juni und August 2011 führte A.T. Kearney mit Unterstützung des Online-Portals facharzt.de des Ärztenachrichtendienste eine deutschlandweite Umfrage unter 6.000 LeistungserbringerInnen durch, die in unmittelbarem Kontakt mit PatientInnen stehen. Zur Validierung der Befragungsergebnisse erfolgten "vertiefende Arbeitsverteilungsanalysen" und die pekuniäre Quantifizierung des Verwaltungsaufwandes.

Nach den Berechnungen von A.T. Kearney hätten 2010 die Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland einschließlich der Patientenzuzahlungen insgesamt 181 Milliarden Euro betragen; nach Abzug der GKV-Nettoverwaltungskosten und sonstiger Ausgaben seien nach Angabe von A.T. Kearney 165, aber unter Einbeziehung der im Übrigen mit nicht unerheblichem Verwaltungsaufwand behafteten Selbstbeteiligungen 170 Milliarden Euro angefallen. Das von A.T. Kearney ermittelte Datenmaterial habe zusätzlich ergeben, dass abweichend von offiziellen Zahlen über die genannten" 9,5 Milliarden Euro Verwaltungsausgaben der Krankenkassen hinaus "durch die GKV verursachte Verwaltungsaufwände bei den Leistungserbringern" entstünden und insgesamt von einem Gesamtverwaltungskostenaufwand von 40,4 Milliarden Euro auszugehen sei. Denn der Anteil des GKV-induzierten Verwaltungsaufwands auf Seiten der Leistungserbringer belaufe sich auf insgesamt 18 Milliarden Euro.

Nach Selbsteinschätzungen der von A.T. Kearney befragten Leistungserbringer könnte man mindestens 50 % ihrer durch die gesetzlichen Krankenkassen induzierten Verwaltungsaufwände und -kosten durch eine "gezielte Verschlankung des Gesundheitssystems" einsparen. Bezogen auf die zuvor durch A.T. Kearney ermittelten gesamten "GKV-induzierten Verwaltungskosten" kam das Beratungsunternehmen auf ein effektives "Kostenreduktionspotenzial" von 13 Milliarden Euro alleine für 2010. Schuld an all der gefühlten Verschwendung sind die so genannten "Komplexitätstreiber" im Gesundheitswesen, was immer das sein mag.

Die "Studie" von A.T. Kearney beglückt das geneigte Publikum und überrascht die Fachleute schließlich mit "Optimierungsvorschlägen", die so neu sind wie die Gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland, so phantasievoll wie man es eben von primär betriebswirtschaftlich denkenden BeraterInnen erwarten kann, so praxisrelevant wie die Steinzeitmedizin oder so unklar wie die Weltformel:
•Anzahl der Akteure: Reduzierung der Anzahl gesetzlicher Krankenkassen und Kassenärztlicher Vereinigungen
•Anzahl der Produkte und Dienstleistungen: Zweckmäßige Reduzierung der Anzahl von Produkten
•Nicht aufeinander abgestimmte Prozesse: Zielgenaue Verwaltung und Begleitung von Prozessen
•Mangelhafte Organisationsstrukturen: Verschlankung von Kommunikationsprozessen
Unterschiedlichste IT-Systeme: Vereinheitlichung im Rahmen gesetzlicher Maßgaben
•Indirekte Kommunikation zwischen den Akteuren: Einführung direkter, verbindlicher Kommunikationsabläufe
•Erhöhte Patientenanforderungen durch erhöhtes Alter und Lebensumstände: Abwägung individuelle Zuwendungsmedizin vs. Standardmedizin
•Reduzierung formalistischer Betrachtungsweisen der Wissenschaft
•Beeinflussung der Gesetzgebung durch Lobby- und Interessengruppen: Dezentralisierung des Gesundheitssystems und Förderung von Interessenskongruenz
•Ständig wechselnde Reformen und Gesetze: Reduzierung von "quick-fixes" und Förderung nachhaltiger Veränderung.

Spätestens diese Aufzählung von Lösungsvorschlägen zeigt eindrücklich, dass die vermeintlichen Fachleute von A.T. Kearney weder etwas von Gesundheitsversorgung noch von Gesundheitspolitik verstehen. Ihre Vorstellungen von Organisation des Gesundheitswesens sind ausgesprochen naiv. Klaus Jacobs vom Wissenschaftlichen Institut der AOK bezweifelt zwar nicht, dass es Potenzial zur Verringerung des Bürokratieaufwands gibt, weist aber darauf hin, dies sei keineswegs allein ein Problem in der GKV, sondern auch in der PKV. Darüber hinaus schaffe die von A.T. Kearney geforderte Transparenz wiederum neue bürokratische Anforderungen. In einem nur für Abonnenten dieses Forums zugänglichen Interview mit dem ärztlichen Nachrichtendienst änd ergänzt er: "Wir sollten außerdem erst einmal fragen, worüber genau wir hier sprechen. Verwaltung hört sich immer gleich so negativ an. Warum sagen wir nicht Versorgungskoordination? Oder besser noch: Management? Letztendlich handelt es sich häufig auch um Maßnahmen, die Transparenz herstellen sollen, wie sie ja in der Studie auch vermehrt gefordert wird". Für jedermann einsehbar ist allerdings die weitaus differenziertere und inhaltsreichere Stellungnahme von Klaus Jacobs im Reformblock; der Beitrag Bürokratiekosten-Studie voller ordnungspolitischem Unverständnis ist ausgesprochen empfehlenswert.

Wirtschafts- und Gesundheitsredakteur Andreas Mihm zeigt in seinem leider für Nicht-Abonnenten nicht kostenfrei erhältlichen Artikel Der Complexity Funnel der Krankenversicherung in der FAZ mühelos ein paar intrinsische Widersprüche der Empfehlungen auf: "Doch die Rezepte der Berater für eine Schlankheitskur fallen mager aus. Sie bestehen aus viel einerseits und andererseits. So soll die Zahl der Kassen weiter sinken, doch dürften "wünschenswerte Elemente des Wettbewerbs" nicht außer Kraft gesetzt werden. Einerseits sollen medizinische Produkte und Dienstleistungen begrenzt werden, aber ohne dem Patienten die erste Entscheidung darüber zu nehmen, "welchen Bedarf er zu seiner Gesundheitsversorgung für wünschenswert hält". Kommunikationsstrukturen und IT-Systeme sollten einerseits vereinheitlicht werden, doch werde andererseits "eine schrankenlose Vernetzung von Datenbänken ... auf weite Sicht realistisch nicht durchzusetzen sein"."

Und der Essener Gesundheitsökonom Jürgen Wasem bemängelte, die A.T. Kearney-Analyse basiere gar nicht auf offiziellen Zahlen und sei allein deshalb nicht mit anderen Untersuchungen vergleichbar. Auch sei die Methodik der Verwaltungskostenzurechnung auf die GKV problematisch, denn Versorgung organisierende oder Qualität sichernde Maßnahmen seien eben kein vermeidbarer Mehraufwand. Zudem spricht er der Analyse jegliche Repräsentativität ab, da die TeilnehmerInnen ganz überwiegend selbstrekrutiert sind und man überhaupt nicht nachvollziehen könne, inwieweit die Stichprobe das Gesundheitswesen abbildet.

Wie selektiv und tendenziös die Erhebung des gefühlten Bürokratieaufwands einzelner Leistungserbringer ist, davon vermittelt der Beitrag eines fleißigen Hippokranet-Nutzers im Online-Portal facharzt.de einen viel sagenden Einblick. Denn er erklärt, was die an der Umfrage beteiligten Niedergelassenen üblicherweise alles unter "Bürokratie" verstanden haben dürften: "Informationsbeschaffung elektronische Gesundheitskarte, Aussortieren der "Ambulanten Kodierrichtlinien" und Weiterleitung in die Rundablage, Beantwortung von Kassenanfragen, Ausfüllen von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, Teilnahme an EBM-Fortbildungsveranstaltungen (um endlich einmal zu verstehen wie sich RLV und QZV errechnen), Studium der neusten Richtlinien zur Ausfüllung von Heilmittelanträgen (72 Seiten), Bearbeitung des letzten Widerspruchs zum Arzneimittelregress, Telefonat mit dem Rechtsanwalt in derselben Angelegenheit, Beantwortung von Anfragen der Ärztekammer, Studium der neusten sieben DMP-Verträge und der Verträge für eine mögliche überörtliche Berufsausübungsgemeinschaft, Ausarbeitung der TOP für die nächste Sitzung des Qualitätszirkels, Studium der reichhaltigen Fortbildungsangebote in verschiedenen Ärztezeitschriften und Erstellung eines persönlichen Fortbildungsprogramms, Beantwortung diverser Anfragen des Versorgungsamts (seit mehr als zwanzig Jahren unverändert für ein mieses Honorar von 20 Euro), dann die tägliche Papierflut aus Wiederholungsrezepten, Hilfsmittelverordnungen, Krankenhauseinweisungen, Krankentransportscheinen, Verlängerungen für häusliche Krankenpflege, Anträge auf Kostenübernahme, Ärztliche Bescheinigungen für alles Mögliche…" Dieser kleine Überblick zeigt nicht nur die ganze Unschärfe der Untersuchung von A. T. Kearney, sondern umfasst auch etliche Tätigkeiten, die - ob man sie mag oder nicht -typischerweise von MedizinerInnen zu erbringen sind, wie das Erstellen von Gutachten, Rezeptausstellungen, Krankenhauseinweisungen und die eigene Fortbildung. Das würde spätestens dann sichtbar, wenn plötzlich andere Berufsgruppen diese ur-ärztlichen Tätigkeiten übernehmen sollten: Spätestens wenn medizinische Fachangestellte PatientInnen ins Krankenhaus einweisen oder Rezepte ausstellen dürften, käme es zu einem ähnlichen Proteststurm wie bei der Diskussion über die Verlagerung ärztlicher Tätigkeit auf OperationstechnikerInnen oder Gemeindepflegekräfte.

Eine andere Meinungsäußerung im Hippokranet-Forum spiegelt - vermutlich unbewusst - das Dilemma wider: "Hier ist es beeindruckend gelungen, mit einer überzeugend angelegte Studie das Vorfeld so vorzubereiten, dass das Meinungsbild offensichtlich länger anhaltend mitbestimmt. Die Lehre ergibt sich für die Zukunft, dass auch im polit. Bereich auf sensiblen Streitfeldern der sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Standard auf seiten der Ärzteschaft angehoben werden muss, will man denn Einfluss der GKV-Verwaltungsdominanz zurückdrängen." Nur der unzureichende " sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Standard auf seiten der Ärzteschaft" erklärt, wie man angesichts dieser inhaltlich bedenklichen, argumentativ mehr als dünnen und auffällig im Sinne der InitiatorInnen ausgefallenen "Studie" von "beeindruckend" und "überzeugt angelegt" sprechen und von einer nachhaltigen Beeinflussung der öffentlichen Meinung ausgehen kann.

Bei der nahezu uneingeschränkten Zustimmung zu den Ergebnissen der A.T. Kearny-Publikation zur gefühlten Bürokratie-Belastung überrascht, dass die Nutzer der Online-Plattform kein Wort zu der Unbeschlagenheit der engagierten Unternehmensberatung auf dem Gebiet des Gesundheitswesens verlieren. In einem Forum selbsternannter Fachleute von der ambulanten Versorgungsfront, deren Wortführer ansonsten hemmungslos jede vom Mainstream abweichende Äußerung aggressiv verbal niederknüppeln und vor allem deren Urhebern sowie allen anders Denkenden jegliche gesundheitsbezogene Kompetenz und jeden "Realitätsbezug" absprechen, ist das mehr als verwunderlich.

Weniger überraschend ist die grundsätzlich unkritische Aufnahme der so sehnlich erwünschten Ergebnisse dieser vermeintlichen "Studie", die … endlich mal … oder so. Das Verständnis von Untersuchungsverfahren, Studiendesigns, statistischer Auswertung und vor allem zulässiger und unzulässiger Schlussfolgerungen ist in der Ärzteschaft generell unterentwickelt, wie nicht zuletzt systematische Aufklärungs- und Nachbildungsbemühungen des Deutschen Ärzteblatts mit der 2009 begonnene Serie über Statistische Verfahren in der medizinischen Forschung belegen. Auf den aufschlussreichen Artikel Helping Doctors and Patients Make Sense of Health Statistics verwiesen wir bereits im Forum Gesundheitspolitik bereits nach dessen Erscheinen Ende 2008.

Ernüchterung wird sich in der zurzeit begeisterten Ärzteschaft spätestens dann breit machen, wenn A.T. Kearney mit den Ergebnissen anderer Untersuchungen im Auftrag anderer Player ankommt. Denn die sich selbst in aller Bescheidenheit als "eines der führenden internationalen Top-Management-Beratungsunternehmen" anpreisende Firma kann auch anders und hat auch schon anders. In unübersehbarem Widerspruch zu den Kernaussagen und -forderungen der aktuellen Arbeit von A.T. Kearney enthalten frühere Publikationen Empfehlungen, die mit spürbarem Bürokratieaufbau verbunden sein müssen, um zu funktionieren. So empfahl A.T. Kearney 2009 in der Publikation Wie sich die gesetzlichen Kassen weiterentwickeln müssen auf S. 2 den Auf- und Ausbau der Abrechnungsprüfung, verstärktes Fallmanagement, striktere Prüfung der Leistungsgewährung, Überprüfung aller Verträge auf ihren Nutzen sowie Versorgungsmanagement bzw. neue Verträge, was schwerlich zum Abbau von Bürokratie beitragen kann, und empfahl zwei Seitenweiter "zum Beispiel attraktive Wahltarife, Zahlung von Behandlungen, die noch nicht Teil der Kassenleistung sind …" - also nichts von wegen "Anzahl der Produkte und Dienstleistungen".

Einen Vorabdruck der "Studie" von A.T. Kearney bietet der ärztliche Nachrichtendienst änd für eingeschriebene Nutzer. Für Jederman/frau kostenlos zugänglich ist ein Auszug der "Studie" bestehend aus Inhaltsverzeichnis, Zusammenfassung, Einleitung, Danksagung, Abbildungsverzeichnis und Literaturverzeichnis. Die zugehörige Presseerklärung von A.T. Kearney steht ebenfalls auf der Website der Unternehmensberatung kostenlos zum Download zur Verfügung. Für den beachtlichen Preis von 49,- EUR können Sie die Studie hier auch beim Erzeuger als Druckversion bestellen.

Eine etwas differenziertere Darstellung des "Bürokratiemonsters", das "vielen Ärztinnen und Ärzten die Freude an der Arbeit" verderbe und ihnen Zeit stehle, findet sich in der Ausgabe vom 30.3.2012 des Deutschen Ärzteblatts. Der Artikel Bürokratie in Praxen und Krankenhäusern: Vom Versuch, den Alltag in Ziffern zu pressen geht aus Sicht der MedizinerInnen auf die verschiedenen Arbeitsbereiche ein, die zumindest in der Wahrnehmung unter den Bereich Bürokratie fallen, lässt aber beispielsweise nicht unerwähnt, dass die meisten ÄrztInnen nicht das Verfassen von Arztbriefen als Verwaltungsuafwand empfinden, wohl aber deren Eingabe in einen Computer.

Und noch etwas: Erdrückende, teure und sinnlose Bürokratie zeichnet das gesetzliche deutsche Krankenkassenwesen seit seiner Entstehung aus. Davon legt ein Buch beredtes Zeugnis ab, dessen Autor nicht nur den gleichen Nachnamen trägt wie Peter Hartz, sondern viele seiner Ideen schon Jahrzehnte vorher gedacht und zu Papier gebracht hat, wie der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge in seinem Essay Hartz in Weimar darlegte. Der deutschnationale Kaufmann und kurzzeitige DNVP-Reichstagsabgeordnete Gustav Hartz geißelte 1928 in seinem lesenswerten Buch "Irrwege der deutschen Sozialpolitik" wortreich genau dieselben Fehler und Schwächen des GKV-Systems wie mehr als 80 Jahre später die meisten NutzerInnen des ärztlichen Nachrichtendienstes. Zur Erbauung stellen wir den LeserInnen des Forum Gesundheitspolitik hier auszugsweise sechs Seiten des Buches zur Einsicht zur Verfügung, in denen es auch um überbordenden Bürokratismus geht.

Jens Holst, 1.2.12


Neues und Fundiertes zur Kritik der schwarz-gelben Gesundheitspolitik

Artikel 2045 Fast pünktlich zum Ende der ersten Halbzeit der schwarz-gelben Regierungsperiode erschien das neue Jahrbuch für Kritische Medizin und Gesundheitswissenschaften mit dem Titel Zur Kritik schwarz-gelber Gesundheitspolitik. Gut zwei Jahre ist es her, dass die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP mit dem erklärten Ziel eines grundlegenden Politikwechsels antrat. Der vermeintliche Shooting-Star Philipp Rösler, der erste liberale Gesundheitsminister dieser Republik und dieser Koalition, verkündete damals vollmundig jedem, egal ob es hören wollte oder nicht: "Wir schaffen damit ein robustes Gesundheitssystem, das nicht mehr alle zwei bis drei Jahre reformiert werden muss". So zitiert ihn auch ein Beitrag im Deutschen Ärzteblatt, der mit dem viel sagenden Satz endet: "Die private Krankenversicherung begrüßte die Beschlüsse der Koalitionäre als Richtungswechsel zu mehr Gestaltungsfreiheit und weniger Staatseinfluss."

Die Regierungsvereinbarung zwischen CDU/CSU und FDP mit dem Titel Wachstum. Bildung. Zusammenhalt enthält deutliche Hinweise auf die Zielsetzung der schwarz-gelber Koalition im Hinblick auf die Finanzierung und Versorgung im deutschen Gesundheitswesen, wie auch in dem Beitrag Bedenkliche Schlagseite gesundheitspolitischer Ziele im Koalitionsvertrag auf der Homepage des Forum Gesundheitspolitik nachzulesen ist. So heißt es zur schwarz-gelber Vorstellung von der zukünftigen Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV): "Beitrag und Leistung müssen in einem adäquaten Verhältnis stehen" (S. 85). Weiter heißt es: "Langfristig wird das bestehende Ausgleichssystem überführt in eine Ordnung mit mehr Beitragsautonomie, regionalen Differenzierungsmöglichkeiten und einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträgen, die sozial ausgeglichen werden. Weil wir eine weitgehende Entkoppelung der Gesundheitskosten von den Lohnzusatzkosten wollen, bleibt der Arbeitgeberanteil fest."

Es war also von Anfang an klar, dass der angekündigte generelle Politikwechsel nicht vor der Gesundheitspolitik halt machen würde. Allen anfänglichen Querelen zwischen den Koalitionären zum Trotz - besonders oft und laut knirschte es zwischen der durch ihren grandiosen Wahlerfolg fast größenwahnsinnig wirkenden FDP und der sich unerwartet stark des s in ihrem Namen erinnernden CSU - hat die schwarz-gelbe Regierung einige grundlegende gesundheitspolitische Weichen gestellt. Die veröffentlichte Meinung spiegelt die Bedeutung des sich anbahnenden Wandels nur teilweise wider, so dass die grundlegende Neuausrichtung der Gesundheitspolitik in diesem Lande insgesamt nicht die Wahrnehmung erhält, die sie eigentlich verdient.

Dem Jahrbuch für Kritische Medizin und Gesundheitswissenschaften waren die tendenziell unterschätzten politischen Akzente und Weichenstellungen Anlass genug, sich einmal gründlicher mit der schwarz-gelben Gesundheitspolitik zu befassen. Nach gut zwei Jahren konservativ-liberaler Regierung zieht der vorliegende Band nicht nur eine erste Zwischenbilanz der bisherigen Reformschritte, sondern wirft auch einen kritischen Blick auf die zentralen Argumentationsmuster, Inhalte und Vorhaben ihrer Gesundheitspolitik.

Nach dem Editorial, das die bisher erfolgten Maßnahmen zusammenstellt und eine Bilanz der bisherigen schwarz-gelben Gesundheitspolitik zieht, liefert Band 47 des JKMG zunächst eine kritische Auseinandersetzung mit der Kopfpauschale - semantisch passabler Gesundheitsprämie genannt - in der es weniger um die mit dem GKV-Finanzierungsgesetz eingeleitete schrittweise Umstellung von der einkommensabhängigen auf eine einkommensunabhängige GKV-Finanzierung geht, sondern in erster Linie um deren grundsätzliche Ziele und Wirkungen. Mit klassischen Mythen der Gesundheitspolitik befassen sich die drei folgenden Artikel, in denen man detailliert nachlesen kann, warum eine Senkung der Krankenkassenbeiträge weder wirksam die Lohnnebenkosten verringern noch zur Standortsicherung beitragen würde, das vermeintliche Damoklesschwert des demographischen Wandels weder apokalyptisch oder unentrinnbar noch ungestaltbar ist und die Idee einer kapitalgedeckten Kranken- und Pflegeversicherung eher einer Hausväterökonomie ent- als eine nachhaltig gesicherte Finanzierung verspricht. Zwei weitere Beiträge im JKMG 47 über die möglichen Folgen der auch von schwarz-gelb dezidiert verfolgten stärkeren Wettbewerbssteuerung der GKV vor dem Hintergrund des europäischen Wettbewerbsrechts und im Hinblick auf die gemeinsame Selbstverwaltung der GKV ergänzen die ausgesprochen informative und kenntnisreiche Kritik an der Gesundheitspolitik nicht nur von Konservativen und Liberalen. Ein Artikel über Professionsentwicklungen in der Pflege unter besonderer Berücksichtigung von Hindernissen und Möglichkeiten patientenorientierter Versorgungsgestaltung beschließt diesen Band.

Gerade durch die hochaktuelle und tiefschürfende Analyse grundlegender, "unkaputtbarer" Denkmuster konservativer und insbesondere (neo-)liberaler Gesundheitspolitik, vor denen auch Teile der deutschen Sozialdemokratie und der Grünen nicht gefeit sind, macht den 47. Band des JKMG trotz des aktuellen Aufhängers zu einem zeitlosen Beitrag zur gesundheitspolitischen Debatte in Deutschland. Neben der soliden Analyse heutiger tagespolitischer Ansätze, Interessen und Denkschablonen reihen sich mehrere Beiträge in die Tradition einer kritischen Auseinandersetzung mit den allgegenwärtigen Mythen und Halbwahrheiten ein, welche die Gesundheitspolitik in einem Maße bestimmen, das ihrem Wahrheitsgehalt bzw. der empirischen Belegbarkeit diametral entgegensteht.

Mittlerweile steht auf der Homepage des JKMG der gesamte Band 47 zum kostenfreien Download zur Verfügung. Weiterhin ist direkt beim Argument-Verlag die Printversion von Band 47 zu beziehen.

Jens Holst, 3.12.11


Zuzahlungen in Entwicklungsländern: Viel Klamauk, wenig Substanz

Artikel 2026 Den Auswirkungen von Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen in Entwicklungs- und Schwellenländern geht eine Meta-Analyse aus der Reihe der Cochrane-Studien nach. Lange bevor die verstärkte Beteiligung der BürgerInnen an den Kosten ihrer Gesundheitsversorgung in den Sozialsystemen der europäischen Industrieländer Einzug hielt, hatten internationale Organisationen den Entwicklungsländern die Einführung von user fees verordnet. Direktzahlungen der Armen und Ärmsten in den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas sollten unterfinanzierte Gesundheitssysteme am Leben halten und stärken. Auf Druck von Weltbank, IWF, UNICEF und WHO einigten sich beispielsweise die afrikanischen Gesundheitsminister 1987 in der malischen Hauptstadt Bamako auf die umfassende Einführung von Nutzergebühren in öffentlichen Einrichtungen. Ziel der so genannten Bamako-Initiative war es, durch Kostenbeteiligung der PatientInnen die öffentlichen Gesundheitssysteme effizienter zu machen und die Versorgung bei Gesundheitszentren und in Krankenhäusern zu verbessern.

Sechs Jahre später unterstrich der Weltbank-Jahresbericht Investing in Health die Notwendigkeit von Nutzergebühren sowie einer Zweiklassenmedizin, da umfangsreiche Leistungspakete für Arme aus öffentlichen Mitteln nicht bezahlbar seien (S. 57). Mittlerweile hat sich allerdings gezeigt, dass die erwünschten Effekte nur teilweise und in geringem Ausmaß eingetreten. Vielmehr hat sich mittlerweile herausgestellt, dass user fees gerade arme Menschen von der Inanspruchnahme abhalten, zumal aufgrund der Kosten für die Anreise zur Gesundheitseinrichtung und des Verdienstausfalls ohnehin relativ hohe finanzielle Belastungen entstehen. Die Forderung nach Abschaffung sämtlicher Zuzahlungen bestimmt zunehmend die entwicklungspolitische Debatte. Erwähnenswert sind in diesem Kontext zwei im Lancet publizierte Artikel über Auswirkungen von Zuzahlungen in Entwicklungsländern. Margaret Whitehead, Göran Dahlgren und Tim Evans veröffentlichten bereits 2001 einen Beitrag unter dem Titel Equity and health sector reforms: can low-income countries escape the medical poverty trap? im Lancet 358 (9284), S. 833-836, und in Nr. 373 (6680), S. 2078-2081 folgte der Artikel Universal health care and the removal of user fees von Rob Yates. Einige Länder wie Ghana, Jamaica, Sambia und Uganda haben daher inzwischen Nutzergebühren wieder abgeschafft.

Nun legten zwei Politik- und Wirtschaftswissenschaftlerinnen von der London School of Hygiene and Tropical Medicine eine systematische Cochrane-Analyse zum Thema user fees in Entwicklungs- und Schwellenländern vor. Im Mittelpunkt standen dabei die Auswirkungen von Änderungen der Zuzahlungsbelastung, also sowohl Erhöhungen als auch Senkungen sämtlicher Direktzahlungen, die im Augenblick der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen fällig werden. Primäre Endpunkte waren bei dieser Metaanalyse zum einen Veränderungen bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen als Proxy für den Zugang zur Versorgung und zum anderen Änderungen der Gesundheitsausgaben der Haushalte. Als sekundäre Endpunkte betrachteten die Londoner WissenschaftlerInnen den Gesundheitszustand und die soziale Gerechtigkeit beim Zugang zur Gesundheitsversorgung.

Sie analysierten dabei drei Typen von Untersuchungen - randomisierte oder cluster-randomisierte Kontrollstudien, kontrollierte Vorher-Nachher-Vergleichsstudien und unterbrochene Zeitreihenstudien zu klar definierten Zeitpunkten. Die Einschlusskriterien entsprachen denen der Cochrane Effective Practice and Organisation of Care Group (EPOC), einer international agierenden Review-Gruppe der Cochrane Collaboration, die sich der Förderung informierter Entscheidungen in Bezug auf Gesundheitsversorgungsfragen verschrieben hat. EPOC erstellt systematische Reviews über finanzielle, regulatorische sowie erziehungs-, verhaltens- und organisationsbezogene Interventionen zur Verbesserung des professionellen Umgangs und der Organisation der Gesundheitsversorgung.

Die Literaturrecherche erfolgte in 25 einschlägigen Datenbanken sowie in "grauer Literatur" auf Websites von Entwicklungsorganisationen, Universitäten und Instituten. Von den 243 ursprünglich als potenziell relevant eingestuften Publikationen erfüllte die große Mehrzahl die Einschlusskriterien nicht, da sie vorwiegend deskriptiv waren und in den meisten Fällen keinen Kontrollarm aufwiesen. Letztlich fanden nur 18 Untersuchungen Eingang in die Meta-Analyse, wobei in der Hälfte der berücksichtigten Studien eine erneute Analyse der Daten für den Einschluss erforderlich war. Acht Studien erfassten die Effekte der Einführung und fünf der Abschaffung von Nutzergebühren, während weitere fünf Studien den Auswirkungen von Zuzahlungserhöhungen oder -senkungen nachgingen.

Die analysierten Studien über Auswirkungen von Zuzahlungsänderungen wiesen ein breites Spektrum an Ansätzen und Methoden und große Unterschiede bei den jeweils beobachteten Interventionen auf. Auch die erfassten Ergebnisindikatoren waren sehr unterschiedlich und reichten von Erstkonsultationen, Patientenregistrierung, wöchentlichen, monatlichen oder vierteljährlichen Behandlungen bis zu ambulanten oder stationären Behandlungen insgesamt. Die größte Gefahr von Verzerrungen und Fehlinterpretationen geht nach Erkenntnissen der beiden britischen Wissenschaftlerinnen von nicht hinreichend oder gar nicht beachteten Rahmenbedingungen aus, die als Confounder wirken. So findet vielfach der Umstand keine angemessene Berücksichtigung, dass die Änderungen von Direktzahlungen oft Teil umfassenderer Reformen der Gesundheitsfinanzierung sind und insbesondere die Einführung oder Erhöhung von Nutzergebühren in Zeiten ökonomischer Krisen erfolgen. Das kann insbesondere bei Längsschnittstudien zu Fehlinterpretationen führen oder in Zeiten hoher Inflation die Ergebnisse in Frage stellen. Auch fehlt bei Vorher-Nachher-Vergleichsstudien oft eine zufrieden stellende Klärung der rage, ob denn die von Nutzergebühren befreite Gesundheitsversorgung für die Menschen tatsächlich kostenfrei ist. In anderen Fällen sind die angewendeten statistischen Methoden suboptimal, die Sample-Größen zu klein für signifikante Ergebnisse oder es fehlen statistische Signifikanzprüfungen.

Aus den eingeschlossenen Studien ergibt sich nach dieser Cochrane-Analyse ein etwas heterogenes Bild. Drei von sechs Studien über die Effekte neu eingeführter Zuzahlungen wiesen bei jeweils beiden untersuchten Einrichtungstypen (wie Gesundheitsposten, Krankenhaus, Arzneimittelvergabestelle) einen sofortigen Rückgang der Inanspruchnahme von betroffenen Gesundheitsleistungen um 5,5 bis 51,2 % (Mittelwert 29,5 %) sowie nach einem halben Jahr um 7,6 - 55,1 % (Mittelwert 29,6 %) auf, während bei zwei Studien jeweils gegenläufige Tendenzen bei den beiden Indikatoren zu beobachten waren. In diesen Fällen variierte die Zunahme der Nutzung nach Einführung von Zuzahlungen zwischen 22-40 %.

Insgesamt 5 Studien gingen den Effekten der Abschaffung von Selbstbeteiligungen in verschiedenen Entwicklungs- und Schwellenländern nach. Auch hier waren die Ergebnisse zunächst heterogen: In 4 Fällen zeigte sich unmittelbar nach der Maßnahme eine 7- bis 65-prozentige (Mittelwert 37 %; Stand.abw. 15,22%) Zunahme der Inanspruchnahme, die nach einem halben Jahr sogar auf 9,5 bis 66 % (Mittelwert 44 %; Stand.abw. 10,9 %) gestiegen war. Eine Studie ergab hingegen für jeweils zwei präventive und zwei kurative Nutzungsindikatoren einen Rückgang der Inanspruchnahme um 5,75 - 10,4 % (Mittelwert 8,9 %; Stand.abw. 2,8 %) unmittelbar nach Abschaffung der user fees bzw. um 0,16 - 6,8 % (Mittelwert 4,25 %; Stand.abw. 2,5%) nach sechs Monaten; allerdings war nach 12 und 18 Monaten auch hier ein Anstieg der Nutzung zu verzeichnen. Erhöhungen der Nutzergebühren, die zwischen 35,6 und 66 % (Mittelwert 44 %; Stand.abw. 8 %) variierten, verursachten nach den Ergebnissen von sechs Studien Rückgänge der Nutzung um 5 bis 47 % (Mittelwert 26 %; Stand.abw. 24%), während die Verringerung von Zuzahlungen um 25 - 75 % (im Mittel um 47 %) Steigerungen der Inanspruchnahme um 27 bis 280 % (Mittelwert 172 %; Stand.abw. 148%) nach sich zog.

Die genannten Änderungen waren von Fall zu Fall unterschiedlich und hingen vor allem auch der Art der betroffenen Gesundheitsleistungen ab, was insgesamt die Annahme verschiedener Preiselastizitäten bestärkt. Insbesondere, aber nicht nur bei präventiven Maßnahmen überstieg der Effekt nach sechs oder zwölf Monaten die spontanen Auswirkungen von Zuzahlungsänderungen. Trotz aller Kritik an den Unzulänglichkeiten der herangezogenen Studien ist die Schlussfolgerung der Autorinnen recht eindeutig: "Our findings broadly support the view that user fees present a barrier to access to curative health services for those groups who would be eligible to pay them. Therefore policy-makers willing to introduce user fees, should do so whilst bearing in mind the potential risks for access to health care for these populations" (S. 36).

Methodische und statistische Schwächen bemängeln sie vor allem bei den Studien, die BefürworterInnen von user fees gerne als Beleg für die Wirksamkeit dieser Maßnahme anführen. Zwei mit Weltbankbeteiligung in den 1990er Jahren entstandene Studien, nämlich User fees plus quality equals improved access to health care: Results of a field experiment in Cameroon von Jennie Litvack und Claude Bodart sowie The impact of alternative cost recovery schemes on access and equity in Niger von François Diop, Abdo Yazbeck und Ricardo Bitrán verwiesen auf steigende Inanspruchnahme im zeitlichen Zusammenhang mit der Einführung von Nutzergebühren. Die AutorInnen erklären dies ganz im Sinne der theoretischen Erwartungen an Nutzergebühren mit den Qualitätsverbesserungen und vor allem der zuverlässigen Verfügbarkeit von Arzneimitteln aufgrund der vermehrten Einnahmen der Gesundheitseinrichtungen - verdrängen aber bei der Interpretation ihrer Ergebnisse, dass internationale Entwicklungsinstitutionen genau diese Qualitätsverbesserungen finanzierten. Das ist vergleichbar mit der aktuellen Debatte über die leistungsabhängige Honorierung, deren Förderer geflissentlich übersehen, dass die verbesserte Behandlungsqualität vor allem auf zusätzliche externe Mittel und weniger auf performance-based payment zurückzuführen sein dürfte. Die Autorinnen der Cochrane-Analyse kritisieren zwar zu Recht die geringe Studiengröße und methodisch-statistische Schwächen, lassen diesen politisch motivierten Bias aber völlig außer Acht.

Damit zeigt sich eine Schwäche derartiger systematischer Analysen, die immer eine gewisse technokratische Perspektive mit sich bringen müssen, um die gewünschte methodische Rigidität zu erreichen. Der politischen, ökonomischen und sozialen Komplexität können stringente Metaanalysen nur eingeschränkt gerecht werden. Das erkennen auch Mylène Lagarde und Natasha Palmer: "Finally, the policy issues raised by the debate on user fees go beyond the question of their effects, which was the focus of this review. Issues of implementation have been underlined as key to understanding the reasons for the success or failure of such policies, in particular when they are implemented at the national level, in the complexity of a health system" (S. 36).

Auf den Seiten der Cochrane-Library steht zwar nur ein kostenfreies Abstract der relevanten und lesenswerten Metaanalyse von Lagarde und Palmer zum Download zur Verfügung. Allerdings stellt die WHO die Vollversion des Cochrane-Reviews The impact of user fees on access to health services in low and middle-income countries zum Download bereit. Einen Überblick über den Aufbau, die Untersuchungsfragen und die wichtigsten Ergebnisse liefert die Kurzfassung Do user fees have an impact on access to health services?. Und eine Kurzfassung mit den wichtigsten Ergebnissen ist in der Novemberausgabe des WHO-Bulletin von 2008 unter dem Titel The impact of user fees on health service utilization in low- and middle-income countries: how strong is the evidence? nachzulesen.

Jens Holst, 28.10.11


Neues aus der Bildungsforschung: Der besonders hohe Nutzen von Hochschulabsolventen für die Sozialbeiträge in Deutschland

Artikel 2004 "Wir" können uns die "Export-Vizeweltmeister"-Rolle, Banken- und Euro-Rettungsschirme, eine immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Wenig- und Vielverdienern "leisten", nicht aber eine humanere und soziale Versorgung von Demenzkranken, einen lebensgerechten Hartz IV-Regelsatz oder einen steigenden statt stagnierenden oder sogar abnehmenden Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt.

Den Beleg für die im internationalen Vergleich mit den restlichen 33 Mitgliedsstaaten der OECD sogar seit Jahren geringer werdenden Bildungsausgaben liefert der gerade veröffentlichte OECD-Bericht "Bildung auf einen Blick 2011 OECD-Indikatoren":

• Danach betrug der Anteil des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der im Jahr 2008 für sämtliche Bildung ausgegeben wurde in der OECD 6,1%, der in Deutschland 4,8%. Nur in Ländern wie Ungarn, Tschechien, der Slowakei und Italien war der gesellschaftliche Aufwand für Bildung gleich niedrig oder sogar noch niedriger.
• Der Anteil der Bildungsangaben am BIP sank auf einem relativ niedrigen Niveau zwischen 1995, 2000 und 2008 in Deutschland kontinuierlich von 5,1% über 4,9% auf 4,8%, während er im OECD-Durchschnitt insgesamt stieg und in der EU21-Gruppe auf dem höheren Niveau des Jahres 1995 stehenblieb.
• Der Anteil der Bevölkerung zwischen 25 und 64 Jahren, der einen Hochschulabschluss hatte, stieg in Deutschland zwischen 1997 und 2009 von 23 auf 26%. Dieser Anstieg belief sich in der gesamten OECD auf 9 Prozentpunkte von 21% auf 30%.
• Was in dem Bericht an vielen Punkten deutlich wird, ist aber trotz der jahrzehntelangen Debatte über Chancen- und Startgerechtigkeit in allen Parteien und gesellschaftlichen Institutionen die enorme soziale Ungleichverteilung von Bildungschancen bzw. soziale Selektion durch das reale Bildungssystem in Deutschland: So studierten 2008 von 100 Akademiker-Kindern 71, von 100 Kindern aus Nicht-Akademiker-Familien aber nur 24. Trotz unendlich vieler steuerfinanzierter Dienstreisen von Mitgliedern der Bildungsausschüsse auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene in die selektionsärmeren Bildungssysteme Finnlands oder Schwedens, folgt die Wirklichkeit dem Motto "außer Spesen nichts gewesen".

Wer die Folgen- und Tatenlosigkeit der jahrzehntelangen Rhetorik über die hohe Bedeutung von Bildungsausgaben für die Zukunft des rohstoffarmen Deutschlands nicht mehr hören kann, findet in dem Bericht eine Fülle von Argumenten, mit denen sich vielleicht doch mehr Leben in die erstarrte Debatte über Bildung und ihre Folgen bringen lässt. Die Lektüre ist also in jedem Fall empfehlenswert.

Und der Bericht enthält auch Informationen, die Bewegung in die Debatte über die Finanzierung und Finanzierbarkeit von Sozial- und Gesundheitspolitik bringen könnte.

Gemeint sind die rein ökonomischen Berechnungen über die Kosten und den privaten wie öffentlichen Nutzen von Investitionen in verschiedene Bildungsabschlüsse und darunter besonders die tertiäre Ausbildung für das Jahr 2007. Das Ergebnis ist eindeutig, praktisch aber paradox: Investitionen in die Bildung, und vor allem in die Hochschulbildunglohnen sich z.B. in Gestalt eines durchweg höheren Einkommens und einer wesentlich höheren Erwerbssicherheit für die so qualifizierten Personen. Höhere Bildungsabschlüsse lohnen sich aber unter dem Strich auch für die staatlichen und öffentlichen Einrichtungen wie die Sozialversicherungsträger. Und in Deutschland ist der öffentliche Nutzen sogar besonders hoch. Mit einem öffentlichen Gesamtnutzen von 168.649 US-Dollar über das gesamte Erwerbsleben der Hochschulabsolventen hinweg, liegt Deutschland (in der gesamten OECD beträgt dieser Nutzen "nur" 91.036 US-Dollar) weltweit auf Platz 2 - hinter den USA mit 193.584 US-Dollar. Der öffentliche Nutzen setzt sich u.a. aus 130.173 US-Dollar zusätzlicher Einkommenssteuer und 62.855 zusätzlicher Sozialversicherungsbeiträge zusammen. Diesem Nutzen stehen direkte Investitionen von 29.854 US-Dollar sowie 12.192 US-Dollar entgangene Einkommenssteuer gegenüber. Die so genannte Ertragsrate, d.h. das Verhältnis aller Investitionen in die tertiäre Ausbildung zum Gesamtnutzen für die öffentlichen Kassen beträgt in Deutschland 12,6% und im OECD-Durchschnitt 11,1%.

Der staatliche Nutzen beläuft sich zum Vergleich bei Personen mit sekundärem oder postsekundärem Bildungsabschluss wiederum über das gesamte Erwerbsleben hinweg nur oder auch immer noch auf 56.680 US-Dollar.

Während die Debatte über die Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung oder der Pflegeversicherung seit Jahren u.a. von Szenarien mit sinkenden Einnahmen und steigenden Ausgaben beherrscht wird, würden gezielte bildungspolitische Bemühungen um mehr Studierende und Hochschulabsolventen auf längere Frist zusätzliche Einnahmen für die Sozialversicherungsträger im fünfstelligen Dollarbereich generieren. Trotz der Möglichkeit, dass die Einkommen einer größer werdenden Anzahl von Hochschulabsolventen etwas sinken, bliebe das Volumen zusätzlicher Beiträge so groß, dass sich ein Teil der derzeitigen Debatte und ihrer Umsetzung zwischen weiteren Zusatzbeiträgen, Streichung von Leistungen oder deren Privatisierung erübrigen würde oder weniger dramatisch geführt werden könnte.

Woran es liegt, dass selbst angesichts solcher Nutzeneffekte die Zunahme von Hochschulstudierenden und -absolventen eher als Last, denn als Beitrag zu Problemlösungen u.a. im Gesundheitsbereich diskutiert wird, ist nicht einfach zu klären oder müsste sich vermutlich damit befassen, dass eine über Bildung vermittelte soziale Ungleichheit für bestimmte Teile der oberen sozialen und kulturellen Schichten durchaus sozial funktional ist.

Der 613-Seitenbericht "Bildung auf einen Blick 2011. OECD-Indikatoren" ist komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 22.9.11


Welche Rolle spielen Lohnnebenkosten bei Investitionsentscheidungen in Deutschland und in 12 anderen Ländern? Scheinbar keine!

Artikel 2002 Spätestens dann, wenn jemand öffentlich fordert, die vor zwei Jahren für die Zukunft eingefrorenen Arbeitgeberbeiträge zur Gesetzlichen Krankenversicherung wieder aufzutauen und zu einer wirklichen paritätischen Finanzierung der gesamten künftigen Beiträge zurückzukehren, holen Arbeitgebervertreter und ihnen geneigte Multiplikatoren oder Kopflanger wieder das Gespenst der Gefährdung des Wirtschaftsstandortes Deutschland durch die Lohnnebenkosten hervor. Dazu ist im Forum Gesundheitspolitik schon vieles gesagt worden, u.a. in einer guten Zusammenfassung aus dem Jahr 2005.

Da die Lohnnebenkosten anscheinend zu den unkaputtbaren Vertretern der gesundheitspolitischen Mythen gehören, sind aktuelle Beiträge über die tatsächliche internationale Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland von unmittelbarem praktischen Interesse. Insbesondere gilt dies natürlich für Studien, die auf Äußerungen von Unternehmen und Unternehmern beruhen.

Interessant ist, dass in einer aktuellen internationalen Befragung von 751 Mitgliedern der Geschäftsführung, Leitern internationaler Sparten und Unternehmensführern international agierender mittelgroßer Unternehmen in 13 Ländern (Australien, Brasilien, China, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Indien, Japan, Kanada, Niederlande, Russland, Saudi Arabien, USA) der BDO AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Lohnnebenkosten weder fördernd noch hemmend eine ausdrückliche bzw. erwähnenswerte Rolle bei Investitionen spielten. Deutschland hat trotz seiner im Vergleich mit einem Teil der genannten Länder relativ hohen und zum Teil von den Arbeitgebern mitfinanzierten Sozialbeiträge oder Lohnnebenkosten keinerlei erkennbare Nachteile - weder durch eine Standortflucht noch durch Meiden des Investitionsstandortes Deutschland.

Das Gegenteil ist sogar richtig: Unter der Überschrift "Deutschland bevorzugtes Ziel für internationale Expansion" wird gezeigt, dass Deutschland bei der Expansion internationaler Unternehmen mit 12 Prozent auf Platz drei, nach China (16%) und den USA (15%) rangiert. Nach den Gründen gefragt, schätzen "vor allem chinesische Unternehmen … die gut ausgebildeten Fachkräfte, die hohe technische Qualität sowie die effiziente Distributionsstruktur des deutschen Marktes."
Trotz der ebenfalls gesehenen Risiken von Investitionen im Ausland, belegen deutsche Firmen ebenfalls den dritten Platz der am meisten global investierenden Unternehmen. Beliebt ist dabei China (16%), vor den USA (15%) sowie Frankreich (6%) und England (6%). Auch wenn es um die Wahl von Investitionsorten geht, fällt kein Wort zu den möglicherweise niedrigeren Lohnnebenkosten. Vielmehr spielen "insbesondere die Größe des Zielmarktes und die Infrastruktur im Land eine Rolle" so Arno Probst, Vorstand Markets der BDO AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Hinzu kommt dann aber bei 44% der deutschen Firmen die Herausforderung, qualifizierte Mitarbeiter vor Ort zu finden. Und schließlich: "42 Prozent fürchten zudem weltweite Kursschwankungen und 38 Prozent sehen im lokalen Wettbewerb eine wesentliche Hürde. Hinzu kommen bürokratische und geo-politische Hürden."

Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die Interviewten nicht repräsentativ für die gesamte deutsche, geschweige denn internationale Unternehmenslandschaft sind und dass sie interessanterweise dann nicht von Geld reden, wenn deutliche Kostenverbesserungen oder -vorteile durch die rund ein Jahrzehnt währende Reallohnstagnation in Deutschland existieren, wird deutlich welche minoritäre Bedeutung die Lohnnebenkosten und ihr kleiner Anteil für Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung bei Investitionsentscheidungen wirklich haben.

Die 26 Seiten umfassende 2011-Ausgabe des jährlich erscheinenden BDO Wirtschafts-Barometer "BDO AMBITION SURVEY: GLOBAL OPPORTUNITIES" ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 20.9.11


Lasst die "Sau am besten im Stall"! Verbessert Kostenerstattung die Transparenz und steuert die Inanspruchnahme von Leistungen?

Artikel 1998 Auch wenn die Ablösung des Sachleistungs- durch das Kostenerstattungsprinzip im Moment nicht im Mittelpunkt der gesundheitspolitischen Reformbemühungen steht, handelt es sich bei Kostenerstattung um eine der "Säue", die je nach Bedarf mit viel Getöse durch das "gesundheitspolitische Dorf getrieben wird". Es lohnt sich daher quasi auf Vorrat gründlicher über die systematischen und empirisch erkennbaren Vor- und Nachteile und die Schlüssig- und Stimmigkeit der Kernannahmen und Versprechungen des Kostenerstattungsprinzips nachzudenken.

Dies liegt auch an der Attraktivität des Kostenerstattungsprinzips, die - so eine AutorInnengruppe der Hochschule Fulda - "darin (liegt), dass durch vergleichsweise einfache Maßnahmen - in der Hauptsache durch eine Veränderung der Zahlungsströme - gleichzeitig die Transparenz für die Versicherten erhöht, Abrechnungsbetrug verhindert, das Inanspruchnahmeverhalten der Versicherten reduziert und die Wirtschaftlichkeit der Versorgung durch die gestärkte Rolle des Patienten verbessert werden sollen."
Ob diese Argumentationskette theoretisch wie empirisch haltbar ist, versuchen diese AutorInnen, allesamt Gesundheitsökonomen an der Hochschule Fulda, in einem 44 Seiten umfassenden Forschungspapier weitgehend frei von aktuellen Pulverdämpfen zu überprüfen.

Zu den wesentlichen Erkenntnissen der Studie gehören u.a.

• die Feststellung, dass der "durchschnittliche Patient weder die Notwendigkeit von medizinischen Diagnose- oder Therapiemaßnahmen noch deren Qualität in vielen Fällen hinreichend beurteilen kann" und daher "die bloße Kenntnis über die Kosten der erfolgten Maßnahmen für das eigene Inanspruchnahmeverhalten vermutlich weithin irrelevant" (Klaus Jacobs et al. 2010) ist,
• die gesicherte Erkenntnis, dass mit der Kostenerstattung insbesondere im Bereich der ambulanten ärztlichen Versorgung weder eine Zunahme der Steuerungskompetenz des Patienten noch eine höhere Wirtschaftlichkeit erkennbar sind,
• die ebenfalls gesicherte Erkenntnis, mit den reinen Preisinformationen die immer noch weit verbreitete angebots- oder anbieterinduzierte Nachfrage nicht zu verhindern sein dürfte,
• die bereits in Untersuchungen während der 1990er gemachte Beobachtung, dass allein erhöhte Transparenz nicht zwangsläufig zu einem erhöhten Kostenbewusstsein führe. Wenn überhaupt, müsse Kostenerstattung erst noch durch ein zusätzliches System von Selbstbeteiligungen und Beitragsrückerstattungen "scharf gestellt" werden und
• die bereits mehrfach bestätigte Erkenntnis (u.a. durch eine Versichertenbefragung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung), dass Kostenerstattung höchstens für relativ wenige und vermögende Versicherte eine attraktive Wahloption ist und
• dass ein funktionierendes Kostenerstattungssystem unbedingt ein soziales Ausgleichssystem brauche.

Aus einer einer vergleichenden Untersuchung der Kostenerstattungsempirie in den Niederlanden, Australien und Deutschland leiten die Fuldaer GesundheitsökonomInnen drei Schlussfolgerungen für die weitere Debatte ab:

• "Wird dem Leistungserbringer die Wahl zwischen Abrechnung nach Kostenerstattung und Sachleistung überlassen und weichen außerdem die Abrechnungsbeträge von den Erstattungsbeträgen nach oben ab, kann dies für die Patienten erhebliche finanzielle Folgen haben. Die freie Arztwahl löst dieses Problem nicht vollständig. Die Patienten werden nicht immer Leistungsanbieter finden, die freiwillig nach dem Sachleistungsprinzip abrechnen."
• "Das Interesse der Leistungsanbieter am Kostenerstattungsprinzip ist dann extrem niedrig, wenn die Höhe der Abrechnungsbeträge in Kostenerstattung und Sachleistung nicht voneinander abweichen. Eine Angleichung der Abrechnungssysteme reduziert damit das Interesse der Leistungsanbieter an der Kostenerstattung dramatisch. Gleichzeitig würde aus Sicht der Versicherten ein wesentlicher Nachteil der Kostenerstattung entfallen."
• "Wenn sich die Versicherten des Unterschieds zwischen Sachleistung und Kostenerstattung nicht bewusst sind, können sich die Versicherer durch den Ausbau des Kostenerstattungsprinzips ihrer Verantwortung für die Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung entziehen. Es besteht damit die Gefahr, dass sich die Krankenversicherer bei einem steigenden Anteil von Kostenerstattungstarifen ihrer Steuerungs- und vor allem Sicherstellungsverantwortung entziehen."

Die Quintessenz der eigenen systematischen Analyse dreier Szenarien, die von der obligatorischen Kostenerstattung mit differenziertem Abrechnungssystem über das Wahlrecht durch Leistungsanbieter mit differenziertem Abrechnungssystem bis zum Wahlrecht durch Versicherte mit einheitlichem Abrechnungssystem reichen, lautet zunächst relativ euphorisch: "Zusammenfassend ist festzustellen, dass ein einheitliches Abrechnungssystem aus Versichertensicht eine zentrale Barriere zur Inanspruchnahme des Kostenerstattungsprinzips beseitigen würde. Zudem würden die Anreize zur angebotsinduzierten Nachfrage in einem solchen Szenario weitgehend beseitigt." Trotzdem wären aber "die Effekte auf die Inanspruchnahme der Versicherten ... ungewiss." Und damit bleibt aus Sicht der AutorInnen und letztlich verblüffend "zu fragen, ob die in einem solchen Szenario erhöhte Kostentransparenz nicht auch mit geringeren administrativen Aufwändungen durch eine für den Patienten kostenfreie Patientenquittung erreicht werden könnte."

Die Erfahrungen mit dieser Patientenquittung und ihre wissenschaftliche Evaluation zeigen aber, dass freiwillig relativ wenige Versicherte diese Transparenzmöglichkeit nutzen und von ihnen nur ein Bruchteil etwas mit der Leistungs- und Kostentransparenz anfängt.

Dies zeigt aber, dass effektive Ansätze zur Steuerung des Inanspruchnahmeverhaltens von Versicherten und Patienten mit den Standardrezepten der Gesundheitsökonomie brechen müssen und nicht allein oder sogar nur völlig nachrangig auf quantitative und kostenzentrierte Methoden setzen müssen.

Das Forschungspapier 1/2011 "Kostenerstattung in der Gesetzlichen Krankenversicherung" von Stefan Greß, Ingo Heberlein, Stephanie Heinemann und Dea Niebuhr ist komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 4.9.11


Untergang oder Herausforderung! Was bedeuten Prognosen des Erwerbspersonenpotenzials für die Zukunft des deutschen Sozialsystems?

Artikel 1993 Der Alltag des deutschen Arbeits- und Sozialsystems wurde seit knapp vierzig Jahren durch eine lange Jahre stetig ansteigende und erst jüngst kleiner werdende Nicht- oder Unternutzung des Arbeitskräftepotenzials durch millionenfache offene Arbeitslosigkeit und "stille Reserven" geprägt. Die für die nächsten Jahren prognostizierte absolute Abnahme des Arbeitskräftepotenzials gehört nun zu den Basistönen des dramatisierenden Demografiediskurses für die nächsten vierzig Jahre. Dabei fällt verbreitet unter den Tisch, dass es sich auch hier vor allem um die Effekte bestimmter Demografie- (z.B. Geburtenanzahl und Betreuungsinfrastruktur), Sozial- (z.B. Frühberentungsanreize), Arbeitsgestaltungs- (z.B. altersgerechte Arbeitsplätze) und Migrationspolitiken (z.B. Einwanderungsland Deutschland versus "Kinder statt Inder"-Politik) handelt.Politik muss also nicht nur auf unentrinnbare naturhafte Auswirkungen reagieren , sondern beeinflusst diese Situation immer schon und auch heute noch massiv.

Lohnen tut sich aber auch ein Blick auf das kommunizierte Zahlengerüst des Diskurses. Dieses steht im Mittelpunkt eines gerade veröffentlichten Kurzberichts des "Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)" der Bundesagentur für Arbeit. Der Bericht beschreibt ausführlich die Entwicklung der "Zahl der Personen, die dem Arbeitsmarkt potenziell zur Verfügung stehen" - bis 2025 und bis 2050. Als wesentliche Einflussfaktoren berücksichtigt das IAB zwei relativ variable und sozial- wie beschäftigungspolitisch beeinflussbare Faktoren: die Erwerbsquoten, also z.B. den Anteil der erwerbstätigen Frauen, älteren oder jungen Menschen und den Wanderungssaldo zwischen aus- und eingewanderten Erwerbspersonen. Ob man Entwicklungen bis zum Jahr 2050 wirklich seriös prognostizieren oder projezieren kann oder dies reine "Kaffeesatzleserei" (Bosbach) ist, soll hier nicht weiter diskutiert werden.

Die Abnahme des Erwerbspersonenpotenzials von 2008 (44,748 Millionen Personen) reicht 2025 von 38,203 Millionen im worst-case-Szenario mit konstanten Erwerbsquoten und ohne Berücksichtigung von Wanderungen bis zu 42,576 Millionen im best-case-Szenario mit steigenden Erwerbsquoten und einem Wanderungssaldo von 200.000 Personen pro Jahr. Damit läge das Erwerbspersonenpotenzial knapp zwei Millionen unter oder sogar etwas über einer Million über der Zahl der 40,8 Millionen heute Erwerbstätigen. Wählt man die wahrscheinlich realistischere Variante mit der Zunahme der Erwerbsquoten und einem Wanderungssaldo von 100.000 Personen liegt das Potenzial 2025 immer noch knapp über der heutigen Anzahl der Erwerbspersonen. Der heutige Bedarf an Erwerbspersonen könnte also im Prinzip befriedigt werden, bedürfte aber enormer Anstrengungen im Bereich der Bildungspolitik und Arbeitsorganisation.

Setzt man die Projektion bis 2050 fort, sinkt das Erwerbspersonenpotenzial unter den realistischen Annahmen weiter auf 32,733 Millionen. Spätestens hier beginnt der apokalyptische Teil des Demografiediskurses.

Dass selbst dieser für 2050 prognostizierte quantitative Wert keinen zwingenden Grund zur Panik darstellt, liegt dann aber an weiteren wichtigen, auch im IAB-Bericht ausgeblendeten Einflussgrößen:

• Dazu gehört die ebenfalls bereits umfänglich prognostizierte weitere Bevölkerungsentwicklung. Die 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung aus dem Jahr 2009 schätzt in einer mittleren Variante einen Rückgang der Einwohner Deutschlands von rund 82 Millionen im Jahr 2008 auf 73,6 bis 69,4 Millionen im Jahr 2050. Es ist eher unwahrscheinlich, dass man zur Produktion von Gütern und Dienstleistungen selbst ohne Berücksichtigung von Produktivitätsfortschritten für eine um 8 oder 13 Millionen geschrumpfte Bevölkerung noch 40,8 Millionen Erwerbstätige und ein dazu notwendiges Erwerbspersonenpotenzial braucht.
• Eine zweite wichtige Einflussgröße ist die Entwicklung der Arbeitsproduktivität. Selbst die sehr zurückhaltenden Prognosen zur Entwicklung der Arbeitsproduktivität der Herzog- und der Rürup-Kommission von jährlich 1,25% bzw. 1,8% halten damit eine Gesamtsteigerung bis 2050 von 84% oder 140% für möglich. Sofern dieser Zuwachs nicht einseitig zugunsten der Unternehmen verteilt wird, kann also eine wesentlich kleinere Anzahl von Erwerbspersonen nicht nur mindestens das heutige Wohlstandsniveau halten, sondern auch auch möglicherweise steigende Sozialabgaben ohne eigene Wohlstandsverluste finanzieren. Dass dies möglich ist, zeigt der Verlauf der Produktivität bei der Produktion von Nahrung in den letzten 100 bis 150 Jahren.

Wer unbedingt die Anzahl von Köpfen als Problem kommunizieren will, sollte bedenken, dass die Beiträge der Sozialversicherungen nicht nach Köpfen erhoben werden, sondern ein Abzug von sozialversicherungspflichtigen Einkommenssummen sind.
Ohne dass das mögliche Schrumpfen des Erwerbspersonenpotenzials auf 32 Millionen Personen umgekehrt bagatellisiert werden soll, wird seine wohlstandsbedrohende Bedeutung weit überschätzt oder sogar fehlbewertet. Umfängliche Um- und Abbauten der sozialen Sicherungssysteme sind bis 2025 jedenfalls voreilig und für 2050 wahrscheinlich weit überzogen. Sie verhindern außerdem alternative bildungs- und sozialpolitische Überlegungen wie man mehr Personen erwerbsfähig und produktiver machen kann.

Der trotzdem sehr informative 3. IAB-Kurzbericht 16/2011: Projektion des Arbeitskräfteangebots bis 2050: Rückgang und Alterung sind nicht mehr aufzuhalten von Johann Fuchs, Doris Söhnlein und Brigitte Weber ist komplett kostenlos erhältlich.

Dies gilt auch für die vom Statistischen Bundesamt vorgelegten Begleitmaterialien zur Pressekonferenz am 18. November 2009 "bevölkerung deutschlands bis 2060. 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung.

Bernard Braun, 26.8.11


Wer oder was gefährdet den Wirtschaftsstandort Deutschland jenseits von Lohnnebenkostensenkung? Beispiel Arbeitszufriedenheit!

Artikel 1989 Für diejenigen, denen zur Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland nur immer einfällt, den bereits rein quantitativ für die Gesamtkosten der Erstellung eines Produkts oder einer Dienstleistung marginalen Anteil des Arbeitgeberanteils für die Kranken- oder Rentenversicherung an den Lohnnebenkosten (vgl. dazu den einen oder anderen zahlreicher Beiträge in diesem Forum) einzufrieren oder zu senken, liefert eine Untersuchung der langjährigen Entwicklung der Arbeitszufriedenheit von Arbeitnehmern in Deutschland und vergleichbaren Ländern deutliche Hinweise auf mindestens genauso gewichtige, wenn nicht sogar gewichtigere Faktoren.

Wissenschaftler des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg/Essen werteten dazu Daten aus der jährlichen Haushaltsbefragung des Sozio-Ökonomischen Panels von 1984 bis 2009 (Frage: "Wie zufrieden sind Sie mit Ihrer Arbeit?" mit einer 11er Skala von "ganz und gar unzufrieden" bis "ganz und gar zufrieden") und Daten des European Social Survey (ESS) aus.

Die Ergebnisse lauten z.B.:

• Seit 1984 Jahre gibt es einen abnehmenden Trend der Arbeitszufriedenheit der 20- 64-jährigen Beschäftigten in Deutschland. Auf einer zehnstufigen Skala lag der Durchschnittswert 1984 bei 7,6 Punkten und sank auf 6,8 Punkte im Jahr 2009.
• Besonders stark ist der Rückgang bei älteren Arbeitnehmern jenseits des 50. Lebensjahres. Ansonsten zeigt sich ein Rückgang der Arbeitszufriedenheit in allen Qualifikationsstufen und in Betrieben unterschiedlicher Größe in ähnlicher Form. Während die 50+-Beschäftigten 1984 noch üdberdurchschnittlich mit ihrer Arbeit zufrieden waren (7,9 Punkte), lag ihr Wert 2009 mit 6,6 Punkten unter dem Durchschnittswert.
• Im internationalen Vergleich weisen Arbeitnehmer in Deutschland eine besonders geringe Arbeitszufriedenheit auf. Konkret sieht es so aus, dass Deutschland 2006 auf Platz 18 in Europa lag. Nur die ArbeitnehmerInnen in der Slowakei, Ukraine, Bulgarien und Russland waren noch weniger mit ihrer Arbeit zufrieden. Am glücklichsten ist man dagegen in Dänemark, der Schweiz und in Finnland.
• Die vermutlichen Ursachen für das Niveau und den Trend der Arbeitszufriedenheit sind nach Meinung der IAQ-Forscher in Entwicklungen wie der Intensivierung der Arbeit in den Betrieben, den Problemen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, geringen Lohnsteigerungen und der wachsenden Unsicherheit über die berufliche Zukunft zu suchen.

Bei dem wahrscheinlich engen Zusammenhang von Arbeitszufriedenheit, Leistungsbereitschaft und damit Arbeitsproduktivität sollte künftig (endlich oder zum wievielten Male eigentlich!?) sowohl in Diskursen über die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland als auch über die Möglichkeiten, die Alterungsfolgen zu bewältigen, mehr über eine gezielte Veränderung exakt bekannter Arbeitsbedingungen geredet werden als über die Promilleeffekte der Senkung von Lohnnebenkosten.

Genaueres ist im IAQ-Report 3-2011 zum Thema Arbeitszufriedenheit in Deutschland sinkt langfristig. Auch geringe Arbeitszufriedenheit im europäischen Vergleich von Yan Bohulskyy, Marcel Erlinghagen, Friedrich Scheller zu finden, der komplett kostenlos erhältlich ist.

Bernard Braun, 13.8.11


Gleichstellungsbericht: Nachteile für individuelle Verwirklichungschancen und die künftige soziale Sicherheit von Frauen.

Artikel 1960 Ganz so schwer zu finden, wie die Süddeutsche Zeitung am 17.Juni 2011 unkte, ist der "Erste Gleichstellungsbericht" für die Bundesrepublik Deutschland im Internet zwar nicht, aber bequem ist er aus Sicht des Auftraggebers Bundesregierung mit Sicherheit nicht.
Neben den Sachbereichen Gleichstellungspolitik in der Lebensverlaufsperspektive (und nicht mehr Lebensphasenperspektive), Rollenbilder und Recht, Zeitverwendung, Alter und Bilanzierung des Lebensverlaufs sowie Bildung befasst sich der 332 Seiten umfassende Bericht auch mit Fragen der Erwerbstätigkeit von Männern und Frauen.

Dort werden die folgenden nicht nur gleichstellungspolitischen sondern auch für die Finanzierung der Sozialversicherungsträger relevanten Trends angesprochen:

• "Zwar ist die Erwerbstätigenquote von Frauen in (West-)Deutschland in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen, kaum jedoch - wie in fast allen anderen europäischen Ländern - ihre Erwerbsbeteiligung gemessen in Vollzeitäquivalenten. Die zunehmende Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich überwiegend auf der Basis einer steigenden Zahl kleiner Arbeitsverhältnisse und einer Umverteilung des Erwerbsvolumens unter Frauen vollzogen. Durch diese Fragmentierung weiblicher Beschäftigungsverhältnisse ist ein Großteil der Frauen trotz eigener Erwerbstätigkeit von einer eigenständigen Existenzsicherung noch weit entfernt."
• "Der Unterschied in den Stundenlöhnen zwischen Männern und Frauen ist mit etwa 23 % so hoch wie in kaum einem anderen europäischen Land. Frauen haben ein mehr als doppelt so hohes Risiko wie Männer, niedrig entlohnt zu werden. Der Anteil der gering bezahlten Frauen lag 2007 bei 29,3 % gegenüber 13,8 % bei Männern. Aufgrund der höheren Betroffenheit sind mehr als zwei Drittel aller Niedriglöhner in Deutschland Frauen. Frauen sind zudem besonders von Niedrigstlöhnen mit Stundenlöhnen unter 5 oder 6 Euro betroffen. Zusätzlich sind die Chancen für Frauen, aus dem Niedriglohnsektor in eine besser bezahlte Tätigkeit aufzusteigen, signifikant geringer als für Männer. Nur ein Teil dieser Geschlechterdifferenz bei den Löhnen" lässt sich durch Unterschiede bei den Ausstattungsmerkmalen, wie z.B. Qualifikationen, Erwerbserfahrung oder Branchenzugehörigkeit, erklären. Nach wie vor umfasst die Lohnlücke auch einen - schwer zu quantifizierenden - Anteil an Diskriminierung."
• "Der Grundsatz "gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit" ist bisher nicht flächendeckend umgesetzt. - Teilzeitarbeit als weibliche Domäne hat sich inzwischen stark ausdifferenziert und ist unterschiedlich zu bewerten. Sozialversicherungspflichtige Teilzeit wird von vielen Frauen (bisher selten von Männern) gewünscht und stellt sich für bestimmte Lebensphasen als geeignetes Vereinbarkeitsinstrument dar - insbesondere, wenn sie mit Rückkehroptionen auf eine Vollzeittätigkeit verbunden ist."
• "Als besondere erwerbsbiografische "Falle" für Frauen zeigt sich dagegen das politisch geförderte Segment der Minijobs. Kurzfristig mag die Aufnahme eines Minijobs wegen der Mitversicherung in der gesetzlichen Krankenkasse über den Ehepartner und des Erhalts des Einkommensvorteils infolge des Ehegattensplittings vorteilhaft sein. In der Lebensverlaufsperspektive erweisen sich Minijobs jedoch häufig als Sackgasse, da der Übergang in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung schwierig ist. Zudem ist eine eigenständige Existenzsicherung in der Erwerbs- und Nacherwerbsphase auf der Basis einer geringfügigen Beschäftigung, die zudem zu über 85 % nur mit einem Niedriglohn entgolten wird, unmöglich."
• "Viele der in den letzten Jahren entstandenen zusätzlichen Arbeitsplätze im Bereich sozialer und personenbezogener Dienstleistungen sind als Helferinnen-, Assistentinnen- und Zuverdienerinnen-Stellen konzipiert. Sie sind aufgrund herkömmlicher Arbeitsplatzbewertungen tendenziell mit schlechten Verdienstmöglichkeiten ausgestattet. Hinzu kommt, dass die Entlohnung gerade in Dienstleistungsbranchen mit hohen Frauenanteilen in den letzten 15 Jahren zunehmend von der allgemeinen Einkommensentwicklung abgekoppelt wurde."

Die bisher genannten Bedingungen sind nicht "nur" schlecht für die aktuellen individuellen Verwirklichungschancen der Frauen, sondern stellen auch eine "volkswirtschaftlich bedenkliche Vergeudung von Ressourcen dar, die vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und des sich abzeichnenden Fachkräftemangels nicht tragfähig ist." Sie tragen außerdem in erheblichem Maße zur Erosion der Einnahmesituation der über einkommensabhängige Beiträge finanzierten Sozialversicherungsträger bei.

Die Gutachter sprechen sich daher u.a. dafür aus, die Sonderstellung von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen abzuschaffen, die Fehlanreize für Unternehmen und Beschäftigte abzuschaffen, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in wenig zukunftsträchtige, aktuell aber steuer- und sozialabgabenfreie Minijobs aufzuteilen: "Ziel muss es daher sein, alle Erwerbsverhältnisse sozialversicherungspflichtig zu machen."

Das im Januar 2011 dem Ministerium überreichte Gutachten der Sachverständigenkommission Neue Wege - Gleiche Chancen Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf. Erster Gleichstellungsbericht von Ute Klammer, Marion Schick, Gerhard Bosch, Cornelia Helfferich, Tobias Helms, Uta Meier-Gräwe, Paul Nolte, Margarete Schuler-Harms und Martina Stangel-Meseke, samt einer Vielzahl von ExpertInnen zu einzelnen Themen ist auf der Website des "Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend" kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 18.6.11


WHO-Einsatz für universelle Sicherung abgeschwächt

Artikel 1942 Auf der Weltgesundheits-Versammlung am 16. und 17. Mai dieses Jahres brachte die schwarz-gelbe Bundesregierung einen Resolutionsantrag zum Thema der universellen Absicherung gegen Krankheitsrisiken ein. Die daraus resultierende Resolution WHA64.9, die im Mai dieses Jahres die Zustimmung der 64. Jahresvollversammlung der Weltgesundheitsorganisation WHO erhielt, trägt den viel versprechenden Namen Sustainable Health Financing Structures and Universal Coverage.

Damit griff die konservativ-liberale deutsche Regierung ein Thema auf, das bereits frühere Bundesregierungen seit etlichen Jahren recht erfolgreich besetzt und vorangetrieben hatten. In diesem Sinne hatten die liberalen Bundesminister Philipp Rösler (BMG) und Dirk Niebel (BMZ) zuletzt November 2010 ihre volle Unterstützung für den Weltgesundheitsbericht 2010 geäußert, der unter dem Titel Health Systems Financing - The Path to Universal Coverage eindeutige Voten zur Ausweitung der sozialen Absicherung gegenüber gesundheitlichen Risiken lieferte. Wie bereits an anderer Stelle im Forum Gesundheitspolitik eingehend dargestellt, fordert der Bericht die Länder der Welt auf, die Absicherung auf alle BürgerInnen auszuweiten, ihnen ein umfangreiches Leistungspaket vorzuhalten und sie vor finanziellen Belastungen im Krankheitsfall zu schätzen. Die Abschlusserklärung der Konferenz las sich auf jeden Fall erheblich eindeutiger in der Sache und klarer in der Forderung an alle Länder, den sozialen Schutz ihrer Bevölkerungen beständig zu verbessern.

Die von der Bundesregierung eingebrachte und im Mai 2011 verabschiedete Resolution lässt nun allerdings einige Aufweichungen grundlegender gesundheitspolitischer Positionen erkennen. Dies gilt insbesondere für die Forderung nach Verringerung von Selbstbeteiligungen, denn es heißt nun, die Weltgesundheitsversammlung bitte die Mitgliedsländer dringend, sicherzustellen, dass die Gesundheitsfinanzierungssysteme sich so entwickeln, dass bedeutende Zuzahlungen bei Inanspruchnahme vermieden werden (to ensure that health-financing systems evolve so as to avoid significant direct payments at the point of delivery), und zwar um ruinierende Ausgaben und gesundheitsbedingte Verarmung zu vermeiden. Anschließend fordert die WHA die Länder auf, universelle Systeme zur Absicherung gegen Krankheitsrisiken anzustreben, um in angemessenem Umfang bezahlbare Gesundheitsversorgung abzusichern (to provide an adequate scope of health care and services and level of costs covered).

BeobachterInnen führen die aus gesundheits- und entwicklungspolitischer Sicht ausgesprochen schwachen Forderungen in Bezug auf Zuzahlungen und universelle Absicherung im Krankheitsfall vor allem auf den Einflussnahme Schwedens und der USA zurück. Der konservativen schwedischen Regierung war es offenbar wichtiger, ihr auf hohen Eigenbeteiligungen beruhendes Gesundheitswesen vor einer Überprüfung an WHO-Resolutionen zu bewahren, als sich konsequent für mehr soziale Gerechtigkeit in der Welt einzusetzen. Vergleichbar dürfte die Motivation der US-Regierung gewesen sein, sich nicht durch WHA-Resolutionen unter Druck setzen zu lassen, endlich als letztes Industrieland ein universelles Absicherungssystem gegen Gesundheitsrisiken aufbauen zu müssen.

Warum die Bundesregierung nicht vehementer für ihre Originalvorlage stritt und nicht erfolgreicher die Unterstützung anderer Länder wie Thailand oder auch Brasilien gewinnen konnte, wo universelle Absicherung gegen Krankheit umgesetzt ist und hohe gesellschaftliche Bedeutung hat, lässt sich nur schwer klären. Unbestreitbar liegt die schließlich angenommene Resolution deutlich näher an gesundheitspolitischen Positionen des liberalen Koalitionspartners in der Bundesregierung, die ja im Moment auch die Ressortleitung im Gesundheits- und Entwicklungsministerium inne hat. Zu den auf Glaubenssätzen basierenden gesundheits- und sozialpolitischen Ideen, welche die FDP bar jeder Empirie zu verfolgen pflegt, gehören auch die Propagierung von Zuzahlungen und die Einführung einer Basisversicherung mit nicht näher definiertem, aber auf jeden Fall nicht umfassendem Leistungspaket.

Eine kritische Betrachtung zum Resolutionsantrag mit dem Titel Bundesregierung nimmt weich gespülte WHO-Position hin stellen wir den LeserInnen des Forum Gesundheitspolitik hier zur Verfügung.

Jens Holst, 16.5.11


Die gar nicht so wettbewerblichen Methoden der US-Markenmedikamenthersteller, den Verkauf von Generika zu behindern!

Artikel 1940 Die staatliche "Federal Trade Commission" (FTC) der USA und ihr "Bureau of Competition" berichten in einem aktuellen Verwaltungsbericht, dass 2010 die Anzahl der Deals der pharmazeutischen Industrie, mit denen mit allen Mitteln der Zugang zu preisgünstigeren und gleichwertigen Generika-Arzneimittel möglichst lange verzögert werden soll, gegenüber 2009 um 60% (von 19 auf 31 Fällen) gestiegen ist.

Die dem FTC und dem Justizministerium für das Jahr 2010 offiziell mitgeteilten 131 Patentverzögerungen beruhten in 31 Fällen auf direkten Zahlungen der Hersteller von Original-Arzneimittelherstellern an den Generikaproduzenten und auf diversen Einschränkungen ihrer Vermarktungsfähigkeiten. 66 finale Verzögerungen erschwerten die Fähigkeit des Generikaproduzenten sein Produkt zu vermarkten. Was dies im Einzelnen wirklich heißt und wie hoch die Dunkelziffer ist, bleibt leider auch in den veröffentlichten Berichten im Dunkeln. Geschützt werden sollten damit aber eindeutig und ausschließlich die wirtschaftlichen Interessen der Hersteller von 22 verschiedenen Originalpräparate mit einem Marktpreisvolumen von 9,3 Mrd. bis 20 Mrd. US-$.

Der Chef der FTC, Jon Leibowitz, fasste die Effekte dieser organisierten Verzögerungen des Markteintritts von Generika so zusammen: "The increasing number of these deals is a win-win proposition for the pharmaceutical industry, but a lose-lose for everyone else."

Und was "win-win" und "lose-lose" konkret bedeutet, wird von der FTC so quantifiziert:

• Die Stillhalteprämien zwischen den Markenmedikamente- und Generikahersteller führten in den vergangenen Jahren zu einem durchschnittlich 17 Monate späteren Markteintritt des Generikums.
• Durch den dadurch längeren wettbewerbsfreien Verbleib von Originalpräparaten auf dem Arzneimittelmarkt zahlen die us-amerikanischen Krankenversicherungen bzw. die Patienten jährlich mindestens 3,5 Mrd. US-$ mehr als sie bei vorhandenem Wettbewerb mit Generika bezahlen müssten.

Eine Presseerklärung vom 5. Mai 2011 mit der Überschrift "FTC Staff Report Finds 60 Percent Increase in Pharmaceutical Industry Deals That Delay Consumers' Access to Lower-Cost Generic Drugs" gibt es kostenlos. Ebenso den Report des "Bureau of Competition"Agreements Filed with the Federal Trade Commission under the Medicare Prescription Drug, Improvement, and Modernization Act of 2003 Overview of Agreements Filed in FY 2010".

Für die vergleichbare Praxis vor 2010 und einige normative Grundlagen für diese Art von Wettbewerbsbehinderung gibt der im Januar 2010 ebenfalls von der FTC veröffentlichte 16-Seiten-Bericht "Pay-for-Delay: How Drug Company Pay-Offs Cost Consumers Billions. An FTC Staff Study" Auskunft. Auch dieser Bericht steht kostenlos zur Verfügung.

Bernard Braun, 10.5.11


"Optimale" feste Selbstbeteiligungenn der ambulanten Versorgung - Nicht der Stein der Weisen!

Artikel 1929 Ein kürzlich im European Journal of Health Economics veröffentlichter Artikel untersucht den Effekt von so genannten Selbstbehalten - also den Ausgabenanteilen, die Versicherungsunternehmen selbst behalten, weil sie Versicherte jedes Jahr erst einmal aus eigener Tasche aufwänden müssen, bevor ihre private Kasse einspringt. Die Auswertung beruht auf den Daten der Wahrscheinlichkeitstafeln der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. Die BaFin erfasst jährlich die anschaulich als Kopfschäden bezeichneten Leistungsausgaben der Privaten Krankenversicherung (PKV) nach Alter, Geschlecht und Art der Leistung und gruppiert sie nach jährlichen Selbstbeteiligungen.
Die Berechnungen des Berliner Versicherungsmathematikers Karl Michael Ortmann von der Beuth Hochschule für Technik auf Grundlage der PKV-Daten weisen darauf hin, dass "optimale" absolute jährliche Festzuzahlungen oder Jahresfranchisen für ambulante Leistungen im gleichen Zeitraum die Inanspruchnahme und damit die Leistungsausgaben für die ambulante Versorgung insgesamt um bis zu 35 % verringern können. Optimal ist dabei in einem utilitaristischen Sinne als Summe des "Selbstbehalts" und Inanspruchnahme versicherter Leistungen im Sinne maximaler Kostenersparnis errechnet.
Auf den ersten Blick wirkt das Ergebnis tatsächlich bestechend: Mit Hilfe derartiger "optimaler" Selbstbeteiligungen lässt sich demnach mehr als ein Drittel der ambulanten Versorgungsausgaben einsparen. Im Fazit des Autors ist ein uneingeschränkter Glaube an segensbringende Wirkungen von Patientenzuzahlungen unübersehbar: "Sharing risk can establish a win-win situation for both parties. If both the insurer and the insured participate in paying claims the total financial burden may be reduced since everyone is interested in keeping costs at a minimum."

Allerdings schränkt der Autor selber das von ihm ermittelte phantastisch anmutende Einsparpotenzial gleich selber um fast die Hälfte ein, denn er habe ja leider aufgrund der Datenlage keine Unterteilung nach Inanspruchnahmeverhalten vornehmen können. Die so genannte Selbstselektion der Käufer von Gesundheitsleistungen führe dazu, dass Menschen mit höherer Nachrage geringere Selbstbeteiligungen bevorzugen. Im Klartext: Chronisch Kranke können eigentlich kaum ein Interesse an festen jährlichen Selbstbeteiligungen haben, da sie diese prinzipiell regelmäßig aufbringen müssen und schwerlich die Chance haben, hier zu sparen. Genau das ist aber ein Kernproblem der gesamten Zuzahlungs- und Moral-Hazard-Debatte, wie selbst deren Förderer Mark Pauly spät, aber dennoch eingestehen musste: Das Moral-Hazard-Theorem liefert bisher absolut keine Antwort auf das Problem kostspieligerer Versicherter - die bekanntlich 80 % der Gesundheitsausgaben verursachen.

Da Zuzahlungen offenbar zu den chronisch-rezidivierenden Themen der gesundheitspolitischen Debatte gehören, waren Selbstbeteiligungen schon immer wieder Thema im Forum Gesundheitspolitik. An dieser Stelle sei insbesondere auf die eher grundsätzlichen Beiträge zur Zuzahlungsproblematik hingewiesen, beispielsweise Was Sie schon immer über Zuzahlungen wissen wollten ..., Der unerschütterliche Glaube an Kostendämpfung durch Zuzahlungen, Womit können Therapietreue und Wirtschaftlichkeit verbessert werden?: "Weniger Zuzahlungen verbessern die Therapietreue!" oder Alte und neueste Ergebnisse der Forschung über erwünschte und unerwünschte Wirkungen von Zuzahlungen im Gesundheitsbereich.

Bemerkenswert bei dem Artikel von Ortmann die Nonchallance, mit der er als Versicherungsmathematiker über grundsätzliche Unterschiede zwischen der "Nachfrage auf dem Gesundheitsmarkt" und der nach "normalen Gütern" hinweg geht. So als wäre die Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen nicht viel stärker vom gesundheitlichen oder medizinischen Bedarf bestimmt als vom Bedürfnis befriedigendem Konsumverhalten. Die wissenschaftliche Diskussion über optimierte Zuzahlungsbedingungen bezieht seit etlichen Jahren Wirksamkeitskriterien in die Betrachtung ein, so genanten value-based benefit plans versuchen, de evidenzbasierten medizinischen Bedarfskriterien durch gestaffelte Zuzahlungen in Abhängigkeit von der nachgewiesenen Wirksamkeit einer Therapie, aber auch von der Nutzung von Generika oder Markenpräparaten, zu berücksichtigen. Auch hierzu berichteten wir im Forum Gesundheitspolitik bereits mehrfach, z.B. in dem Beitrag Zuzahlungen im Krankheitsfall: Versorgungsforschung widerlegt zunehmend kostendämpfendes Potenzial. Der Artikel über die vermeintlich Segen bringendem Effekte von festen jährlichen Selbstbeteiligungen in der Peer-Review-Zeitschrift EJHE, das sich immerhin eines Impact-Faktors von 1,337 rühmt, hinkt deutlich hinter dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Debatte her und liefert allein daher kaum hilfreiche Hinweise für die gesundheitspolitische Debatte.

Auch andere grundlegende und für das modellierte Ergebnis wesentliche Selektionsbedingungen lässt Karl Michael Ortmann außer Acht. So beschränkt sich seine Betrachtung auf PKV-Versicherte, als auf mehrheitlich besser Verdienende oder zumindest in vergleichsweise stabilen Arbeitsverhältnissen beschäftigte BürgerInnen dieses Landes. Die Frage, ob und wie weniger privilegierte Personen, wie sie n der ((Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) anzutreffen sind, die teils nicht unerheblichen jährlichen Eigenbeteiligungen überhaupt aufbringen sollen. Für etwa vier Millionen Hartz-IV-EmpfängerInnen und rund sieben Millionen Niedriglohnempfänger in diesem Land wären die vorgeschlagenen Selbstbeteiligungsoptionen alles andere als optimal, sondern würden einen erheblichen Eingriff in die Haushaltskasse darstellen.

Überaus bedenklich ist die ausschließliche Betrachtung der Auswirkungen von "optimalen Zuzahlungen" für die ambulante Versorgung auf ambulante Leistungen. Dass der Autor dies nicht einmal als Einschränkung und potenzielles Problem seiner Analyse benennt, lässt nur den Schluss zu, dass er die aktuelle Evidenzlage in der Versorgungsforschung nicht kennt oder nicht zur Kenntnis nimmt. Die Zuzahlungsforschung weist immer wieder Auswirkungen von Selbstbeteiligungen für Medikamente, diagnostische und andere ambulante Leistungen auf andere Leistungsausgabensparten sowie außerhalb des Gesundheitswesens nach. Eine überwältigende Fülle von Forschungsergebnissen einschließlich etlicher Meta-Analyse weist darauf hin, dass nicht jede eingesparte Gesundheitsleistung gut ist, sondern häufig Komplikationen und damit komplexere und kostspieligere Leistungen nach sich ziehen, Verlagerungen in andere Bereiche wie stationäre Heimunterbringungen verursachen und wirtschaftliche Einbußen durch Produktionsausfälle bewirken können. Die beschränkte Betrachtung eingesparter ambulanter Leistungen wird dem Stand der wissenschaftlichen Debatte über das Thema Zuzahlungen im Krankheitsfall nicht ansatzweise gerecht.

Überhaupt liegt dieser Artikel voll im Trend der ökonomischen Annäherung an das Thema Zuzahlungen im Gesundheitswesen. So betrachtet dieser Artikel wie selbstverständlich das berühmte moral hazard als unumstößliche Gegebenheit obwohl es bisher weder klare, messbare Kriterien noch empirisch belastbare Hinweise auf seine Existenz oder gar seine Bedeutung gäbe. Und natürlich folgt auch dieser Artikel der unter Ökonomen anhaltend verbreiteten Auffassung, das zwischen 1971 und 1982 in den USA durchgeführte so genannte RAND Krankenversicherungsexperiment sei weiterhin die "prominenteste Studie auf dem Gebiet der Zuzahlungen im Krankheitsfall. Daran sind aber mittlerweile vielfache und begründete Zweifel aufgetaucht, folgte das RAND-Experiment doch einem sehr engen Fokus und lässt relevante Effekte völlig außer Acht, wie beispielsweise die Canadian Health Services Research Foundation (CHSRF) in ihren Myth busters aufzeigt. Das Zweifel an der Aussagekraft des RAND-Experiemnents schon länger bekannt sind, zeigt auch der Beitrag mit dem knackigen Titel Lies, Damned Lies, and Health Care Zombies: Discredited Ideas That Will Not Die von GesundheitswissenschaftlerInnen der Universität British Columbia aus dem Jahr 1998.

Von dem Beitrag Optimal deductibles for outpatient services steht Nicht-AbonentInnen nur das Abstract kostenfrei zur Verfügung.

Jens Holst, 13.4.11


Betriebliches Gesundheitsmanagement: "Geld spielt (k)eine Rolle!?"

Artikel 1916 Eines der stärksten und auch schlecht wegzudiskutierendes Argument von Arbeitgebern gegen Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung sind seit Jahrzehnten die dadurch entstehenden kurz- bis mittelfristigen Kosten, die "man" sich wegen der Wettbewerbsnachteile oder wegen der damit verbundenen Minderung der Investitionsmittel nicht leisten könne. Daran wird selbst dann mantramäßig festgehalten, wenn immer mehr Untersuchungen (vgl. für Deutschland u.a. die iga-Studie 16 von Kramer und Bödeker) neben dem gesundheitlichen Nutzen für die ArbeitnehmerInnen oder das "Humankapital" auch den mittel- bis langfristigen betriebswirtschaftlichen Nutzen von Investitionen ("return on investment") in Gesundheitsförderung nachwiesen.

Zu der staatlichen Reaktion auf diese hartnäckige Weigerung, mehr in die betriebliche Gesunmdheitsförderung zu investieren, gehörte eine zum 1. Januar 2009 in Kraft getretene Änderung des § 3 Nr. 34 des Einkommensteuergesetzes.Dort heißt es u.a.: "Steuerfrei sind … zusätzlich zum ohnehin geschuldeten Arbeitslohn erbrachte Leistungen des Arbeitgebers zur Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustandes und der betrieblichen Gesundheitsförderung, die hinsichtlich Qualität, Zweckbindung und Zielgerichtetheit den Anforderungen der §§ 20 und 20 a des Fünften Buches Sozialgesetzbuch genügen, soweit sie 500 Euro im Kalenderjahr nicht übersteigen".
Die Verfasser eines Projekts, das die Inanspruchnahme dieser Regelung evaluierte fassten die Absichten des Gesetzgebers so zusammen: "In der amtlichen Begründung zur Einführung dieser Norm nennt der Gesetzgeber als Ziel der Steuerbefreiung, dass die Bereitschaft des Arbeitgebers erhöht werden soll, seinen Arbeitnehmern Dienstleistungen zur Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustandes sowie zur betrieblichen Gesundheitsförderung anzubieten und entsprechende Barzuschüsse für die Durchführung derartiger Maßnahmen zuzuwenden. Als weiteres Ziel wird eine Vereinfachung für die Arbeitgeber und die Finanzverwaltung genannt, weil Prüfungen, ob bei Leistungen zur Gesundheitsförderung Arbeitslohn vorliegt oder nicht, bei Anwendung der neuen Steuerbefreiung entbehrlich würden. Die Unternehmen müssen also bei Maßnahmen, die unter die Steuerbefreiung fallen, nicht mehr nachweisen, dass die Leistungen im ganz überwiegend eigenbetrieblichen Interesse liegen, wenn sie steuerfrei bleiben sollen."

Ob und wie die Unternehmen diese Regelung nutzten, stand zwei Jahre nach dem Beginn der steuerlichen Begünstigung von Gesundheitsförderungsmaßnahmen im Mittelpunkt einer Onlinebefragung von 47 Krankenkassen- und 29 Unfallversicherungs-MitarbeiterInnen. Zusätzlich wurden Insgesamt wurden 20 telefonische Kurzinterviews mit Personen geführt, die in Unternehmen Ansprechpartner für das Thema betriebliche Gesundheitsförderung sind. Die Interviewpartner waren Personalverantwortliche, Mitglieder der Geschäftsführung, Betriebsärzte und Mitarbeiter der Personalabteilung oder der Lohnbuchhaltung. Zehn der befragten Unternehmen sind große Unternehmen mit mehr als 249 Beschäftigen und weitere zehn Unternehmen gehören der Kategorie der mittleren Untenehmen mit 50 bis 249 Beschäftigen an. Kleinunternehmen mit weniger als 50 Mitarbeitern wurden nicht befragt. Informationen über die Praxis in kleineren Unternehmen wurden schließlich durch Interviews mit Steuerberatern zusammengetragen.

Zusammengefasst war folgende Praxis erkennbar:

• Die Mehrzahl der Unternehmen ist über die Steuerbefreiung informiert.
• Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Steuerbefreiung dazu geführt hat, dass Arbeitgeber vermehrt Leistungen zur Gesundheitsförderung anbieten.
• Die Anreizwirkung ist nicht groß genug, um bestehende Hemmnisse zu überwinden.
• Der Hauptgrund für die zu geringe Anreizwirkung ist darin zu sehen, dass mit der Regelung keine oder nur sehr geringe Vorteile für die Arbeitgeber verbunden sind.
• Ob es durch die Regelung einfacher geworden ist, steuerfreie Leistungen anzubieten, lässt sich nicht abschließend beurteilen. Es gibt aber Hinweise darauf, dass die Voraussetzungen und die Nachweispflichten als zu kompliziert empfunden werden. Weitere Hinweise sehen den qualitätssichernden Bezug auf den Leitfaden Prävention als zu einschränkend. Zwei Unternehmen kritisierten ausdrücklich, dass eine Bezuschussung von Fitnessstudio-Beiträgen nicht möglich sei.

Auch wenn die Befragungen nicht repräsentativ waren und die Ergebnisse daher nicht ohne weiteres verallgemeinert werden dürfen, zeigt sich deutlich, dass zumindest ein Teil der finanziellen Argumente gegen die Machbarkeit von Gesundheitsförderung vorgeschoben ist, Gesundheitsförderung also nicht allein oder entscheidend durch ein einfaches "noch Mehr" an Steuer- oder anderen Finanzerleichterungen initiiert werden kann. Auch das gut gemeinte Setzen auf "mehr und bessere Informationen" dürfte bei vielen Unternehmen nicht entscheidend dazu beitragen, überhaupt oder intensiver in die betriebliche Gesundheitsförderung einzusteigen. Zu besseren Informationen und vor weiteren finanziellen Anreizen allein müssen andere soziale Interventionen, mentale Veränderungen oder Sichtweisenveränderungen institutioneller und individueller Akteure erfolgen.

Der 24 Seiten-Projektbericht "Auswirkung der Steuerbefreiung auf die Verbreitung von betrieblicher Gesundheitsförderung" im Auftrag der "Initiative Gesundheit und Arbeit" der Sozialversicherungsträger ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 4.3.11


Unbequem, unethisch, tabuisiert: Haben KZ-Selektionsrampen, Euthanasie und die Priorisierung im Gesundheitswesen etwas gemein?

Artikel 1902 So drastisch bringt das Sondervotum in der gerade veröffentlichten Stellungnahme des durch das "Gesetz zur Einrichtung des Deutschen Ethikrats" aus dem Jahr 2007 eingerichteten Gremiums zum Thema "Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen - Zur normativen Funktion ihrer Bewertung" die damit thematisierten und für eine weitere offene öffentliche Debatte empfohlenen Fragen zum Ausdruck. Den Verfassern von Sondervotum und "Stellungnahme" geht es gemeinsam darum, dass Politiker, Wissenschaftler, gesellschaftliche Gruppen, Krankenkassenvertreter oder die Massenmedien, nicht weiter um den "heißen Brei" von Ressourcenallokation, Rationalisierung, Rationierung und Priorisierung herumschweigen, während nicht wenige Patienten oder Pflegebedürftige ihn hautnah nachteilig zu spüren bekommen.

Auf 81 Seiten breiten die pluralistisch zusammengesetzten Mitglieder des Ethikrates die Fülle der dabei zu berücksichtigenden Fakten, Faktoren und Normen aus und fassen diese Debatte in 12, hier auszugsweise zitierten Feststellungen so zusammen:

• "Eine Erhöhung der auf solidarischer Basis zur Verfügung stehenden Finanzmittel darf … nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Jedoch gibt es auch im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung Grenzen kollektiver Finanzierungsbereitschaft.
• Priorisierung, Rationalisierung und Rationierung (sollten) offen thematisiert werden. Jede Form einer "verdeckten Rationierung" medizinischer Leistungen ist abzulehnen. Notwendige Rationierungsentscheidungen dürfen nicht an den einzelnen Arzt oder die einzelne Pflegekraft delegiert werden.
• Das Sicheinlassen auf das Problem der Verteilung knapper Ressourcen im Gesundheitswesen bedeutet keine Festlegung auf eine "Ökonomisierung" von Entscheidungen. … Verteilungsentscheidungen sind nicht allein Gegenstand wissenschaftlicher Expertise, … Letztlich sind Entscheidungen über den Umfang solidarisch finanzierter Leistungen ethische Entscheidungen, die im gesellschaftlichen Diskurs und auf politischem Wege getroffen werden müssen.
• Zwischen den gesamtgesellschaftlichen Interessen und denjenigen des Einzelnen besteht ein Spannungsverhältnis. Das Prinzip der Menschenwürde und die Grundrechte erfordern einen durch Rechte gesicherten Zugang jedes Bürgers zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung. Diese Rechte dürfen nicht hinter etwaige Erwägungen zur Steigerung des kollektiven Nutzens zurückgestellt werden. Auch darf der errechnete oder vermutete sozio-ökonomische "Wert" von Individuen oder Gruppen nicht Grundlage von Verteilungsentscheidungen sein.
• Der Gesetzgeber hat zu beachten, dass Fragen der gesundheitspolitischen Mittelverteilung unter Bedingungen der Knappheit Gerechtigkeitsfragen sind, die nicht an wissenschaftliche Institute, Verbände oder Interessengruppen delegierbar sind. Eine Mindestanforderung ist die demokratische Legitimation der Entscheidungsträger; der demokratisch legitimierte Gesetzgeber darf sich seiner Verantwortung nicht entziehen.
• Der verantwortliche Einsatz knapper Ressourcen erfordert es, sie für Maßnahmen einzusetzen, die unter den alltäglichen Versorgungsbedingungen tatsächlich einen Nutzen erbringen.
• Die Transfer- und die Versorgungsforschung sind auszubauen, ebenso die vom Hersteller unabhängige Förderung versorgungsnaher klinischer Studien nach Zulassung eines Medikaments oder Medizinprodukts.
• Es ist eine Publikationspflicht für alle Studien anzustreben, unabhängig von ihrem Ergebnis.
• Im Kontext der Kosten-Nutzen-Bewertung medizinischer Leistungen gibt es aus ethischer und gerechtigkeitstheoretischer Sicht gewichtige Gründe dafür, nicht das Prinzip einer patientengruppenübergreifenden Nutzenmaximierung zu verfolgen.
• Aber auch die Kosteneffektivitätsberechnungen nach einem Effizienzgrenzenkonzept können nicht ethisch "neutral" als Maßstab der Angemessenheit von Erstattungsentscheidungen für Innovationen dienen.
• Die Auswirkungen der aktuellen Vorgaben zur Kosten-Nutzen-Bewertung in Deutschland sind zurzeit wegen des formell unveränderten Anspruchs der Versicherten auf Versorgung mit allem medizinisch Notwendigen im Wesentlichen unschädlich. Sie dienen derzeit nicht als Instrument zur Verteilung knapper Ressourcen, sondern zur Preisfestsetzung.
• Die in Zukunft zu erwartende Notwendigkeit von Rationierungsentscheidungen wird den Gesetzgeber aber zwingen zu klären, in welchem Umfang Leistungsansprüche nach § 27 und § 12 SGB V von einer Kosten-Nutzen-Bewertung beeinflusst werden dürfen und in welchem Verhältnis sich diese zum Kriterium der medizinischen Notwendigkeit verhält."

Dem Plädoyer, die hier angesprochenen Fragen so öffentlich wie möglich zu diskutieren und konsensuale Antworten zu finden, folgen hoffentlich große Teile der interessierten, aktiv und passiv betroffenen BürgerInnen und sollten sich auch nicht wieder in die "(Ver)-Schweigepositionen" zurückfallen oder -drängen lassen.

Beim Einstieg hilft die Lektüre der gesamten, insgesamt verständlich formulierten Stellungnahme ausgezeichnet.

Die Stellungnahme "Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen - Zur normativen Funktion ihrer Bewertung" des Deutschen Ethikrats vom 27. Januar 2011 ist komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 31.1.11


Fachgesellschaft der Gesundheitsökonomen pfeift auf wissenschaftliche Empirie

Artikel 1894 Die Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsökonomie fühlte sich im vergangenen September anlässlich der Reformideen von Gesundheitsminister Philipp Rösler veranlasst, die Öffentlichkeit mit einer Presseerklärung mit dem Titel Gegen ein "Weiter so!" in der Gesundheitspolitik zu beglücken. Explizit beziehen sich die Wirtschaftfachleute auf die folgenden sechs Reformelemente:

1. Wiederanhebung des allgemeinen Beitragsatzes zur GKV auf 15,5%;
2. Festschreibung des Arbeitgeberbeitrags auf den neuen Wert von 7,3 Prozent;
3. Aufhebung der "Überforderungsgrenze" bei den Zusatzbeiträgen,
4. Einführung eines Sozialausgleichs bei Überforderung (> 2 % des Einkommens)
5. Verbot des Anstiegs der Verwaltungskosten der Krankenkassen bis 2012,
6. Begrenzungen der Ausgabenzuwächse in mehreren Leistungsbereichen.

Unter Bezugnahme auf die darin vorgesehenen und mittlerweile umgesetzten Maßnahmen kritisieren deutsche Gesundheitsökonomen diese Maßnahmen als ungeeignet, "Qualität und Wirtschaftlichkeit der Gesundheitsversorgung in Deutschland zu steigern" und vermissen das "im Koalitionsvertrag angekündigte neue Finanzierungsmodell" der schwarz-gelben Regierung. Namentlich unterzeichnet ist die Presseerklärung von Stefan Willich (Berlin), Volker Ulrich (Bayreuth), Friedrich Breyer (Konstanz) und Stefan Felder (Duisburg-Essen).

Nicht die Kritik an der halbherzigen und seine Ankündigungen eines "robusten Gesundheitswesens, dass nicht alle 2-3 Jahre reformierte werden müsse" ad absurdum führenden Reform ist überraschend, sondern es sind vielmehr die Begründungen, die aufhorchen lassen. Hier ein paar Kostproben:
• Eine stärkere Steuerfinanzierung mögen die vier Herren allenfalls kurzfristig akzeptieren, langfristig aber sei das nicht gut, denn: Eine Umwegfinanzierung über Steuern verringert die Transparenz von Kosten und Leistungen. Als wenn Kranke gesundeten, wenn sie nur wüssten, wie teuer die Behandlungen sind.
• Den Arbeitgeberanteil hätten die vier Ökonomen lieber auf dem alten, niedrigen Niveau eingefroren - sonst belaste er ja die Arbeitskosten. Dass dies nach allen empirischen Untersuchungen völlig vernachlässigbar ist, scheint an den Herren vorbeigegangen zu sein.
• Der Zusatzbeitrag sei gut, aber die Beschränkungen in der Höhe und auf Mitglieder verhindere, dass er zu einem echten Preis wird. Das sollten sich alle Zusatzbeitragszahler hinter die Ohren schreiben: Sie werde immer einen unechten Preis zahlen - was immer das sein mag.
• Die vier Krankheitsökonomen vermissen den Einstieg in die Kopfpauschale - spätestens hier wird klar, wohin die Reise eigentlich gehen soll.

Neben weiteren Kritikpunkten vermissen die Sprecher der DGGÖ selbstverständlich auch Wettbewerbselemente nicht nur im Krankenhauswesen, sondern vor allem bei den Krankenkassen und fordern eine weitere Flexibilisierung aller Vertragsgestaltungsbedingungen. Besonders bedenkenswert liest sich dabei der Satz: " Der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen könnte hier als Entdeckungsverfahren wirken, ...". Das ist wirklich eine intellektuelle Höchstleistung: Abenteuerspielplatz Gesundheitswesen für abgehobene Wirtschaftstheoretiker. Dass dabei Viele auf der Strecke bleiben und kläglich am System scheitern werden, kommt den Herren nicht in den Sinn - sie haben ja ihre Festanstellung auf Lebenszeit und lassen sich ihre Professorengehälter zum Teil noch stattlich von der Pharma-Industrie aufstocken. Vielleicht würde da mal ein Blick in Länder wie Chile, Kolumbien oder auch in die Schweiz helfen, und zwei jenseits ökonomischer Modellrechnungen und Zahlenkolonnen auf das, was sich mache Bürger nicht leisten können oder sie in die Armut treibt.

Auch wenn man angesichts solcher Statements schon arge Zweifel an der wissenschaftlichen Zurechnungsfähigkeit einer ganzen Fachgesellschaft bekommen kann - es gibt auch andere Stimmen im Land. Spät, aber dennoch reagierten Rolf Rosenbrock, der Leiter der Forschungsgruppe Public Health am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), und Hartmut Reiners, ein gesundheitspolitischer Pragmatiker mit langjähriger Berufserfahrung in Ministerien und nicht in Elfenbeintürmen. Ihr Vorwurf an die vier Wirtschaftsprofessoren lautet kurz und prägnant: "Ihre Presseerklärung enthält eine ganze Reihe von Aussagen, die auf empirisch widerlegten Ideologemen beruhen ". In ihrem Anfang Januar 2011 an die DGGÖ geschickten offenen Brief stellen Rosenbrock und Reiners die Kernaussagen und vor allem die wissenschaftliche Grundlage der DGGÖ-Presseerklärung in Frage: "Es ist absolut legitim, gesellschaftspolitische Positionen zu beziehen, nicht jedoch, diese als wissenschaftliche Paradigmen zu tarnen ".

Auf insgesamt acht Seiten setzen sich die beiden Autoren mit unverkennbarer Liebe zum Detail mit den Forderungen, Wünschen und Kritikpunkten der vier Ökonomen auseinander. Beispielsweise mit der aufgeworfenen Forderung nach mehr Transparenz und den unterstellten Effekten: "Es erscheint uns seltsam, diesen angeblichen Transparenzgewinn als einziges Kriterium in der ordnungspolitischen (und damit zutiefst ökonomischen) Grundfrage Steuer- und Beitragfinanzierung zu wählen. Warum soll diese Transparenz für die Versicherten überhaupt wichtig sein? Doch wohl nur, wenn man annimmt, sie würden sonst Leistungen ohne Grund und Not in Anspruch genommen. Auf welchem wissenschaftlichen Fundament steht diese Aussage? Wo sind die empirischen Befunde über relevantes moral hazard-Verhalten durch die Versicherten der GKV? Und noch mehr: wo sind die Befunde die zeigen, dass einem solchen Verhalten - so es denn wirklich relevant ist - durch mehr Transparenz über die Quellen des GKV-Budgets beizukommen sei?"

Auch zur Forderung nach Einfrieren des Arbeitgeberbeitrags auf niedrigem Niveau schreiben Rosenbrock und Reiners den Autoren mangelnde Wissenschaftlichkeit in Stammbuch: "Sie stellen hier einen Zusammenhang von GKV-Ausgaben und Arbeitskosten her, der in mehrfacher Hinsicht wissenschaftlich nicht belegbar ist und eher einer Presseerklärung des Arbeitgeberverbandes entspricht als der einer wissenschaftlichen Fachgesellschaft." Weiter geht es mit der Bedeutung des Zusatzbeitrags als "echter Preis": "Mit dem Postulat, der Zusatzbeitrag müsse ein "echter Preis"sein, machen Sie die Erfüllung eines Dogmas der neoklassischen Preistheorie zum Maß der Dinge und nicht die Lösung realer Probleme. Was, bitte schön, macht einen "echten" Preis aus? Und was ist dann ein "unechter"?

Auch bei der Grundsatzfrage des Einstiegs in ein neues Finanzierungsmodell sind der Leiter der Public-Health-Abteilung im WZB und der Autor des für ForumsleserInnen zweifellos überaus informativen und spannenden Buches Mythen der Gesundheitspolitiknicht zimperlich in ihrer kritik an der DGGÖ-Erklärung: "Im Gegensatz zu Ihnen sind wir aber keineswegs der Meinung, dass die Regierung ... eine langfristige Strategie vermissen (lässt), ob der Ausbau der Zusatzbeiträge einen Einstieg in die Gesundheitsprämie bedeuten soll oder nicht. Haben Sie wirklich nicht verstanden, dass die im GKVFinG enthaltene Konstruktion des Zusatzbeitrages und des Sozialausgleichs der pfeilgerade Weg in die (von Ihnen gewünschte?) "Gesundheitsprämie" ist, und zwar letztlich ohne einen Sozialausgleich?" Die Autoren bieten sogleich Nachhilfe an. Wer ihre Ausführungen zu dieser und zu anderen Thesen der vier Wirtschaftsprofessoren genauer kennen lernen möchte, sollte lieber selber nachlesen.

Dafür stellen wir auf dieser Seite sowohl die Presseerklärung der DGGO als auch den offenen Brief von Rolf Rosenbrock und Hartmut Reiners zum Download zur Verfügung.

Mittlerweile liegt auch eine Antwort des Vorsitzenden der DGGÖ} vor, die per Mail an die beiden Autoren des offenen Briefs ging. Unter dem Hinweis, "die Homepage der DGGÖ (sei) nicht als Plattform für kontroverse Diskussionen gedacht", geht das Antwortschreiben des DGGÖ-Vorstands auf zweieinhalb Einzelpunkte ein und versucht, sie eher lustlos zu widerlegen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung sieht anders aus. Aber die glaubt manch einer im DGGÖ-Vorstand ohnehin nicht nötig zu haben, sondern wähnt sich über jeden Zweifel erhaben. Selbst bei den abstrusesten Vorstellungen und Ansätze fordert man schlicht die Umkehr der Beweislast. So behauptet DGGÖ-Vorstandsmitgöied Stefan Felder in einem Interview im KVH Journal, Gesundheitsökonomen müssten ihre Thesen gar nicht belegen: "Nicht wir Ökonomen müssen etwas nachweisen. Die Leistungserbringer, die Kassen und ihre Verbände müssen begründete Argumente vorbringen, weshalb im Gesundheitsbereich andere Regeln gelten sollen als im übrigen Teil der Wirtschaft." Hier können Sie auch die gesamte Februar-Ausgabe 2009 der Mitgliederzeitschrift der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg herunterladen.

Angesichts solcher und anderer Einschätzungen muss man die Forderung von Wirtschaftsressort-Chef Robert von Heusinger am Ende seiner Analyse Ökonomen auf dem Holzweg in der Berliner Zeitung bzw. der Frankfurter Rundschau wohl auch auf eine andere Sparte der Wirtschaftswissenschaften übertragen: Deutschland braucht dringend neue Gesundheitsökonomen. Und - ebenfalls in Anlehnung an von Heusinger - empiriegestützte Aufklärung anstatt glaubensbasierter und selbstreferenzieller Folklore.

Jens Holst, 13.1.11


Trotz Aufschwung: Auch 2010 stagniert die Bruttolohnquote als eine Basis der GKV-Einnahmen auf dem erreichten niedrigen Niveau

Artikel 1882 Wie die Entwicklung der Lohneinkommen als einer Grundlage für die einkommensbezogene Finanzierung der GKV und anderer Sozialversicherungsträger aussieht, illustriert der aktuelle Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung.

Neben vielen anderen verteilungspolitisch relevanten Erkenntnissen, belegt der Bericht mit amtlichen Daten folgende Verhältnisse:

• Die Bruttolohnquote, d.h. der Anteil der Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit einschließlich der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung zur Sozialversicherung am Volkseinkommen fiel zwischen 1991 und 2008 von 71 % auf 65,4 %. 2009 stieg sie unter dem Einfluss der krisendämpfenden arbeitspolitischen Aktivitäten (z.B. Intensivierung der Kurzarbeit und Auflösung von Arbeitszeitkonten) entgegen dem sonstigen wirtschaftlichen Trend auf 68,4 %. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und der Rückkehr der alten Verteilungsnormalität in Deutschland, fiel die Bruttolohnquote aber bereits im ersten Halbjahr wieder auf 65,5 % zurück.
• Strukturbereinigt, d.h. ohne den Effekt der veränderten Erwerbstätigenstruktur in den Untersuchungsjahren bewegte sich die Bruttolohnqoute im selben Zeitraum von 71 % auf 64,7 %. Die Basis für prozentuale Beiträge wird also auch nach der Krise nicht größer werden, sondern wahrscheinlich noch etwas kleiner.
• Ein interessanter Beleg für das Thema "Aufschwung-Gewinner": Die Bruttogewinnquote stieg von 1991 bis zum 1. Halbjahr 2010 von 29 % auf 34,5 %..
• Die Nettolohnquote, also das was vom Bruttoeinkommen nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen übrigbleibt, sank vor und nach der Krise noch deutlicher: Der Betrag fiel von 1991 mit 48,1 % (oder nach einer anderen Berechnungsmethode 40,3 %) auf 40,9 % (34,3 %) im Jahr 2008, stieg aus den genannten Gründen 2009 auf 41,1 % (35,7 %) und fiel dann im 1. Halbjahr 2010 sogar auf 39,4 % (34 %).
• Auch ohne dass z.B. die neuen Zusatzbeiträge in der GKV, die Praxisgebühr, die konstant bleibenden Zuzahlungen zu rund 75 % der GKV-Leistungen oder die Eigenleistungen für Gesundheitsausgaben, die nicht mehr von der GKV bezahlt werden dabei eingerechnet sind, stieg die Belastung der Bruttoeinkommen durch Sozialbeiträge von 14,3 % (1991) auf 18,2 % (1. Halbjahr 2010).
• Die Belastung von Gewinn- und Vermögenseinkommen durch Pflicht- und freiwillige Beiträge stieg im selben Zeitraum von 3,1 % über den zwischenzeitlichen Spitzenbetrag von 3,7 % (1997) auf 3,4 %.

Der faktenreiche Aufsatz "Zukunftsgefährdung statt Krisenlehren - WSI-Verteilungsbericht 2010" von Claus Schäfer ist in den WSI-Mitteilungen 12-2010 erschienen und komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 5.12.10


Weltgesundheitsbericht 2010 der WHO: Der Weg zu universeller Sicherung

Artikel 1881 Für viele kam und ist er ziemlich überraschend, der Weltgesundheitsbericht 2010. Nicht nur der Titel Health Systems Financing: Path to universal coverage ist vielversprechend nach jahrzehntelanger Vorherrschaft neoliberaler, marktideologischer Forderungen nach Rückbau des Staates und Fokussierung auf pures Wirtschaftswachstum ohne Rücksicht auf soziale Verluste. Zwar hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schon der Vergangenheit wiederholt die Themen Gesundheitssystementwicklung bzw. Gesundheitsfinanzierung aufgenommen. Dabei hatte sie sich jedoch wiederholt der Kritik von einigen Regierungen, vielen Nichtregierungsorganisationen (NGO) und nicht wenigen Wissenschaftlern ausgesetzt, die eine vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern wenig hilfreich erscheinende ökonomistische Einengung und Betonung von marktwirtschaftlichen Lösungsansätzen erkannten. Damit lag die WHO zwar näher an der Linie anderer großer internationaler Organisationen, allen voran der Weltbank, der Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Welthandelsorganisation (WTO).

Nun hat sich die WHO als Sonderorganisation der Vereinten Nationen im Bereich Gesundheit offenbar wieder stärker als in vergangenen Jahren auf ihr Kerngebiet besonnen und ihre Alleinstellungsmerkmale wieder entdeckt. Denn der WHR 2010 definiert ein zentrales, letztlich allen anderen Kriterien übergeordnetes Ziel von Gesundheitssystementwicklung und vor allem Gesundheitsfinanzierung: die universelle gesellschaftliche Absicherung gegen finanzielle Krankheitsrisiken. Universal coverage lautet der von der WHO genutzte Begriff, der systemunabhängig die Zielsetzung umreißt. Universalität beschränkt sich dabei nicht mehr nur auf die Frage, ob die gesamte Bevölkerung sozial abgesichert ist, sondern bezieht zwei zusätzliche Dimensionen ein, die für bezahlbaren Zugang zu erforderlichen Gesundheitsleistungen für Alle unerlässlich sind, nämlich den Umfang des zugänglichen Leistungskatalogs und das Ausmaß der Kostenübernahme.

Damit hat die WHO klare Vorgaben für den Aufbau ebenso wie für die Reform von Gesundheitssystemen gemacht, Vor dem Hintergrund, dass Milliarden Menschen über keinerlei soziale Absicherung verfügen, ist jedes Land aufgefordert, den Schutz seiner gesamten Bevölkerung anzustreben - egal wie zahlungskräftig die einzelnen BürgerInnen sind. Der WHR sagt dazu eindeutig, die Einbeziehung der Armen kann nur über öffentliche Mittel funktionieren, was im Übrigen in den europäischen und anderen Industrieländern viel selbstverständlicher der Fall ist, als viele Beobachter oder Politiker wahrnehmen.

Doch es reicht nicht, so die WHO in ihrem Jahresbericht 2010, dass die Menschen irgendeinem sozialen Sicherungssystem angehören; schließlich ist das Recht auf Gesundheit(sversorgung) in vielen Ländern in der Verfassung verankert, nützt den Menschen aber rein gar nichts. Entscheidend ist auch die Frage, welche Gesundheitsleistungen überhaupt abgesichert sind und in welchem Umfang das der Fall ist. Gerade in Entwicklungsländern haben die BürgerInnen nur Anspruch auf ein kleines Leistungspaket, oft nur Prävention und ambulante Versorgung, oder nur stationäre Behandlungen. Das akzeptiert der WHR 2010 allenfalls als Zwischenzustand auf dem Weg zum klar umrissenen Ziel, möglichst für alle Gesundheitsrisiken Schutz zu gewährleisten. Und es ist eine klare Absage an die von Weltbank und anderen Gebern Vorstellung eines "essential package" für ärmere Menschen, deren Absicherung nur von den verfügbaren oder als verfügbar angenommenen Ressourcen, aber nicht vom realen Bedarf abhängen soll.

Die dritte Dimension ist der effektive finanzielle Schutz, den das jeweilige soziale Sicherungssystem seinen Mitgliedern zugesteht. Der hängt zwar direkt mit dem Umfang des Leistungspakets zusammen, wo Menschen nicht abgesicherte Leistungen voll aus eigener Tasche zahlen müssen. Aber auch bei den eingeschlossenen diagnostischen- und Behandlungsleistungen erfolgt vielfach keine vollständige Kostenübernahme. Alle Formen von Selbstbeteiligungen bzw. Zuzahlungen schränken den Umfang der sozialen Absicherung ein und laufen daher dem Konzept universeller Absicherung zuwider. Überhaupt erkennt die WHO in ihrem Jahresbericht 2010 erstmalig ohne nennenswerte Relativierung die potenziell schädlichen Wirkungen von Direktzahlungen im Gesundheitswesen an: "Direct payments have serious repercussions for health. Making people pay at the point of delivery discourages them from using services (particularly health promotion and prevention), and encourages them to postpone health checks. This means they do not receive treatment early, when the prospects for cure are greatest." Und weiter heißt es: "Direct payments also hurt household finances. Many people who do seek treatment, and have to pay for it at the point of delivery, suffer severe financial difficulties as a consequence".

Alles zusammen genommen ist der Weltgesundheitsbericht 2010 eine klare Absage an gängige Glaubenssätze, die bisher die nationale wie die internationale Gesundheitspolitik bestimmten. Dazu gehört auch die von der aktuellen Bundesregierung unaufhörlich wiederholte Idee, eine Stärkung der Privatwirtschaft könne genügend ökonomische Reserven frei setzen, um im Sinne des ohnehin mittlerweile widerlegten Trickle-Down-Effekts irgendwann auch den Armen zu Gute zu kommen. Insgesamt liefert der WHR 2010 überzeugende konzeptionelle Begründungen und empirische Belege dafür, dass mehr Markt im Gesundheitswesen schwerlich die allseitig suggerierten heilsbringenden Effekte erwarten lässt. Der Bericht enthält viele nachvollziehbar begründete und empirische belegte Empfehlungen sowohl für die nationale Gesundheitspolitik, als auch für die internationale Entwicklungszusammenarbeit, die einige bisherige Ansätze grundsätzlich in Frage stellt und zum Neu-Denken auffordert. Nicht zuletzt in Deutschland, wo die Gesundheitspolitik der letzten Regierungen, also sowohl von Rot-Grün als auch der großen Koalition und Schwarz-Gelb, nur beim Einschluss der Gesamtbevölkerung Fortschritte erzielt haben; die kontinuierlichen Abstriche beim Leistungspaket und zunehmende Zuzahlungen entfernen das deutsche Gesundheitswesen hingegen zunehmend von universeller Absicherung im Krankheitsfall.

Die offizielle Vorstellung des Weltgesundheitsberichts fand in diesem Jahr im Berliner Sitz des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) in Berlin statt. Noch unter der großen Koalition hatte sich Deutschland als nicht-ständiges Mitglied im Exekutivrat der WHO für das Thema soziale Sicherung stark gemacht und die Weltgesundheitsorganisation in ihrem Bemühen unterstützt, dem Thema der sozial gerechten und nachhaltigen Gesundheitsfinanzierung den Raum zu geben, den es entwicklungs- und sozialpolitisch einnehmen sollte.

Die mittlerweile liberal geführten Ministerien BMG und BMZ (Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) organisierten gemeinsam aus Anlass der Vorstellung des Weltgesundheitsberichts am 22. Und 23. November 2010 eine internationale Ministerkonferenz, an der knapp 40 Minister aus ganz unterschiedlichen Kontinenten teilnahmen. Zentrales Thema war die Frage, wie Länder die Gesundheitsversorgung ihrer Bürger organisieren können. In enger Anlehnung an den Weltgesundheitsbericht 2010 lag das Augenmerk der anderthalbtägigen Konferenz auf der Frage, wie universelle Sicherung im Gesundheitswesen im Sinne er WHO-Definition zu erreichen ist.

Die Hauptrede hielt der ehemalige WHO-Mitarbeiter und mexikanische Gesundheitsminister Julio Frenk zum Thema Leadership for Universal Health Coverage. The Technical, Political, and Ethical Pillars of Reform. Darin analysierte er die Wege und die Effektivität wachsender internationaler Ressourcen für Gesundheit und betonte vor allem die große Bedeutung der Berücksichtigung empirisch belegter Ergebnisse und Auswirkungen in Politikentscheidungen im Sinne von "evidence-based policy". Genau darauf hatte er in seiner sechsjährigen Amtszeit gesetzt und mit Hilfe eines großen Teams aus Epidemiologen, Gesundheitswissenschaftlern, Ökonomen und anderen Disziplinen immer wieder überzeugende empirische Belege liefern können, um den Finanzminister davon zu überzeugen, dass mehr Geld heute später Einsparungen bewirken würde. Die Keynote des jetzigen Dekans der Public-Health-Fakultät in Harvard, der wie wenig andere Wissenschaft und Politikentscheidungen zusammenbringt, während der internationalen Ministerkonferenz Ende November 2010 steht hier zum Download zur Verfügung.

Weitere Vorträge und anderes Material zur internationalen Ministerkonferenz us Anlass der Vorstellung des Weltgesundheitsberichts finden Sie auf der Konferenzwebsite.
Den gesamten World Health Report 2010 in englischer Sprache kann man kostenfrei hier herunterladen. Ebenfalls frei verfügbar ist eine deutschssprachige Kurzfassung des Weltgesundheitsberichts 2010.

Jens Holst, 26.11.10


Bremer Wissenschaftler fordern soziale Zuzahlungen nur für weniger kosteneffiziente Leistungen

Artikel 1816 In einem Beitrag für die Zeitschrift für Sozialreform (Nr. 55 (1), S. 71-90) aus dem Jahr 2009 entwickeln Ralf Götze und Tina Salomon vom Zentrum für Sozialpolitik (ZeS) der Universität Bremen die Idee einer einkommens- und morbiditätsadjustierten Selbstbeteiligung. Das klingt überzeugend, und dank des knackigen Namens fair fee auch verlockend.

Zunächst zeichnen die AutorInnen die historischen Entwicklungen der Selbstbeteiligungen im deutschen Gesundheitswesen und ihre Rolle in Rahmen der Kostendämpfungspolitik nach, bevor sie den immanenten Konflikt zwischen Effizienz auf Grund der unterstellten Steuerungseffekte und sozialer Gerechtigkeit sowie erwünschte und unerwünschte Wirkungen diskutieren. Unter Verweis auf das in § 3 SGB V verankerte Solidarprinzip, wonach sich die Höhe der Finanzierungsbeiträge nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der BürgerInnen richten sollen, leiten die AutorInnen den Wunsch ab, Zuzahlungen mögen nicht die ärmeren und mit schlechterer Gesundheit geschlagenen Menschen benachteiligen. Dies geschähe aber zurzeit aufgrund aller geltenden Zuzahlungsregelungen, die eine regressive Wirkung entfalteten und insbesondere chronische Kranke stark belasteten. Die AutorInnen fordern zunächst das Verbot aller schädlichen und unnützen Gesundheitsleistungen und den Ausschluss von "Güter(n) und Leistungen ohne erkennbaren Nutzen" aus dem Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Ihr Vorschlag bezieht sich auf "das Segment der als medizinisch sinnvoll bewerteten Therapien, die sich für eine kollektive (Teil-)Finanzierung qualifizieren". Innerhalb dieser Gruppe sollen eine Güterabwägung nach individuellen Kosten-Nutzen-Erwägungen und die Zuordnung in einen Basis- und einen Wahlkatalog erfolgen mit unterschiedlichen Zuzahlungsmodalitäten: "Im Basisleistungskatalog hat die Selbstbeteiligung lediglich einen pauschalen Charakter, um einen statischen Moral Hazard in Form einer ungebremsten Mengenausweitung zu verhindern. Im Wahlleistungssegment nimmt sie dagegen zusätzlich den Charakter eines Indemnitätstarifs an. Durch die Beteiligung an den Mehrkosten einer teureren Therapieform wird der Patient dazu angehalten, seinen dynamischen Moral Hazard einzuschränken."

Vor allem im Wahlleistungsbereich würden die unterschiedlichen Einkommens- und Morbiditätsbedingungen zu unerwünschten Verzerrungen führen. Um dies zu verhindern, wäre eine Adjustierung der Selbstbeteiligungen nach Einkommen und Morbidität erforderlich - nach der schlichten Formel Zk = Aym (Zl + Zw) = Aym (Zl + (Kw - Kb)). Zwischen Finanzierern und Leistungserbringern ließe sich eine solche einkommens- und morbiditätsbezogene kombinierte Zuzahlung dank der elektronischen Gesundheitskarte und mit einer zertifizierten Anbietersoftware mühelos für jede Gesundheitsleistung ermitteln, mutmaßen die AutorInnen und liefern eine Matrix für die Berechnung der anfallenden Zuzahlungen mit. Insgesamt könne man so Steuerungswirkungen bei BezieherInnen hoher Einkommen verstärken und gleichzeitig die unerwünschten Wirkungen bei den unteren Einkommensgruppen abschwächen.

Diese Idee klingt auf den ersten Blick gut. Bei genauerem Lesen stellen sich aber mehr Fragen als die AutorInnen Antworten zu liefern in der Lage sind. Sehr praxisnah wirkt die Forderung nach "fair fees "nicht, zur Umsetzung ist eine erhebliche und zurzeit schwerlich absehbare IT-Nachrüstung des deutschen Gesundheitswesens erforderlich - einschließlich der wünschenswerten Vertraulichkeitsgarantien aller Daten. Und die Frage, wie sich ihr Vorschlag denn in die allgegenwärtige Forderung nach "Bürokratieabbau" einpassen soll, bleiben sie ebenfalls schuldig. Auffällig bei dem aufwändig entwickelten Vorschlag für gerechtere Zuzahlungen ist vor allem die Unterteilung nach unterschiedlichen Graden von Kosteneffizienz. Abgesehen davon, dass dies keineswegs so leicht zu ermitteln ist und unvermeidlich einen gewissen Grad an Willkür mit sich bringt, gestaltet sich das Differenzieren zwischen Basis- und Wahlleistungen ja bekanntlich in der Praxis als überaus schwierig. Unverständlich bleibt aber vor allem, warum gerade für Gesundheitsleistungen mit hohem Nutzen im Verhältnis zu den Kosten weiterhin pauschale und damit regressive Eigenbeteiligungen gelten sollten, und weshalb sich die soziale Nachjustierung auf Wahlleistungen mit schlechterer Kosten-Nutzen-Relation beschränken möge. Sich darüber derart ausgefeilte Gedanken zu machen erscheint nur dann sinnvoll, wenn man den Wahlleistungen eine ausgesprochen große Bedeutung zumisst. Das mag den Verfechtern des wachsenden - zweiten - Gesundheitsmarktes schmecken, erscheint aber zunächst nicht zwingend sinnvoll.

Nicht so offen, wie es die AutorInnen darstellen, ist auch "die Frage, ob durch die Zuzahlungen in der aktuell geltenden Praxis mehr als vereinzelte Individuen von der eigentlich notwendigen Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen abgeschreckt werden". Auch wenn die Auswirkungen der Praxisgebühr - abgesehen von den überschuldeten Haushalten, wie bereits im Forum Gesundheitspolitik in dem Artikel Zuzahlungen und Praxisgebühr führen zur eingeschränkten Inanspruchnahme auch medizinisch notwendiger Leistungen bei Überschuldeten nachzulesen war - bisher uneindeutig sind, sprechen Erfahrungen mit unterschiedlichen Zuzahlungsformen für verschiedene Gesundheitsleistungen in anderen Ländern eine sehr deutliche Sprache.

Erheblich unklarer ist indes die von den AutorInnen gar nicht gestellte Frage, ob und in welchem Maße nachfrageseitiges moral hazard - und nur diesem kann man durch Zuzahlungen effektiv begegnen - überhaupt im Gesundheitswesen relevant ist. Denn wer den engen Rahmen ökonomischer Modellrechnungen verlässt und klinisch-epidemiologische Erkenntnisse sowie solche aus der Versorgungsforschung in die Betrachtung von Zuzahlungswirkungen und moral hazard einbezieht, stößt auf unübersehbare Zweifel an der Vorstellung von sinnvoller Steuerung. Bisher ist nicht erwiesen, dass Zuzahlungen mehr Nutzen als Schaden anrichten. Vielmehr gibt es eine Vielzahl empirischer Hinweise - einschließlich der RAND-Studie -, die eher das Gegenteil nahe legen. Einer grundsätzlichen Fehlsteuerung können auch die ausgeklügelsten Zuzahlungsformen nicht entgegenwirken.

Dass die AutorInnen wesentliche Erkenntnisse aus der internationalen Zuzahlungsforschung nicht hinreichend zur Kenntnis genommen haben, zeigt sich an mehreren Stellen ihres Papers. So ist die Einschätzung bemerkenswert, die bis heute umfangreichste Studie zur Steuerungswirkung von Zuzahlungen sei das RAND Health Insurance Experiment. Mag diese Aussage für streng experimentelle Untersuchungen zutreffen, liegen doch mittlerweile etliche quasi-experimentelle Analysen mit weitaus mehr als den 5,500 Versuchspersonen des RAND-Experiments vor. Um an den wohlgemerkt ersten bzw. zunächst schlichten Schlussfolgerungen dieser Studie festhalten zu können, die bis heute maßgeblich den Glauben an sinnvoll steuernde Wirkungen von Zuzahlungen belegt, gehen die AutorInnen gar nicht auf den mittlerweile umfangreich diskutierten RAND-Irrtum ein, den sogar einige Studienautoren wie Joseph Newhouse im Nachhinein eingeräumt haben. Eine systematische Analyse der Beschränkungen, die zu großer Vorsicht bei der Verallgemeinerung der RAND-Befunde rät, liefern Raise Deber, Evely Forget und Leslie Roos in Ihrem Artikel Medical savings accounts in a universal system: wishful thinking meets evidence, der Anfang 2004 in Health Policy 70 (1) erschien Abstract. Bei den üblichen argumentativen Rückgriffen auf die RAND-Studie kommen die systematischen Unzulänglichkeiten regelmäßig zu kurz oder gar nicht zur Sprache.

Und noch ein Satz in der Abhandlung von Götze und Salomon lässt aufhorchen: "Zugrunde liegt beiden Ansätzen die Annahme, dass der Arztbesuch und die weiteren in Anspruch genommenen medizinischen Leistungen und Güter selbst nicht ausreichend unangenehm sind, um das Individuum dazu zu bewegen, seinen Konsum von Gesundheitsleistungen auf das zum Erhalt der Gesundheit notwendige Maß zu beschränken." Solche Aussagen können nur Menschen treffen, die bisher offenbar von schwerwiegenden Gesundheitsproblemen verschont geblieben sind und den "reichlich herben Genuss einer Bypass-Operation oder Chemo-Therapie" nicht kennen lernen durften, wie es Hartmut Reiners auf Seite 16 in seinem Aufsatz "Homo oeconomicus" so trefflich formuliert. Vor allem aber gehen die AutorInnen davon aus, es gäbe ein "zum Erhalt der Gesundheit notwendige(s) Maß" an Gesundheitsleistungen. Außerhalb universitärer Elfenbeintürme erweisen die klinische wie die Versorgungsforschung die unterstellte, der Zuzahlungsideologie grundsätzlich zu Grunde liegende klare Trennlinie in das Reich der Phantasie.

Die Zeitschrift für Sozialreform bietet keine Online-Volltexte im Internet ist nur das Abstract zu lesen. Allerdings hat das Pharma-Unternehmen Janssen-Cilag das Paper in seinem Sammelband Zukunftsideen für das Gesundheitssystem (Beiträge aus dem Hochschulwettbewerb "Perspektive 2020 - Gesundheit als Chance") nachgedruckt. Über diesen Umweg ist sich das gesamte Paper Fair Fee: Einkommens- und morbiditätsadjustierte Zuzahlungen für Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland von Götze und Salomon auch online zugänglich. Hier können Sie den Sammelband der Janssen-Cilag GmbH herunterladen, der besagte Beitrag findet sich auf den Seiten 109ff.

Jens Holst, 5.6.10


Gesundheits-Markt-Expertise der Deutschen Bank

Artikel 1808 Nach Ansicht der Deutschen Bank wächst die Gesundheitswirtschaft in Deutschland mit dreifacher Schubkraft. Dazu trügen der demografische Wandel, der medizinisch-technische Fortschritt und das zunehmende Gesundheitsbewusstsein gleichermaßen bei. Hauptantrieb sei der Fortschritt in Medizin, Medizintechnik und Pharmazie. Nach Auffassung der "Gesundheitsexperten" Dieter Bräuninger und Oliver Rakau von Deutsche Bank Research profitierten viele Bereiche der Gesundheitswirtschaft vom verstärkten Gesundheitsbewusstsein der Bürger. Die Begründung: "Seit 1992 haben sich die Gesundheitsausgaben der privaten Haushalte mehr als verdoppelt, und deren Anteil an den gesamten Gesundheitsausgaben ist von 10,5 % auf 13,4 % gestiegen." Eine interessante Interpretation: Wieso die wachsende Belastung durch Praxisgebühr, steigende Medikamentenzuzahlungen und wachsende andere Steigerungen der Selbstbeteiligung Ausdruck eines verstärkten Gesundheitsbewusstseins sein soll, beantworten die Deutschbanker nicht.


Großes Potenzial für wirtschaftliches Wachstum sieht Deutsche Bank Research in der Produktion pharmazeutischer Erzeugnisse, die in den letzten zehn Jahren in Deutschland jährlich mehr als vier Prozent zugenommen habe. Die " Schubkräfte" wie der medizinisch-technische und Fortschritt und neue Strukturen der Gesundheitswirtschaft sprächen dafür, dass diese Rate anhalten werde. Schließlich erbrächte eine Senkung des durchschnittliche Krankenstands in Deutschland Produktionsgewinne in Höhe von rund 10 Milliarden Euro Diesen Beitrag zur Sicherung der Arbeitsproduktivität nähme die Öffentlichkeit zu wenig wahr. Außerdem eröffneten steigende Einkommen in den aufstrebenden Schwellenländern günstige Exportperspektiven. Belastend wirken jedoch die staatliche Marktregulierung und hohe Entwicklungskosten der Industrie.

In der Bewertung des viel beschworenen demografischen Wandels hebt sich die Analyse der DB Research auffällig von dem gängigen Argumentationsmuster der erdrückenden finanziellen Belastung durch die vergreisende Gesellschaft ab. Vielmehr sehen sie in dem wachsenden Bevölkerungsanteil älterer Menschen ein enormes Wachstumspotenzial für den Gesundheitsmarkt. Ob sich diese ökonomischen Erwartungen angesichts der sich abzeichnenden Kompression der Morbidität tatsächlich realisieren lassen, bleibt so unerwähnt wie abzuwarten.

Bemerkenswert ist die Erkenntnis, dass auch die Forschungsabteilung der Deutschen Bank die Gesundheitsversorgung nicht mehr ausschließlich als wirtschaftlichen Kostenfaktor betrachtet. Im ersten Kapitel mit dem viel sagenden Titel Vom Kostenblock zum Wachstumspol heißt es: "Dabei wird zunehmend wahrgenommen, dass die Gesundheitswirtschaft über die von den obligatorischen Krankenversicherungen finanzierten Güter hinaus reicht." Als Ursache für diese einseitig ausgabenbezogene Betrachtung des Gesundheitswesens sehen die Autoren "einen wesentlichen Webfehler" der Gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland, nämlich die Kopplung der Beiträge an die Arbeitseinkommen. Das gilt natürlich nur für den von staatlicher Kostendämpfung geprägten ersten Gesundheitsmarkt. Glücklicherweise habe sich aber mittlerweile ein zweiter dynamischer Markt etabliert, der die von den Bürgern direkt finanzierten Produkte umfasst, von freiverkäuflichen Arzneimitteln über die individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) bis hin zu allen Angeboten der Wellness-Branche.

Die Gesundheitswirtschaftsexperten der Deutschen Bank beklagen den restriktiven Rahmen der GKV, in dem sich ein Großteil der Gesundheitswirtschaft in Deutschland bewege und was den Ausblick für die Gesundheitswirtschaft im Inland trübe. Die logische Folge: Die deutsche Gesundheitswirtschaft muss ihr Heil verstärkt im Ausland suchen, insbesondere in den Schwellenländern mit ihrer wachsenden Wirtschaftsstärke und vor allem einer mittlerweile nennenswerten Schicht zahlungskräftiger Abnehmer.

Dass die Expansion des zweiten Gesundheitsmarkts auch erhebliche Gefahren für Leib und Leben mit sich bringen, thematisiert das Gutachten der Deutschen Bank nicht. Auf eine mögliche Gefährung durch Überversorgung weist das Editorial der Juni-Ausgabe von BMJ Clinical Evidence} hin. Vor allem in den USA nähmen Angebot und Werbung für "Routine-" und andere Untersuchungen beständig zu, so die Autorin Angela Raffle: "Regular tests for healthy people, and their advertisement directly to consumers, are now unshakably embedded in American culture and commerce".

Solche Überlegungen scheinen aber bisher offenbar weder zur Deutschen Bank noch zu Gesundheitsminister Philip Rösler durchgedrungen zu sein. Die Ergebnisse des DB-Gutachtens liegen ohnehin den Einschätzungen des Ministers Philip Rösler erstaunlich nahe, die er am 22. Februar 2010 in der Financial Times Deutschland unter dem Titel Jobmotor Gesundheit zum Besten gab. Sehr ähnliche Ansichten vertritt auch der Arbeitgeberverband Bund der Deutschen Industrie (BDI) in seinem Positionspapier Für eine starke Gesundheitswirtschaft in Deutschland.

Das Forum Gesundheitswesen ist bereits mit früheren Beiträgen auf Annahmen und Mythen über den Jobmotor Gesundheitswesen eingegangen, das seit Längerem die Debatte über das deutsche Gesundheitswesen beeinflusst. Hier finden Sie den Bericht der Deutschen Bank Research Gesundheitswirtschaft im Aufwind.

Jens Holst, 2.6.10


Studie zu Risiken und Nebenwirkungen von Zuzahlungen in Deutschland

Artikel 1790 Welchen Einfluss haben Medikamenten-Zuzahlungen auf die Befolgung ärztlicher Einnahmevorschriften? Werden durch niedrigere Zuzahlungen möglicherweise sogar Therapieerfolge verbessert und damit Kosten im Gesundheitswesen gesenkt? Im Ausland gibt es hierzu bereits etliche Untersuchungen, für Deutschland untersucht diese Fragen jetzt das Bremer Forschungsinstitut "BIAG" in Kooperation mit der Versandapotheke Sanicare.

Arzneimittel-Zuzahlungen sollen nicht nur zur Finanzierung des Gesundheitssystems beitragen, sondern auch Patienten dazu bringen, ausschließlich medizinisch notwendige Leistungen in Anspruch zu nehmen und Arzneimittel im Sinne von "Adherence" oder "Therapietreue" verordnungsgemäß einzunehmen. In den letzten 40 Jahren ist das Volumen der Zuzahlungen in Deutschland von 8 auf 13 Prozent der gesamten GKV-Ausgaben gestiegen. Nach Schätzungen der BKK leisteten GKV-Versicherte 2006 Medikamenten-Zuzahlungen in Höhe von 2,2 Milliarden Euro.

Eigenbeteiligungen in der Gesundheitsversorgung waren schon mehrfach Thema im Forum Gesundheitspolitik, beispielsweise mit den Beiträgen Alte und neueste Ergebnisse der Forschung über erwünschte und unerwünschte Wirkungen von Zuzahlungen im Gesundheitsbereich und Selbstbeteiligungen und kein Ende: Was lange währt, ist keineswegs immer gut. Sinn und Zweck von Patientenzuzahlungen sind indes seit Langem umstritten. Kritiker verweisen darauf, dass Zuzahlungen häufig auch sinnvolle und medizinisch notwendige Leistungen für Menschen mit chronischen Erkrankungen verhindern, wobei dies insbesondere Angehörige unterer Sozialschichten trifft und letztlich höhere Folgekosten statt Ersparnisse bewirkt. Wegen dieser empirisch belegten unerwünschten Effekte sind in den Niederlanden Ende der 1990er Jahre und jüngst in Irland Zuzahlungen abgeschafft worden.

Ein weiterer bisher eher vernachlässigter unerwünschter Effekt von Zuzahlungen, ist die mangelnde Therapietreue. Häufig reagieren Patienten auf Zuzahlungen, indem sie die Dosis verringern, um länger mit Medikamentenpackungen auszukommen, oder indem sie die Therapie ganz abbrechen. Dadurch werden im Gesundheitssystem nicht nur Gelder verschwendet, sondern auch zusätzliche Gesundheitsrisiken hervorgerufen durch Verschleppung und Chronifizierung von Krankheiten.

Eine Reihe von Studien in den USA zeigt nun eine überraschende Lösung für dieses Problem auf: Spürbare Senkung der Zuzahlungen! Wie beispielsweise in dem Artikel Impact Of Decreasing Copayments On Medication Adherence Within A Disease Management Environment, nachzulesen ist, der Anfang 2008 in Health Affairs erschien, ließ sich im Rahmen von Chronikerprogrammen ("Active Health Management") die Häufigkeit mangelnder Therapietreue im Bereich von fünf Medikamentengruppen für chronisch Kranke (z.B. Antidiabetika, Antihypertonika) ganz erheblich um 7 bis 14 Prozent verringern. In einer anderen Studie für DiabetikerInnen, in der man die Folgen einer Senkung der Arzneimittelzuzahlung beim großen Frankiermaschinen-Hersteller Pitney Bowes überprüfte, verbesserte sich nicht nur das Einnahmeverhalten wesentlich, sondern zugleich gingen die Zahl der Patienten, die eine Notfallstation aufsuchen mussten, um 26 Prozent und die durchschnittlichen Gesamtausgaben für Antidiabetika um 7 Prozent zurück, wie im Milliman Client Report 2008 nachzulesen ist. Zahlen über verbessertes Einnahmeverhalten und verringerte Gesundheitsausgaben in Folge der großzügigeren Kostenübernahme bei Diabetes-Medikamenten für Pitney-Bpowes-MitarbeiterInnen liefert auch ein Artikel von John Mahoney, der bereits im August 2005 im American Journal of Managed Care und kostenfrei unter dem Titel Reducing Patient Drug Acquisition Costs Can Lower Diabetes Health Claims zur Verfügung steht.

Ob derartige Wirkungen auch im deutschen Gesundheitswesen zu beobachten sind und damit Änderungen der Zuzahlungspolitik und -erwartungen notwendig sind, lässt die größte deutsche Versandapotheke Sanicare von Gesundheitswissenschaftlern aus Bremen und Berlin in einer breit angelegten Studie untersuchen. Bei über 6.000 Kunden der Versandapotheke, die regelmäßig verschreibungspflichtige Medikamente einnehmen müssen, wird im Rahmen mehrerer Befragungen erfasst, ob sich die Therapietreue verändert, wenn diese Patienten die Hälfte der Zuzahlungen erstattet bekommen. In einem 24-seitigen Fragebogen mit über 50 Fragen geben diese mehrfach befragten Studienteilnehmer nicht nur Auskunft über ihre Medikamenten-Einnahme, sondern auch über viele andere Faktoren, die das Einnahmeverhalten mit beeinflussen. Ergänzend dazu erfolgt eine Aufarbeitung des internationalen Wissensstands über die positive Wirkung einer verbesserten Therapietreue auf die Behandlungserfolge und Kosten aufgearbeitet.

Einen Überblick über die bisher vorliegenden empirischen Erfahrungen und die Studienlage sowie über die Zielsetzung der Untersuchung geben die beteiligten Wissenschaftler in einem ausführlichen Artikel, der in der März-Ausgabe der Zeitschrift Die Ersatzkasse der Ersatzkassenverbands VDEK erschien. NutzerInnen des Forum Gesundheitspolitik steht der Artikel von Bernard Braun, Gerd Glaeske, Jens Holst und Gerd Marstedt aus "Die Ersatzkasse" (3/2010) kostenlos zum Download zur Verfügung: Steigerung der Therapietreue - Arzneimittelzuzahlungen sind eher Problem als Lösung.

Leider ist die zugehörige Literaturliste in diesem PDF-Dokument nicht korrekt verlinkt. Sie können die ausführlichen Literaturangaben zu dem Artikel aber hier direkt herunterladen.

Jens Holst, 28.4.10


2009: Deutschland belegt in der EU erneut Mittelplätze bei den Arbeits- und Lohnnebenkosten.

Artikel 1771 Würden nicht Arbeitgeber und einige Vertreter der Bundesregierungsparteien bei jeder Gelegenheit auf das Einfrieren oder gar die Senkung der Arbeitskosten und vor allem der Lohnnebenkosten mit dem Hauptposten Arbeitgeberbeiträge zur Kranken- oder Rentenversicherung pochen, könnte man sich wegen der jahrelangen Monotonie der empirischen Verhältnisse eigentlich so rasch wie möglich anderen Themen zuwenden.

Weil aber die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland angeblich immer noch als durch zu hohe Arbeits- und Lohnnebenkosten gefährdet gilt, seien erneut zwei gründliche Blicke in die am 30.3.2010 veröffentlichten 2009er Daten des Statistischen Bundesamtes zur Entwicklung und zum EU-Vergleich der Arbeitskosten und der Lohnnebenkosten erlaubt und empfohlen.

Nach Darstellung des Amtes sieht die Situation im Jahr 2009 so aus:

• Die deutschen Arbeitgeber bezahlten im Bereich der Privatwirtschaft im Durchschnitt 30,90 Euro pro geleistete Arbeitsstunde. Mit diesem Betrag lag Deutschland im EU-Bereich hinter Dänemark, Belgien, Luxemburg, Frankreich, Österreich, Finnland und den Niederlanden auf Rang acht.
• In dem für den Export besonders interessanten verarbeitenden Gewerbe wurde 2009 mit 35,60 Euro mehr bezahlt. Aber auch hier waren die Arbeitgeber in Belgien und Dänemark mit höheren Beträgen dabei.
• Die höchsten Arbeitskosten gab es in Deutschland mit 50,30 Euro in der Energieversorgung, die niedrigsten mit 16,10 Euro im Gastgewerbe.
• Durch den krisenbedingten Rückgang der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden (z.B. Abbau von Arbeitszeitkonten) stiegen zwar die Arbeitskosten pro geleistete Stunde. Doch die Wachstumsrate von 4,1% in der Privatwirtschaft und 5,1% im verarbeitenden Gewerbe waren "nur" die siebt- bzw. sechsthöchste Wachstumsrate (gemessen in Euro) in der EU.
• Die deutschen Arbeitgeber zahlten schließlich 2009 pro 100 Euro Bruttolohn und -gehalt 32 Euro Lohnnebenkosten womit Deutschland unter dem europäischen Durchschnitt von 36 Euro lag und mit Rang 13 den fast schon gewohnheitsmäßigen Mittelplatz einnimmt. In Frankreich zahlten beispielsweise die Arbeitgeber 50 Euro Lohnnebenkosten bei 100 Euro für Bruttolöhne und -gehälter, in den Niederlanden 30 Euro, in Dänemark 22 Euro und im Schlusslicht Malta müssen die Arbeitgeber dann nur noch 9 Euro zusätzlich aufbringen.

Die kostenmäßig relativ entspannte Situation in international orientierten Wirtschaftszweigen der deutschen Volkswirtschaft bestätigt auch anlässlich der Vorstellung ihres neuesten "Wirtschaftsberichts für Deutschland" am 26.3.2010 die OECD: "Dem Bericht zufolge sind Deutschlands große Leistungsbilanzüberschüsse der vergangenen Jahre zu einem überwiegenden Teil auf eine geringe Investitionstätigkeit im Inland zurückzuführen und weniger auf eine gestiegene Sparneigung der privaten Haushalte. Gleichzeitig wurden die Exporterfolge zu einem großen Teil durch Kostenvorteile erzielt, die sich aus umfangreichen Auslagerungen ins Ausland und von Lohnmäßigung im Inland ergeben haben."
Dass die Reallohnstagnation und die zum ersten Mal seit 1949 im Jahr 2009 stattgefundene leichte Bruttolohnsenkung möglicherweise auch für den internationalen Produkt-Wettbewerb nachteilige Wirkungen haben können, zeigt der folgende Satz in der OECD-Erklärung: "Bei Innovation und insbesondere bei der Entwicklung neuer Produkte hat Deutschland in den vergangenen Jahren international an Boden verloren."

Die Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 30. März 2010 samt einem kleinen Tabellenanhang gibt es kostenlos zum Herunterladen.

Bernard Braun, 30.3.10


Deutschland im EU-Vergleich seit 2000: Schlusslicht bei Bruttolohn-, Arbeitskosten- und Lohnnebenkostenentwicklung.

Artikel 1757 Die am 03.03.2010 in der Pressemitteilung Nr. 074 vom Statistischen Bundesamt verbreitete und in vielen Zeitungsmeldungen auch verbreitete Nachricht, zum ersten Mal seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland-alt sei das Bruttoeinkommen um 0,4% gesunken, ist eigentlich nur die halbe Wahrheit über die Bruttolohnentwicklung. Sie verbreitet allerdings das Gefühl, hier ginge es um einen einmaligen, eigentlich unbeabsichtigten und bezüglich der Folgen vernachlässigbaren odere rasch reparablen Ausrutscher.

Dass dieser Eindruck falsch ist, d.h. die Bruttolohnentwicklung in Deutschland schon seit Jahren hinter der in vergleichbaren Ländern hinterherhinkt oder stagniert, stellt einen der vielen politisch und sozial gewollten "Sargnägel" einer auf bruttolohnbezogenen Beiträgen beruhenden Sozialversicherung dar. Und auch im Moment scheint das Kalkül der viel zu wenig diskutierten Umverteilungspolitik zu Lasten der Lohneinkommen und zu Gunsten der Vermögens- und Gewinneinkommen voll aufzugehen: Hunderte von ExpertInnen aller Couleur diskutieren wieder allein oder in kleinen und großen Kommissionen fast ausschließlich über das gute Dutzend schon zigfach durchgekauten "Finanzierungsalternativen" und fragen kaum mehr danach, warum eigentlich die Lohneinkommen in der Tat eine immer spärlicher werdende Einnahmenquelle darstellen.

In der Pressemitteilung 093 des Statistischen Bundesamtes vom 11. März 2010 finden sich allein zu drei Leit(d)indikatoren der bisherigen GKV-Finanzierung Überraschendes im europäischen Vergleich:

• Bei der jahresdurchschnittlichen
Bruttolohnentwicklung vom Jahr 2000 bis zum 3. Quartal 2009 liegt Deutschland mit einer Gesamt-Zunahme um 21% auf dem letzten Platz aller Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Der Zuwachs betrug im EU-Durchschnitt mit Deutschland 35,7% und ohne Deutschland bei 34%. Der Anstieg der Bruttolöhne im vergleichbaren Großbritannien lag in diesem Zeitraum bei 45,7%, in Spanien bei 45% und in Frankreich immer noch bei 29,2%. Die Spitzenzuwächse in nicht richtig vergleichbaren Ländern wie Rumäniens mit 543,9% bleiben hier ausgeklammert. Die Werte sind nach dem Beschäftigungsgrad gewichtet.
• Auch bei der Arbeitskostenentwicklung - darauf wurde im Forum bereits mehrfach hingewiesen - im Zeitraum 2000-3. Quartal 2009 liegt Deutschland mit 20,2% auf dem letzten Platz. Dieser Wert liegt weit unter dem EU-Durchschnitt mit Deutschland von 36,3% und noch weiter unter dem Spitzenwert von 49,7% Zuwachs in Spanien. Der nächstniedrige Wert eines vergleichbaren Landes lag in Österreich bei 28,9%.
• Und schließlich entwickelte sich auch das Mantra der Stärkung des Wirtschaftsstandortes durch Absenkung der Sozialbeiträge, nämlich die Lohnnebenkosten etwas anders als gemenetekelt wird. Sie nehmen nämlich im bekannten Zeitraum in Deutschland so gering zu, dass der Wert von 17,2% wiederum im EU-weiten Vergleich mehr oder weniger deutlich unter den Zuwächsen aller anderen Länder liegt. Der Durchschnittswert in der EU betrug 38,5%, in Großbritannien 61,8% oder in Frankreich 36,8%. Rumänien führt im Übrigen die Länderschar mit 306,5% Zuwachs der Lohnnebenkosten an.

Zu Recht überschrieb daher der wie gewohnt profunde wirtschafts- und sozialpolitische Informationsdienst "Informationsportal Globalisierung" von Joachim Jahnke seine Meldung über einen Teil der hier zitierten Daten mit den Worten "Deutschland Negativ-Meister in Bruttolohnentwicklung".

Wie lange sich aber Experten und Bevölkerung noch im Kern grundlos oder mit weniger dramatischem Hintergrund als behauptet am Nasenring der angeblich drohenden Verschlechterung der Wettbewerbsposition Deutschlands bei Löhnen, Arbeitskosten und Lohnnebenkosten herumzerren lassen, entscheidet über die Zukunft einer sozialen Sozial- und Krankenversicherung. Für die Freunde von mehr Steuerfinanzierung der Sozialleistungen nur folgender Hinweis: Auch Steuern sind fast immer Abzüge vom Brutto, können also rasch endlich werden!

Bernard Braun, 13.3.10


Alle Jahre wieder: Ein, zwei, drei und viele Gleichheits-"Lücken" zum Weltfrauentag

Artikel 1752 Egal ob man die Initiative des mittlerweile fast weltweit bekannten internationalen Frauen- oder Weltfrauentags auf Klara Zetkin, Alexandra Kollontaj, Wladimir Lenin oder wegen der drohenden sozialistischen Schlagseite lieber auf die Vereinten Nationen zurückführt, und egal ob er seit 1911, 1917 oder Ende der 1960er Jahre gefeiert wird: Das Thema unterschiedlicher Löhne für Frauen und Männer spielt nahezu immer und in jedem Land eine der Hauptrollen und sie anzugleichen war und ist ein handfestes Dauerziel.

Amtlich festgestellt hört sich dies für die Bundesrepublik Deutschland in der Pressemitteilung Nr.079 des Statistischen Bundesamtes vom 05.03.2010 so an: "Gender Pay Gap 2008: Deutschland weiterhin eines der Schlusslichter in der EU".

Der Gender Pay Gap wird auf Basis der nationalen Verdienststrukturerhebungen ermittelt. Da es sich bei dieser Datengrundlage um eine in vierjährigen Abständen durchgeführte Erhebung handelt, die zuletzt für das Jahr 2006 stattfand, werden die Ergebnisse für die Jahre zwischen den Erhebungen jeweils mit nationalen Quellen fortgeschätzt. Für Deutschland wird hierzu die Vierteljährliche Verdiensterhebung genutzt.

Nach Feststellung der amtlichen Statistiker lag der so genannte "Gender Pay Gap, das heißt der prozentuale Unterschied im durchschnittlichen Bruttostundenverdienst von Männern und Frauen, … in Deutschland mit 23,2% auch im Jahr 2008 deutlich über dem Durchschnitt der Europäischen Union (18,0%)."

Nach einer anderen Mitteilung des Statistischen Bundesamtes aus dem November 2009 bedeutet dies für die deutschen Frauen in Euro: Sie verdienten im Jahr 2008 mit durchschnittlich 14,51 Euro pro Stunde 4,39 Euro weniger als ihre männlichen Kollegen.

Diese Unterschiede stellen einerseits ein gravierendes Gerechtigkeitsproblem dar, tragen aber zusammen mit vielen anderen bekannten Faktoren (z.B. berichtet das Statistische Bundesamt aktuell über den seit 1949 erstmaligen Rückgang der Bruttoverdienste in Deutschland um 0,4% im Jahr 2009) zu der tendenziell zunehmenden Einnahmeschwäche der immer noch weitgehend über einkommensbezogene Beiträge finanzierten deutschen Sozialversicherungsträger und ist daher z. B. auch ein gesundheitspolitisches Problem.

Zurück zum internationalen Vergleich: Von den 27 Ländern der europäischen Union wiesen lediglich Estland (letzter Wert für 2007: 30,3%), die Tschechische Republik (26,2%), Österreich (25,5%) und die Niederlande (letzter Wert 2007: 23,6%) einen gegenüber Deutschland höheren geschlechtsspezifischen Verdienstabstand auf. Das Land mit den europaweit geringsten Unterschieden im Bruttostundenverdienst von Männern und Frauen war im Jahr 2008 Italien (4,9%). Auch (oder selbst?) Slowenien (8,5%), Rumänien, Belgien (jeweils 9,0%), Malta und Portugal (jeweils 9,2%) verzeichneten einen eher moderaten Gender Pay Gap.

Das zusätzlich Brisante an dieser Meldung ist, dass sich verglichen mit den Vorjahren kaum Veränderungen feststellen lassen - jedenfalls nicht für die deutschen Frauen! Es gab sogar seit 2006 eine leichte Verschlechterung von 22,7 % auf den aktuellen Wert. Die deutlichen Verbesserungen für die erwerbstätigen Frauen in Zypern und der Slowakei, die im Jahr 2007 noch schlechter bezahlt wurden, zeigen, dass es bei weitem kein "ehernes gender-pay-gap-Gebot" gibt.

Auch nicht zum ersten Mal gießt das Statistische Bundesamt an dieser Stelle aber gewaltig Schweröl auf die möglicherweise aufkommenden Wogen. Denn, so der Stehtext: "Bei der Interpretation der Werte sollte berücksichtigt werden, dass es sich um den unbereinigten Gender Pay Gap handelt. Aussagen zum Unterschied in den Verdiensten von weiblichen und männlichen Beschäftigten mit gleichem Beruf, vergleichbarer Tätigkeit und äquivalentem Bildungsabschluss sind damit nicht möglich."

Wenn dies auch für die beim Statistischen Bundesamt generierten Daten sein mag, so gibt es seit Jahren aber in Gestalt des vom "World Economic Forum" in Davos herausgegebenen und von renommierten Experten verfassten "Global Gender Gap Report" eine Datenquelle, die nicht nur im internationalen Maßstab über die Verdienstlücken der Frauen berichtet, sondern auch eine Fülle weiterer "Gaps" dokumentiert. Die aktuellste Quelle ist der am 27.10.2009 veröffentlichte "Global Gender Gap Report 2009", der von Ricardo Hausmann (Harvard University), Laura D. Tyson (University of California, Berkeley) und Saadia Zahidi (World Economic Forum) verfasst wurde.

Und in diesem Report findet sich für den Verdienstabstand folgender Indikator: "The remuneration gap is captured through a hard data indicator (ratio of estimated female-to-male earned income) and a qualitative variable calculated through the World Economic Forum's Executive Opinion Survey (wage equality for similar work)."
Der Executive Opinion Survey ist die Hauptdatenquelle für den "Global Competitiveness Report" des Forums, der regelmäßig viele nicht anderweitig erfassten Daten durch eine weltweite Befragung von rund 15.000 Ökonomen sowie Experten aus öffentlichen Verwaltungen, internationalen Organisationen und Unternehmen zusammenzutragen versucht. Die Ergebnisse sind daher wie alle qualitativen Daten in mancherlei Hinsicht verzerrt. Angesichts der sozialen Zusammensetzung der Befragten dürften aber ungerechte soziale Verhältnisse eher unterschätzt als übertrieben werden. Und selbst wenn die einzelnen Länderwerte absolut fehlerhaft sein sollten, taugen die Zahlen zumindest noch gut für Vergleiche zwischen Ländern und in der Zeit - vorausgesetzt die Verzerrungen tauchen identisch für jedes Land und jedes Befragungsjahr auf.

Der "gender pay gap"- bzw. "female-to-male ratio"-Wert" für "wage equality for similar work" betrug 2008 nach dem Report für 2009 in Deutschland 0,58. Dieser Wert liegt auf einer Skala von 0,00 für völlige Ungleichheit bis 1,00 für völlige Gleichheit der Einkommen von Frauen und Männern. Damit liegt Deutschland im Vergleich der 134 Länder, die im Report berücksichtigt wurden, auf Platz 101 und damit unter dem Durchschnittswert von 0,66. Dass es besser, aber keineswegs wesentlich gleicher geht, zeigen z.B. die Indikatorwerte für Schweden (0,72) und den Niederlanden (0,63).

Die im "Gender Gap-Report" dokumentierten Unterschiede der Einkommen in Geldeinheiten bestätigen das Niveau und die Tendenz der vom Statistischen Bundesamt gemachten Angaben: Bei dem von den Report-Autoren gewählten Indikator "estimated earned income" mit in US-Dollar umgerechneten Kaufkraftparitäten (PPP) verdienten 2008 deutsche Frauen 24.138 US-$ und deutsche Männer 39.600 US-$. Das Verhältnis beider Einkommen betrug 0,61 zu Ungunsten der Frauen.
Zum Vergleich: Der Durchschnittswert für diesen Indikator betrug 0,52, was angesichts der Fülle von Entwicklungsländern im Report nicht verwundert. In den beiden vergleichbaren Ländern Schweden und Niederlande sah dies schon besser aus: 0,84 waren es in Schweden und immerhin 0,66 in Holland. Entsprechend landen die deutschen Frauen beim Einkommensunterschied zu Männern weltweit auf Platz 49, Schweden auf Platz 1 und Holland auf Platz 33.

Wie bereits angedeutet, gibt es aber weder weltweit noch in Deutschland nur eine erhebliche und für Frauen nachteilige Lücke zu den sozialen Verhältnissen der Männer.

Einige weitere Beispiele aus dem Report 2009 illustrieren dies prägnant:

• Beim "Gender Gap Index" der die bereits genannten und einige weitere wirtschaftlichen Indikatoren zur Arbeitsmarkt- und Berufslage, Angaben zum Bildungsstand, zu Gesundheit und Lebenserwartung sowie zur politischen Partizipation und Repräsentanz zusammenfasst, landet Deutschland 2009 trotz einiger verringerter "gaps" auf Platz 12. Dies war aber gegenüber den Vorjahren eine stetige und deutliche Verschlechterung: 2006 lag Deutschland bereits einmal auf Platz 5, fiel dann 2007 auf den siebten und 2008 auf den elften Platz.
• Fasst man die fünf Einzelindikatoren zur wirtschaftlichen Lage zusammen, landen die deutschen Frauen im internationalen Vergleich auf Rang 37. Bei den Errungenschaften im Bildung- und Qualifikationsbereich reichte es trotz einiger Spitzenwerte insgesamt nur für den 49ten Platz. Bei Gesundheit und Lebenserwartung rutschen die deutschen Frauen auf Platz 60, liegen aber beim "political empowerment" wieder auf Platz 13.

Der Report des "World Economic Forum" enthält eine Fülle weiterer, auch teilweise positiv wie negativ überraschender Detailinformationen zur Lage der Frauen in den 134 Ländern. Die wesentlichen Ergebnisse sind im Querschnitt und bei einigen Indikatoren auch im Längsschnitt seit 2006 für jedes der Länder auf einer einzigen Seite zusammengefasst.

Der 205 Seiten umfassende "The Global Gender Gap Report 2009" ist kostenlos zu erhalten. Dies gilt auch für die vorherigen Berichte ab 2006, die noch auf einer speziellen Website des Davoser Forums erhältlich sind.

Bernard Braun, 7.3.10


Risikoorientierte Beiträge à la PKV: Das Ende der Gesundheitsreformen oder Modell mit wenig Nutzen und ungewisser Zukunft?

Artikel 1746 "Ja, was denn nun oder quo vadis FDP?" mag sich der Leser zweier Gutachten denken, die in den letzten Tagen zum Thema risikoorientierte Beiträge und PKV veröffentlicht bzw. gleich in den Giftschrank des Wirtschaftsministerium gesperrt worden sind und gegensätzlicher nicht sein können!!!

Es geht zum einen um die im Auftrag der FDP-nahen Friedrich Naumann Stiftung und weitgehend aus Steuermitteln (nach eigenen Angaben finanzierte sich die Stiftung 2008 zu rund 92% aus öffentlichen Mitteln) finanzierte Studie "Drei Systeme des Gesundheitswesens im Vergleich".

Zum anderen um das vom Bundeswirtschaftsministerium noch vor dem Regierungswechsel in Auftrag gegebene und damit komplett aus Steuermitteln finanzierte Forschungsprojekt "Die Bedeutung von Wettbewerb im Bereich der privaten Krankenversicherungen vor dem Hintergrund der erwarteten demografischen Entwicklung".
Obwohl der Projektendbericht am 25. Januar 2010 dem mittlerweile freidemokratischen Minister Brüderle ausgehändigt wurde und die Ergebnisse in der gerade von der FDP angestoßenen Gesundheitssystemdebatte wichtige Beiträge liefern könnten, sperrte Minister Brüderle den Bericht vorsätzlich (das folgt unwidersprochen aus einem Artikel der "Ärzte Zeitung" vom 11. Februar 2010) weg.

Beide Gutachten, das für die FDP-Stiftung von Charles B. Blankart, Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftspolitik und öffentliche Finanzen an der Humboldt-Universität zu Berlin und seinem Doktoranden Erik R. Fasten erstellte und das Regierungsgutachten von mehreren eigenen und kooperierenden Wissenschaftlern des Berliner IGES Instituts (darunter auch der Multi-Regierungs- und Versicherungsberater Bert Rürup), kommen bei der Bewertung des sozialpolitischen Nutzens der privaten Krankenversicherung und ihres zentralen Prinzips und Instruments der risikoorientierten Prämien zu grundlegend unterschiedlichen Feststellungen, Bewertungen und Schlussfolgerungen.

Blankart und Fasten beschäftigen sich in ihrer Studie mit drei Modellen, nämlich der Gesundheitsversorgung im System der gesetzlichen Krankenkassen, der Gesundheitsversorgung durch einen Gesundheitsfonds und mit der Gesundheitsversorgung durch Versicherung zu risikoorientierten Prämien.
Zentraler Kritikpunkt am System der GKV ist dessen "arbeitseinkommensabhängige Prämie" durch die die Versicherten, keine Anreize, Risiken zu vermeiden, neue Arrangements und bessere Qualität zu suchen und so Kosten einzusparen. "Dieses innovative Element fehlt auch dem Zentralismus des Gesundheitsfonds. Auch er beruht auf einkommensabhängigen Beiträgen und bringt insofern keine Verbesserung gegenüber dem System der gesetzlichen Krankenkassen."

Doch lassen sich "diese Probleme …überwinden, wenn das Risiko endogenisiert und zur Zielvariablen gemacht wird. Risikoorientierte Prämien motivieren die Versicherten, Risiken zu vermeiden, und sie geben den Krankenversicherungen Anreize neue, Risiko senkende Arrangements zu suchen und dadurch volkswirtschaftliche Kosten zu sparen."

Und keine Sorgen: Das neue System ist "kein Radikalsystem": "Es werden keine Illusionen vorgelegt, sondern ein Weg aufgezeigt, wie ein Individuum mit dem Problem wachsender Gesundheitskosten umgehen kann, konkret: wie viel der Risiken es durch Verhaltensänderung einsparen, wie viel es selbst tragen und wie viel es bei einer Kasse seiner Wahl versichern will, aber auch muss."

Und natürlich wird auch das Schicksal der Bezieher niedrigerer Einkommen beachtet: "Für sie sollen daher bis zu einem bestimmten (!?) Einkommen für einen bestimmten (!?) Leistungskatalog arbeitseinkommensabhängige Beiträge gelten. Die zu erwartende Kostenunterdeckung wird durch Subventionen ausgeglichen, für die nach dem Solidaritätsprinzip alle und nicht nur einige Bürger aufkommen. Für die Bezieher höherer Einkommen werden risikoorientierte Beiträge angewandt."

In einem Beitrag in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ)" vom 15. Februar 2010 legen die Humboldt-Ökonomen noch ein paar Vorteile ihres "dritten Systems" nach: "Aber wenn wirklich ein Fortschritt in Richtung Wettbewerb und Kostensenkung erzielt werden soll, dann sind risikoorientierte Prämien unerlässlich."
Und was risikoorientierte Prämien bedeuten, sagen sie hier auch wesentlich klarer als in ihrer Studie: "Menschen mit hohen Risiken (bezahlen) höhere, solche mit geringen Risiken niedrigere Beiträge …. Wer zum Beispiel eine Neigung zum Übergewicht hat - egal, ob diese angeboren oder angeeignet ist - bezahlt einen höheren Beitrag. Es kommt auf das Risiko, die Gefahr, nicht auf den Grund der Gefahr an. Denn nur dann bestehen Anreize, durch Maßhalten die Gefahr abzubauen."

Wer jetzt noch unsicher ist oder den Vorschlag der beiden Ökonomen doch für zu utopisch oder radikal hält, bekommt versichert: "In der privaten Krankenversicherung hat sich dieses Prinzip über Jahre bewährt" und außerdem "wäre (das) dann die letzte Gesundheitsreform, und Politiker müssen sich nicht Jahr für Jahr neue Kostensenkungskonzepte einfallen lassen, die doch nie den gewünschten Erfolg haben."

Wenn das so ist, was sollte uns dann vom Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit permanenter Gesundheitsreform in die Freiheit risikoorientierter Beiträge abhalten?

Es ist das zweite Gutachten, das zwar die sprungbereite Bevölkerung dank des freidemokratischen Wirtschaftsministers weder auf der Publikationsseite des Ministeriums noch wegen der Urheberrechte auch hier nicht in Gänze lesen darf, aber das trotzdem dieselbe PKV etwas weniger bewährt wahrgenommen hat.

Die IGES-Forscher kommen nämlich in ihrem methodisch und inhaltlich weitaus differenzierteren und substanziellen Gutachten u.a. zu folgenden meist zurückhaltend aber klaren Erkenntnissen:

• Ihre Analyse "hat mehrere Ansatzpunkte aufgezeigt, die begründete Zweifel aufkommen lassen, dass die PKV ihren Ansprüchen gerecht werden kann, einen 'besseren' Schutz gegen Beitragssteigerungen zu bieten. Es ist somit fraglich, ob die etablierten Strategien der PKV zur Bewältigung der zukünftigen versicherungstechnischen Risiken, insbesondere mit Blick auf den demographischen Wandel, ausreichen."
• Das PKV-Konzept der alterskonstanten Prämien "greift … zu kurz", und "trotz Altersrückstellungen können daher auch sprunghafte Beitragserhöhungen nicht ausgeschlossen werden."
• Dies sei vor allem deshalb ein wirtschaftspolitisches Problem, weil "sich kein Wettbewerb um bessere Ansätze entwickelt." Es "fehlt die Grundlage für einen an den Nachfragepräferenzen orientierten und somit effizienten Wettbewerb. Der versicherungstechnische Fortschritt bleibt auf diese Weise stark gehemmt."
• Indem PKV-Unternehmen die "Spielräume, mit ihrer Tarifangebotspolitik Versichertengruppen mit … systematisch unterschiedlicher Risikostruktur wirksam voneinander zu trennen" nutzen, gelingt es ihnen "den Wettbewerb um Versicherte ganz auf Neukunden zu konzentrieren". Dies führt dazu, dass sie "die Ineffizienzen im Versicherungsangebot noch verstärken."
• Diew "Politik der Risikoseparierung" führt zwar zu "neuen Tarifen mit relativ niedrigen Prämien" und den damit gewonnenen Mengen junger, gesunder Versicherter, aber auch zu "überdurchschnittlichen Prämienzuwächsen in der Folgezeit" und älteren Tarifen "auf einem überdurchschnittlichen Prämiennniveau"
• Damit ist aber noch nicht Schluss mit den Wettbewerbsmängeln der PKV: "Auch auf den Leistungsmärkten der PKV sind Wettbewerbsmängel feststellbar". Vor allem der Wettbewerb in der ambulanten Versorgung ist "durch relativ hohe Ausgaben gekennzeichnet." Zwei Beispiele unter vielen: Die PKV-Ausgaben für ambulante Einrichtungen erhöhten sich von 1995 auf 2007 um etwa 89%, die der GKV dagegen "nur" um 35,5%. Die Ausgaben für Zahnarztpraxen stiegen in der PKV im selben Zeitraum um rund 56%, die der GKV um 3,1%.
Das "Wissenschaftliche Institut der PKV (WIP)" bezeichnet dies als "Quersubventionierung" und beziffert das Volumen des Mehrbetrags für die PKV, das durch die Kompensation niedrigerer Einkünfte der Ärzte bei GKV-Patienten entsteht, 2006 auf insgesamt 9,7 Mrd. Euro, darunter 4,4 Mrd. Euro für Arzthonorare. Wenn schon Subventionierung bemüht wird, sollte aber auch die Subventionierung der PKV durch die GKV (z.B. die Existenz nahezu der gesamten Infrastruktur des Gesundheitswesens) beachtet werden, die es der PKV erst ermöglicht, höhere Preise zu bezahlen.
• Und wer jetzt schon etwas kleinlaut geworden murmelt, es gäbe für etwas mehr Leistungsausgaben auch eine bessere Qualität, bekommt auch hier von den IGES-Forschern einen kräftigen Dämpfer: "Inwiefern dies … für die privat versicherten Patienten mit einer höheren Versorgungsqualität verbunden ist, ist bislang kaum empirisch untersucht worden (mit Ausnahme der Unterschiede bei Wartezeiten)."
• Kein Wunder daher, dass "von Seiten der PKV nicht ganz offen und klar kommuniziert (wird), worin leistungsbezogen Vorteile für PKV-Versicherte gegenüber der GKV liegen, die die relativen Mehrausgaben rechtfertigen."
• Die zitierten Tatsachen und zahlreiche weitere empirische Hinweise begründen massive Zweifel daran, dass die PKV derzeitig ihre "versicherungsökonomische Kernfunktion" oder das Ziel der "Einkommensglättung über die Zeit" erfüllt.

Wer jetzt an noch mehr systematischen Argumenten und empirischen Belegen über den Wert des "dritten Systems" der Naumann-Stiftungs-Studienverfasser interessiert ist, muss warten, bis Herr Brüderle die freiheitliche Tradition seiner Partei wiederentdeckt und die 136 Seiten des Gutachtens frei zugänglich macht.

Schon beim jetzigen Kenntnisstand sei aber abschließend die Preisfrage erlaubt: Warum verbirgt Herr Brüderle das aus Steuermitteln finanzierte und gerade für die von seiner Partei angezettelte Debatte über die Zukunft des Krankenversicherungssystems so wichtige IGES-PKV-Gutachten bisher vor den Steuerzahlern? Honni soit qui mal y pense!

Vielleicht wird die Generalisierung des "dritten System" der FDP-nahen Stiftung aber nicht nur durch einen veröffentlichungsbereiten FDP-Minister Brüderle gefährdet. Daran könnte auch noch der FDP-Minister Rösler beteiligt sein, wenn er weiter sein Kopfprämienmodell forciert. Denn die Kopfpauschale, so die Bremer und Fuldaer Gesundheitsökonomen Rothgang und Greß im "Handelsblatt" vom 15. Februar 2010, "macht den Systemübertritt in die PKV finanziell unattraktiv", "würde den Zufluss neuer Kunden … sicherlich halbieren" und damit das Finanzierungsmodell der PKV ins Wanken bringen.

Die von der FDP-nahen "Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit" in Auftrag und herausgegebene 44-seitige Studie "Drei Systeme des Gesundheitswesens im Vergleich" von Charles Blankart und Erik Fasten ist komplett und kostenlos erhältlich.

Der die Gesundheitspolitiker aber im Übrigen auch ihre zahlreichen Berater arbeitslos machen wollende FAZ-Beitrag "Alternativen der Gesundheitsreform" von Blankart und Fasten in der Ausgabe vom 15.2.2010 steht leider lediglich den Abonnenten der Zeitung komplett kostenlos zur Verfügung.

Das IGES/Rürup-Gutachten kann leider auch hier nicht in ganzer Länge zugänglich gemacht werden. Interessenten sollten sich daher an das Bundeswirtschaftsministerium wenden.

Nachtrag 1. März 2010 abends: Nun bleibt dem Interessierten doch der Appell an Herrn Brüderle erspart. Nach Fertigstellung dieses Beitrags zeigte nämlich eine erneute Recherche im Internet, dass der "Giftschrank" des Ministeriums doch Löcher hat, die sogar seriös sind. So bietet IGES, also das Institut, das den PKV-Projektbericht ausgearbeitet hat die Langfassung und eine Zusammenfassung kostenlos auf seiner Website an.

Nur beim Auftraggeber des Forschungsprojektes selber, dem Bundeswirtschaftsministerium, findet sich auch bis jetzt weder eine Zusammenfassung noch der komplette Bericht.

Bernard Braun, 28.2.10


Sprungbrett in die Sackgasse oder "von nichts kommt nichts"! Wie sehen Niedriglöhne in Deutschland aus und was bewirken sie?

Artikel 1733 Egal, ob sich die derzeitige Bundesregierung entschließt, "ganz langsam" in ein Kopfpauschalensystem um- und einzusteigen und damit über kurz oder lang Milliarden Euro aus Steuereinnahmen zum Sozialausgleich zu brauchen oder es mit einkommensbezogenen Beiträgen weitergeht: Eine stagnierende oder gar sinkende Bruttolohnsumme verschlechtert die Basis sämtlicher Finanzierungsmodelle. Daher ist auch die Entwicklung der Löhne am unteren Rand oder die Existenz oder Nichtexistenz von Niedrig- und Mindestlöhnen eine sowohl einkommenspolitisch als auch für die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme äußerst relevante sozialpolitische Bedingung.

Wie es damit aussieht, hat Ende 2009 eine Gruppe von WissenschaftlerInnen vom "Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ)" der Universität Duisburg-Essen für die Friedrich-Ebert-Stiftung ermittelt und zusammengefasst.

Die wichtigsten empirischen Ergebnisse des Reports lauten:

• Der Umfang der Niedriglohnbeschäftigung ist in Deutschland ist seit Mitte der 1990er Jahre deutlich gewachsen und liegt inzwischen deutlich über dem europäischer Nachbarländer. Sogar das hohe Niveau der USA ist fast erreicht. Absolut ist die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten zwischen 2006 und 2007 um rund 350.000 auf etwa 6,5 Millionen angestiegen. Im Vergleich zu 1995 hat die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten also um knapp 49% zugelegt
• Zwischen 1995 und 2006 sind die durchschnittlichen Stundenlöhne im unteren Einkommensquartil inflationsbereinigt um fast 14% gesunken. Selbst im Wirtschaftsaufschwung seit 2004 ist der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten weiter angestiegen und stellt damit eine Seite der generell gespreizteren Schere zwischen unteren und mittleren Einkommen dar.
• Dabei steigt besonders der Anteil von Beschäftigten mit Niedrigstlöhnen von weniger als 50% oder sogar einem Drittel des Medians deutlich an.
• "Immer mehr Menschen arbeiten in Deutschland also für Löhne, die selbst für vollzeitarbeitende Alleinstehende kaum zur Bestreitung des Lebensunterhaltes ausreichen."
• Unabhängig von der bereits geringen Höhe der tatsächlichen Mindestlöhne und damit der besteuerbaren- oder als Beitragsbasis tauglichen Einkommen haben die durchschnittlichen Stundenlöhne im Niedriglohnsektor sogar n den letzten Jahren real an Wert verloren und sich in den letzten Jahren teilweise sogar nominal verringert. Die durchschnittlichen Stundenlöhne im Niedriglohnsektor lagen 2007 mit 6,88 € in West- und 5,60 € in Ostdeutschland sowohl nominal als auch real weiter unter den jeweiligen Niedriglohnschwellen als noch 1995. Obwohl die Möglichkeit des baldigen Übergangs in besser bezahlte Tätigkeiten als werbendes Argument für die Erwerbstätigkeit in diesem Sektor existiert, ist faktisch der bescheidene wirtschaftliche Aufschwung gerade an den Niedriglohnbeschäftigten vorbeigegangen.
• Obwohl gering Qualifizierte ein besonders hohes Niedriglohnrisiko aufweisen, ist die große und wachsende Mehrheit der Niedriglohnbezieher formal höher qualifiziert: 2007 arbeiteten 43,3% der Beschäftigten ohne Berufsausbildung für einen Niedriglohn und damit deutlich mehr als 1995. Unter allen Niedriglohnbeschäftigten stellten aber gering Qualifizierte 2007 jedoch nur noch gut ein Fünftel. Personen mit beruflicher Ausbildung oder akademischem Abschluss stellen 2007 daher rund 80 % der gering Verdienenden.
• Entgegen den verbreiteten Erwartungen, sind Frauen zwar mehr von Niedriglohnarbeit betroffen als Männer, diese "holen" aber "auf". Außerdem stellen Beschäftigte mittleren Alters die Mehrheit der Niedriglohnbeschäftigten.
• Und schließlich erweist sich auch die Hoffnung oder das politische Versprechen, Niedriglohnjobs stellten ein Sprungbrett in besser bezahlte Beschäftigung, als trügerisch. Es handelt sich eher um eine Sackgasse. Die Chancen, aus dem Niedriglohnsektor schnell wieder herauszukommen ist sogar im europäischen Vergleich besonders gering und wird durch mehrere Studien schlüssig belegt.

Angesichts der Ergebnisse neuerer Forschung, dass selbst wesentlich höhere Niedriglöhne als die in Deutschland existieren oder über die hierzulande nachgedacht wird, in anderen Ländern positive Effekte auf der betrieblichen Ebene und auf dem Arbeitsmarkt insgesamt haben können, plädieren die IAQ-WissenschaftlerInnen auch für Deutschland entschieden für eine angemessene untere Lohngrenze bzw. einen Mindestlohn, der über den realen Niedriglöhnen liegt.
Zutreffend ist dabei sicherlich, eine solche Maßnahme "in ein größeres Reformpaket, das darauf abzielt, den sozialen Zusammenhalt nachhaltig und umfassend zu stärken" eingebettet werden muss.

Die umfangreiche und materialreiche Analyse "Mindestlöhne in Deutschland" von Gerhard Bosch, Claudia Weinkopf und Thorsten Kalina ist in der Reihe WISO-Diskurs der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung im Dezember 2009 erschienen und kostenlos erhältlich.
Als kurze sozialpolitische Ergänzung gibt es zusätzlich von denselben AutorInnen die ebenfalls bei der Ebert Stiftung erhältliche Argumentensammlung "Warum Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn braucht".

Bernard Braun, 10.2.10


Geld für "Bildung statt Banken"!? Welche langfristigen Wachstums-, Produktivitäts- und Sozialeffekte haben 25 PISA-Punkte?

Artikel 1720 Zu den Standardphrasen vieler sozial- oder gesundheitspolitischer Debatten gehört die Feststellung, dass "wir" uns künftig das derzeitige soziale und solidarische Niveau nicht mehr leisten könnten. Die demografische Entwicklung und der relative Schwund der Zahl erwerbstätiger BürgerInnen führe zu stagnierender oder gar rückläufiger Reichtumsproduktion und könne auch durch die heutigen Produktivitätszuwächse künftig nicht kompensiert werden. Es gäbe keine Anzeichen für eine zukünftig im Vergleich zu heute höhere Produktivität - eher im Gegenteil. Insofern sollten sich bereits heute möglichst viele Versicherte auf härtere Zeiten einstellen und vor die Wahl gestellt werden, ob sie viele der bisher selbstverständlich solidarisch finanzierten Leistungen aus eigener Tasche finanzieren oder eben auf sie verzichten.

An der pessimistischen Beurteilung der künftigen Produktivitätsentwicklung und damit sicherlich auch der Finanzierbarkeit von angemessenen Einkommen und daraus finanzierten Sozialleistungen kratzt jetzt eine am 25. Januar 2010 veröffentlichte Analyse mehrerer Bildungswissenschaftler und -ökonomen im Auftrag der OECD gewaltig.

Die OECD, die u.a. auch seit Jahren das "Programme for International Student Assessment (PISA)" mit seinen zahlreichen international und national vergleichenden Analysen zu Bildungsniveaus und -ressourcen durchführt, wollte von dem an der Universität Stanford arbeitenden Eric H. Hanushek, dem Münchner Bildungsökonom Ludger Wößmann und dem OECD-PISA-Koordinator Andreas Schleicher wissen, welche wirtschaftliche Wirkung Investitionen in eine bessere Bildung haben können. Das Maß für Bildung und damit auch bessere Bildung sind die PISA-Punkte, die für Fähigkeiten in natur- und kulturwissenschaftlichen Fächern oder Leistungsbereichen mit standardisierten Verfahren mittlerweile seit 2000 erhoben werden.

Auf der Basis von Algorithmen verschiedener us-amerikanischer Langzeitstudien, den Daten der verschiedenen PISA-Studien und eines 20 Jahre dauernden Reformprozess-Szenario kommen die Autoren in ihrem Report "The high cost of low educational performance" u.a. zu folgenden Ergebnissen bzw. Prognosen:

• Selbst ein relativ bescheidener Zuwachs von 25 PISA-Punkten (entspricht auf der PISA-Skala etwa dem Lernzuwachs eines halben Schuljahrs) führte weltweit zu einem zusätzlichen Wachstum von 115 Billionen US-Dollar im Leben der 2010 Geborenen. Dem Standardargument gegen solche Szenarios bzw. Anstrengungen, dies wäre "nicht zu schaffen", setzen die Autoren gleich ein besonders in Deutschland provokatives empirisches Datum entgegen: Das Land mit der schnellsten Verbesserung des Bildungssystems, Polen, erhöhte sein PISA-Punktelevel allein zwischen 2000 und 2006 um 29 Punkte. Eckpunkte der Reform war die Einführung einer sechsjährigen Primarschule der sich weitere drei gemeinsame Jahre für alle Schüler in der Sekundarschule anschlossen.
• 25 PISA-Punkte mehr brächten der nächsten Generation in Deutschland bzw. der zukünftigen Wirtschaft und Gesellschaft immerhin 8.000 Milliarden Euro ein.
• Wenn die deutschen Kinder auf das PISA-Spitzenniveau der finnischen Schüler gelangen würden, dann entspräche der Ertrag dem Fünffachen der gesamten derzeitigen Jahreswirtschaftsleitung (10.000 Milliarden Euro) oder einem zusätzlichen jährlichen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 0,8 Prozent.

Für die weitere Debatte, die ja in Deutschland auch nicht zum ersten Mal geführt und beendet wird, ist die Schätzung Schleichers wichtig, für die Verbesserung der PISA-Performance seien "Ausgabensteigerungen nur zu einem Viertel verantwortlich." Auch die Schulzeit allein ist nach Meinung der OECD-Forscher ein zu vernachlässigender Faktor für die Bildungswirkungen. Die prognostizierten Effekte kämen also mehrheitlich durch kostenneutrale Faktoren in der Struktur des Bildungsprozesses (z.B. Beseitigung des zu frühen Selektionssystems nach der vierten Grundschulklasse) und der Qualität des Unterrichts zustande. Dass diese Faktoren eine große Rolle spielen und mit ihrer Veränderung auch positive Ergebnisse erzielt werden können, zeigt das bereits genannte Beispiel Polens.

Die bisher finanziell und inhaltlich weitgehend vernachlässigte frühkindliche Bildung spielt in dem Gesamtkonzept der Forschergruppe ebenfalls eine wichtige Rolle. Egal, ob man das Denken in Renditen bei drei- bis fünf-Jährigen mag oder nicht und glücklich findet, ist unbestritten, dass dortige Investitionen mehr für das spätere Bildungsniveau und gegen soziale Benachteiligungen bringen als manche Investition in die Schüler der gymnasialen Oberstufe. Entscheidend ist aber auch hier die Qualität der Bildung, die nicht eine Art Super-Light-Version späterer Bildungs-Curricula sein darf.

Selbst wenn man den genannten absoluten Erträgen für einen mehrere Jahrzehnte umfassenden Zeitraum nicht traut und dafür eine ganze Menge methodischer Argumente geltend machen kann, stellt sich nach dieser Studie die Frage, warum - in den Worten des ZEIT-Autors Reinhard Kahl - "eine Gesellschaft ihr Geld nicht auf diese Bank mit der höchsten, von keiner Inflation oder Finanzkrise bedrohten Rendite" bringt, statt es (ausschließlich) zur Rettung fragwürdigster Bankgeschäfte zu verwenden? Stattdessen sind zwei- bis dreistellige Milliardenbeträge, die jahrelang für andere Zwecke als unfinanzierbar galten, zum Stopfen von Spekulationslöchern verwendet worden oder könnten darin sogar spurlos verschwinden. Gleichzeitig wird in der Bundesrepublik Deutschland über jeden Zehntel Punkt einer international eher bescheidenen Erhöhung der Bildungsausgaben auf zig Konferenzen seit Monaten gerungen. Noch weniger bewegt sich aber bei den strukturellen und qualitativen Schwachstellen des deutschen Bildungssystems.

Leider stellt sich also die Situation eher so dar: "Stattdessen beginnen nun Politiker schon wieder die Menschen auf Zeiten des Sparens einzuschwören. Sie wollen auch an Lehrern und anderen "Bildungskosten" sparen. Sie sagen, man könne halt jedes Stück des kleiner gewordenen Kuchens nur einmal essen. Denkfehler! Bildung ist nicht Kuchen essen, sondern Kuchen backen! Und natürlich kommt es auf die Zutaten an." (Kahl)

Wie fakten- und reformresistent die Bildungslandschaft, die bildungspolitisch Verantwortlichen aber auch ein Teil der politischen Öffentlichkeit in Deutschland sind, zeigt die Tatsache, dass die OECD-Studie keineswegs allein oder gar erst heute und völlig überraschend auf gewichtige nachteilige Effekte des deutschen Bildungssystems für die wirtschaftliche und auch soziale Zukunft des Landes hinweist. Auch genaue monetäre Angaben gibt es für die möglichen Effekte gründlich reformierter Bildungsstrukturen und -inhalte nicht erst heute und aus dem OECD-Headquarter in Paris.

Zuletzt hat eine im Auftrag der Bertelsmann Stiftung vom Münchner ifo-Institut erstellte und im November 2009 veröffentlichte Studie allein über die Effekte der stillschweigend geduldeten Existenz einer Vielzahl von so genannten "Risikoschülern" folgende Ergebnisse erbracht:

• Zu den unzureichend gebildeten "Risikoschülern" zählen in Deutschland rund 20 Prozent aller 15-Jährigen. Gemäß den PISA-Studien können sie höchstens auf Grundschulniveau lesen und rechnen und haben deshalb beim Eintritt in die Berufstätigkeit und dann wohl auch auf Dauer erhebliche Probleme.
• Dies zieht volkswirtschaftliche Kosten in Höhe von rund 2,8 Billionen Euro nach sich.
• Gelänge es durch entsprechende strukturelle und qualitative Reformen den Anteil der "Risikoschüler" wesentlich zu reduzieren könnte dies bis zum Jahr 2030 zu einem Ertrag von wiederum maximal 69 Milliarden Euro führen. Der Ertrag überstiege so die jährlichen öffentlichen Bildungsausgaben im Elementar- und allgemeinbildenden Schulbereich. Bis zum Jahr 2074 erreichte das zusätzliche Wachstum die Summe von rund 1,75 Billionen (1.746 Milliarden) Euro und damit in etwa das Niveau unserer heutigen Staatsverschuldung. Im Jahr 2090 schließlich - dem Endpunkt der Langzeitbetrachtung - summieren sich die Erträge auf 2,8 Billionen (2.808 Milliarden) Euro. Das ist mehr als unser heutiges Bruttoinlandsprodukt (BIP) und entspricht etwa dem 28-fachen der jüngsten Konjunkturpakete. Im Jahr 2090 wird das BIP durch die Bildungsreform um über 10 Prozent höher sein, als es ohne die Reform wäre.

Auch bei dieser Studie muss und kann man den absoluten Summen nicht völlig trauen und sollte daher auch nicht lang streiten. Aber selbst wenn man die möglichen dämpfenden Einflüsse berücksichtigt und die eine oder andere Milliarde an Ertrag verliert, sind hektisches Nichtstun oder die Fortdauer folgenloser Sightseeingtouren von Bildungspolitiker in andere Länder das definitiv schlechteste politische Verhalten.

Den 77-Seiten-Bericht "Wirksame Bildungsinvestitionen. Was unzureichende Bildung kostet. Eine Berechnung der Folgekosten durch entgangenes Wirtschaftswachstum" von Ludger Wößmann und Marc Piopiunik gibt es komplett und kostenlos.
Auf der Projektwebsite der Bertelsmann Stiftung gibt es eine Vielzahl von Links zu Zusammenfassungen des Berichts und zu grafischen Darstellungen der wichtigsten Ergebnisse.

Der 52-Seiten-OECD-Bericht "The High Cost of Low Educational Performance. THE LONG-RUN ECONOMIC IMPACT OF IMPROVING PISA OUTCOMES" ist ebenfalls kostenlos erhältlich.

Nachtrag für diejenigen, die noch eine etwas andere Bewegung in die Bachelor-/Masterdebatte bringen wollen: Würde in Deutschland für jeden Studenten jährlich genauso viel wie in der Schweiz ausgegeben, also etwas mehr als 12.000 Euro gegenüber rund 8.000 Euro, benötigt man jährlich etwa 8 Milliarden Euro mehr und könnte damit an Hochschulen z.B. 50.000 neue Dauerstellen schaffen. Orientierte man sich in Deutschland an den Niederlanden, halbierte sich der Effekt in etwa, da dort "nur" 10.000 Euro pro Student und Jahr aufgewandt werden. Auch hier kommt es natürlich letztlich darauf an, was die Inhaber der neuen Stellen inhaltlich machen. Das Rechenexempel verdanken wir einem Artikel von Jeanne Rubner am 30. Dezember 2009 in der "Süddeutschen Zeitung", der allerdings nicht online frei erhältlich ist.
Ob die Kultusminister der Länder dem Rat Rubners gefolgt sind, dies "in den Weihnachtsferien nach(zu)rechnen" weiß man nicht. Vielleicht leiden aber auch sie an der PISA-"Leseschwäche" und brauchen einfach mehrere Erinnerungen!?

Bernard Braun, 27.1.10


Systematisches und Empirisches über die direkten und indirekten Krankheitskosten im deutschen Gesundheitssystem.

Artikel 1706 Nach den Heften zur Gesundheitsberichterstattung Nr. 45 (Ausgaben und Finanzierung des Gesundheitswesens) und Nr. 46 (Beschäftigte im Gesundheitswesen) hat jetzt das Robert-Koch-Institut (RKI) das Heft 48 zum Thema "Krankheitskosten" veröffentlicht.

Auf den rund 30 Seiten des Heftes geht es u.a. um die folgenden Fakten und Themen:

• Im Jahr 2006 entstanden der deutschen Volkswirtschaft durch Krankheiten direkte Kosten in Höhe von insgesamt rund 236 Milliarden Euro. Dabei handelt es sich vor allem um die Kosten der im Rahmen der ambulanten und (teil-)stationären Versorgung erbrachten diagnostischen, therapeutischen, rehabilitativen oder pflegerischen Leistungen. Hierzu zählen auch der damit in Verbindung stehende Verbrauch von Arznei- und Hilfsmitteln und die Inanspruchnahme von Zahnersatzleistungen.
• Einige der im GBE-Heft ausführlich belegten und erörterten Fragen lauten: Welche Krankheit verursacht bei wem und in welcher Einrichtung des Gesundheitswesens welche Kosten? Wieso überschreiten die Krankheitskosten der Frauen die der Männer um fast 36 Milliarden Euro? Auf welche Krankheiten sind bei älteren Menschen die höchsten Kosten zurückzuführen und auf welche bei Kindern und Jugendlichen?
• Ein bedeutender Anteil der Krankheitskosten im Seniorenalter entsteht in ambulanten oder (teil)stationären Pflegeeinrichtungen Die Ergebnisse zeigen bei Frauen in Pflegeeinrichtungen bedeutend höhere Pro-Kopf-Kosten als bei Männern. Diese Unterschiede können als indirekte Folge der Feminisierung des Alters gedeutet werden: Frauen weisen eine höhere Wahrscheinlichkeit auf, den Ehe- oder Lebenspartner zu überleben und damit im Alter selbst auf (professionelle) Pflege angewiesen zu sein.
• Deutlich unterschiedliche Krankheitskosten-Effekte gab es auch 2006 zwischen den Altersgruppen: "Auf die unter 15- Jährigen - die 14,0 % der Gesamtbevölkerung stellten - entfielen lediglich 6,1 % der Krankheitskosten. Der Bevölkerungsanteil übertraf damit den Krankheitskostenanteil in diesem Alter um das 2,3-fache. Nahezu umgekehrt war es bei den älteren Menschen: Die im Vergleich hohen Krankheitskosten der über 64-Jährigen (47,1 %) konzentrierten sich auf eine verhältnismäßig kleine Bevölkerungsgruppe (19,5 %). Hier überschritt der Kostenanteil den Bevölkerungsanteil um das 2,4-fache. Der Kostenanteil der über 64-Jährigen lag damit knapp über dem vergleichbaren Kostenanteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 64 Jahren (46,8 %). Die Krankheitskosten verteilten sich im erwerbsfähigen Alter allerdings auf deutlich mehr "Kopfe": Der Anteil dieser Altersgruppe an der Bevölkerung betrug 66,5 %.
• Bei allen Kostenunterschieden der Krankenbehandlung nach soziodemographischen Merkmalen ist aber stets die grundsätzliche Ungleichverteilung der Erkrankungshäufigkeit, Behandlungsbedürftigkeit und damit letztlich auch der Krankheitskosten in der Bevölkerung zu beachten. So entstehen rund 80% aller Ausgaben und damit auch der Kosten durch die Behandlung von 20% der Versicherten einer gesetzlichen Krankenkasse. Dies muss man insbesondere bei den ebenfalls im Heft ausgerechneten Pro-Kopf-Krankheitskosten von 2.870 Euro pro Einwohner oder von 1.260 Euro pro Kopf der bis 15-Jährigen, den 2.930 Euro pro Kopf der 45-64-Jährigen oder gar den 14.370 Euro pro Kopf der Hochbetagten mit mehr als 85 Jahren berücksichtigen.
• Die höchsten Kosten entstanden durch Krankheiten des Kreislaufsystems mit insgesamt 35,2 Milliarden Euro. An zweiter Stelle mit 32,7 Milliarden Euro stehen die Kosten für Krankheiten des Verdauungssystems, zu denen als eine der besonders ausgabenintensiven Einzelkrankheiten die Zahnkaries gehört. Den dritten Rang bei den Kosten für Krankheitsgruppen nehmen psychische und Verhaltensstörungen mit 26,7 Milliarden Euro ein. Darunter waren die Kosten für Demenzkranke mit 3,7 % die relativ größten. Fast gleichhoch wie die Kosten der Behandlung psychischer Erkrankungen waren die Ausgaben für Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems.
• Neben den direkten Kosten gehen zusätzliche Verluste für die deutsche Volkswirtschaft einher, die aus Arbeitsunfähigkeit, Invalidität und vorzeitigem Tod der erwerbstätigen Bevölkerung resultieren. Sie werden in Form von verlorenen Erwerbstätigkeitsjahren berechnet. Dieser Arbeitsausfall summiert sich auf einen zusätzlichen Ressourcenverlust von rund vier Millionen verlorenen Erwerbstätigkeitsjahren. Nähme man die kostenmäßigen Wirkungen der allerdings schlecht quantifizierbaren oder monetarisierbaren Einschränkungen durch Schmerz oder des Verlustes an Lebensqualität hinzu, wären die individuellen und kollektiven Verluste noch wesentlich höher.

Die Ergebnisse der Krankheitskostenrechnung können in Verbindung mit weiteren epidemiologischen Daten zur Überprüfung und Steuerung der Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen verwendet werden. Sie liefern Hinweise auf mögliche Einsparpotenziale für die Entwicklung gesundheitspolitischer Instrumente, dienen als Entscheidungshilfe bei der Vergabe von Forschungsmitteln, unterstützen die Gesundheitsberichterstattung sowie die Evaluation von Gesundheitszielen und können als Ausgangsbasis für die Berechnung künftiger Kostenentwicklungen - insbesondere vor dem Hintergrund des demografischen Wandels - genutzt werden.

Strenggenommen handelt es sich bei Krankheitskosten und damit auch der Krankheitskostenrechnung um nichts, was mit der in der normalen Marktökonomie verglichen werden könnte: "Kosten bezeichnen in der Regel den mit Marktpreisen bewerteten Einsatz von Produktionsfaktoren bei der Herstellung von Waren und Dienstleistungen. Bei den Preisen im Gesundheitswesen handelt es sich jedoch nur selten um wirkliche Marktpreise, sondern überwiegend um Verhandlungs- oder administrativ festgelegte Preise. Ausgangspunkt der Krankheitskostenrechnung im Rahmen der GBE ist deshalb ein ausgabenorientierter Kostenbegriff, bei dem nur der Verbrauch solcher Waren und Dienstleistungen mit Kosten verbunden ist, denen Ausgaben gegenüberstehen. Dadurch können die mit der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen verbundenen "Kosten" unmittelbar der Gesundheitsausgabenrechnung bzw. den dieser Rechnung zu Grunde liegenden Datenquellen entnommen werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Ausgaben für Investitionen wegen der schwierigen Zuordnungsproblematik nicht einzelnen Krankheiten zugeordnet werden. Die insgesamt in der Krankheitskostenrechnung nachgewiesen "Kosten" sind deshalb niedriger als die in der Gesundheitsausgabenrechnung nachgewiesenen Gesamtgesundheitsausgaben. Alle nicht ausgabenwirksamen Leistungen, beispielsweise private Arztfahrten oder die unentgeltliche Pflege von Angehörigen, werden in der Krankheitskostenrechnung nicht berücksichtigt."

Schließlich eignet sich die Krankheitskostenrechnung auch nicht wie zum Beispiel Kosten-Nutzen-Analysen oder Kosten-Effektivitäts-Analysen für Vergleiche unterschiedlicher Maßnahmen.

Das GBE-Heft 48 "Krankheitskosten" von Manuela Nöthen und Karin Böhm kann kostenlos heruntergeladen werden oder schriftlich kostenlos bestellt werden (Robert Koch-Institut, GBE, General-Pape-Straße 62, 12101 Berlin, E-Mail: gbe@rki.de, Fax: 030-18754-3513).

Bernard Braun, 11.1.10


Ausgaben und Finanzierung des deutschen Gesundheitswesens aktuell - ein weiteres Stück Gesundheitsberichterstattung.

Artikel 1579 Aus der kruden Perspektive der "Lohnnebenkosten" sind die Gesundheitsausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) seit Jahrzehnten zu hoch, aus Sicht der niedergelassenen Ärzte ist entweder zu wenig Geld "im System" oder muss explizit rationiert werden und die Protagonisten und Propagandisten des "Jobmotors" Gesundheitswirtschaft sehen außerhalb der GKV-Gesundheitsversorgung Milliardeneinnahmen ungehoben liegen.

Wie es mit den Ausgaben für Gesundheit und deren Finanzierung wirklich aussieht war noch nie einfach zu verstehen; nicht zuletzt wegen der massiven, mächtigen und persistenten Mythen à la "Kostenexplosion" und "Gefährdung des Wirtschaftsstandortes durch Lohnnebenkosten".

Das im Mai 2009 veröffentlichte Heft Nr. 45 der "Gesundheitsberichterstattung des Bundes" liefert in kompakter Weise einen aktuellen Überblick, der in den zahllosen Debatten u.a. über die eingangs zitierten Parolen und Forderungen nützlich sein kann.

Zu den Kernergebnissen dieses Bandes gehören:

• "In den zwölf Jahren von 1995 bis 2006 haben sich die Gesundheitsausgaben um 58,5 Milliarden Euro auf 245 Milliarden Euro erhöht", ein Anstieg, der den Mythos von der "Kostenexplosion" früher wie heute als Faktum erscheinen lässt. Dahinter verschwindet die Tatsache, dass die Ausgaben im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt nicht überproportional gestiegen sind: "Der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) lag in den letzten Jahren zwischen 10,1 % und 10,8 %." Nicht bewegter ging es bei den Leistungsausgaben der GKV zu, die sich seit Ende der 1970er Jahre stets irgendwo zwischen einem Anteil am BIP von 6% bis 6,5% (2007: 6,3%) hin und her bewegte.
• Der wichtigste Ausgabenträger ist die GKV, bei der rund 88 % der deutschen Bevölkerung versichert sind und die ca. 57 % der Gesundheitsausgaben trägt.
• Die Bedeutung von privat finanzierten Leistungen nimmt stetig zu.
• Ärztliche Leistungen sowie die Waren des Gesundheitswesens - also Arzneimittel, Hilfsmittel, Zahnersatz und sonstiger medizinischer Bedarf - sind die ausgabenmäßig bedeutendsten Leistungsarten. Die kostenintensivste Einrichtung sind die Krankenhäuser.
• Im internationalen Vergleich liegt Deutschland beim Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt im oberen Drittel und bei den Ausgaben je Einwohner im Mittelfeld der OECD-Staaten.
• Seit 1995 hat sich die Struktur der Finanzierung im Gesundheitswesen zu Gunsten der öffentlichen Haushalte sowie der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber und zu Lasten der privaten Haushalte/privaten Organisationen ohne Erwerbszweck verschoben. Die Finanzierung aus Bundesmitteln wird zukünftig an Bedeutung gewinnen.
• 2006 gaben die privaten Haushalte 5,3 Milliarden Euro für Zuzahlungen zu GKV-Leistungen aus. Für Arzneimittel sowie die ärztliche Behandlung mussten dabei die meisten Zuzahlungen geleistet werden. Die Eigenbeteiligung der privaten Haushalte an den Gesundheitsausgaben in Deutschland entspricht dem Niveau der Nachbarstaaten.
• "Die privaten Haushalte und privaten Organisationen ohne Erwerbszweck (o. E.) finanzierten 2006 rund 13,6 % der gesamten Gesundheitsausgaben. Die privaten Haushalte haben einen deutlichen Ausgabenanstieg zu verkraften."
• Die private Krankenversicherung hat ebenfalls überdurchschnittliche Ausgabenzuwächse. Rund 9,2 % der Gesundheitsausgaben werden von der privaten Krankenversicherung getragen.
• Eine Studie des Wissenschaftlichen Institutes der allgemeinen Ortskrankenkassen (WIdO) schätzte - basierend auf Selbstauskunft der Versicherten - den Umsatz der IGeL für 2004 auf knapp 1 Milliarde Euro.
• Für rezeptfreie und frei verkäufliche Arzneimittel zur Erhaltung der Gesundheit und zur Behandlung von Gesundheitsstörungen haben die Patientinnen und Patienten 2006 insgesamt 4,5 Milliarden ausgegeben. Von diesen Präparaten wiederum werden mehr als zwei Drittel ohne vorangegangene Arztkonsultation von den Verbraucherinnen und Verbrauchern selbst gekauft.

Das vom Robert-Koch-Institut in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt herausgegebene Heft 45 der "Gesundheitsberichterstattung des Bundes" zum Thema "Ausgaben und Finanzierung des Gesundheitswesens" von Michael Müller und Karin Böhm umfasst 47 Seiten und ist kostenlos als PDF-Datei erhältlich.

Bernard Braun, 16.6.09


1-Eurojobs als "bedeutsamstes Instrument der Arbeitsmarktpolitik": Wenig Wirkung, viele Nebenwirkungen!

Artikel 1571 Im April 2009 gab es nach Daten der Bundesagentur für Arbeit insgesamt 270.000 Personen, die in einem so genannten 1-Euro-Job arbeiteten. Ein überproportionaler Anteil, nämlich 42% dieser Jobs entfiel auf Personen in den ostdeutschen Bundesländern. Über 200.000 dieser Berufstätigen waren Jugendliche und junge ERwachsene unter 25 Jahren. Der zeitpunktbezogene Wert verbirgt, dass die Anzahl der in einem gesamten Jahr mindestens einmal und vorübergehend in einem 1-Eurojob tätigen Personen deutlich höher liegt. 2007 waren dies 775.000 und 2008 764.000 Personen.

Dieses mit der so genannten Hartz-Gesetzgebung eingeführte Arbeitsmarktinstrument wird in zweierlei Hinsicht problematisiert:

• Es häufen sich Hinweise, dass der ursprünglich von ihm erwartete Effekt, den Übergang in den ersten Arbeitsmarkt zu fördern, weitgehend nicht funktioniert.
• Zweitens gibt es Anzeichen dafür, dass mit 1-Eurobeschäftigten die Beschäftigung tariflich zu bezahlender Arbeitskräfte mit entsprechenden Einkommen und entsprechenden Sozialbeiträgen umgangen wird. Diese sozialpolitische Maßnahme würde also einen der vielen kleinen aber stabilen gesetzlich induzierten Beiträge zur Erosion der Basis für die einkommensbezogene Beitragsfinanzierung der Sozialversicherungsträger leisten.

In einer kurzen Übersicht über Erkenntnisse aus der amtlichen Statistik und einer Befragung von 1-Euro-Jobbern hat der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) im Mai 2009 beide Kritikpunkte erhärtet.

Zum ersten Punkt zitiert er einen kritischen Prüfbericht des Bundesrechnungshofs aus dem November 2008, in der sich dieser folgendermaßen zur Wirkung der 1-Eurojobs äußert: "Das Ziel eines rechtskonformen, zielgerichteten und wirtschaftlichen Einsatzes dieses Instrumentes ist auch in den letzten Jahren nicht erreicht worden. ... Zwei Drittel der geprüften Maßnahmen erfüllten nicht die gesetzlichen Fördervoraussetzungen. In acht und zehn beanstandeten Fällen war die Tätigkeit nicht zusätzlich … In der Hälfte der beanstandeten Fälle stand die Tätigkeit nicht im öffentlichen Interesse. ... Die Arbeitsgelegenheiten blieben aus Sicht des BRH für drei von vier Hilfebedürftigen weitgehend wirkungslos. Messbare Integrationsfortschritte waren nicht erkennbar. ... Den Grundsicherungsstellen war häufig - insbesondere bei teilnehmerstarken Maßnahmen - nicht bekannt, welche konkreten Tätigkeiten die Hilfebedürftigen ausübten."

Die Evidenz des zweiten Kritikpunkts ergibt sich aus mehreren empirischen Untersuchungen über die sozialen Merkmale der 1-Eurojobber und der ihnen zugewiesenen Tätigkeiten.

Dabei sind folgende Merkmale sichtbar geworden:

• "68 Prozent der Teilnehmenden (besaßen) eine Berufsausbildung bzw. einen Hochschulabschluss." Dies spricht dafür "dass die Teilnehmenden durchaus qualifizierte Tätigkeiten verrichten können, die regulärer Beschäftigung nahe kommen bzw. solcher entsprechen. Auch das IAB kommt in einer Untersuchung (aus dem Jahr 2007) zu dem Schluss, dass die Hälfte der 1-Euro-Jobber fit ist für den ersten Arbeitsmarkt und 1-Euro-Jobs reguläre Beschäftigung 'in nicht zu vernachlässigendem Umfang' ersetzen."
• "Dementsprechend gibt auch in der PASS-Befragung (Panel Arbeitsmarkt und soziale Sicherung) fast jede/r zweite Befragte (45 Prozent) im 1-Euro-Job an, das Gleiche gemacht zu haben, wie festangestellte Kolleginnen und Kollegen. Jede/r vierte Befragte sagt, dass für die Tätigkeit im 1-Euro-Job eine abgeschlossene Ausbildung erforderlich gewesen sei. Demnach könnte zumindest ein Viertel der 1-Euro-Jobs einer regulären Beschäftigung entsprechen, also eine Tätigkeit sein, für die eine Berufsausbildung notwendig ist, die von einem Teilnehmenden mit Berufsausbildung gemacht wurde, der das Gleiche gemacht hat, wie Festangestellte."

Die PASS-Befragung erfasst 332 im 1-Euro-Job Beschäftigte sowie 900 Personen mit 1-Euro-Job Erfahrung. Insgesamt wurden 19.000 Personen über den Zeitraum erstes Halbjahr 2005 bis erstes Halbjahr 2007 befragt, davon 9.386 mit ALG II Leistungsbezug.

Die in der Reihe "Arbeitsmarkt aktuell" des DGB erschienene zehnseitige Studie "Praxis und neue Entwicklungen bei 1-Eurojobs" ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 1.6.09


Wie viel kostet die Privatisierung von Leistungen der Krankenversicherung? Das Beispiel des "Medicare Modernization Act" von 2003

Artikel 1550 Modernisierung gleich Privatisierung und schon hat man die "Kostenexplosion" im Gesundheitswesen im Griff. So oder so ähnlich sehen die Versprechungen derjenigen Gesundheitspolitiker aus, die sich auch hierzulande alle 2-3 Jahre mit steigenden Beiträgen für den Versicherungsschutz gegen Krankheit beschäftigen und denen dann prompt auch eine immer präsente Truppe von ideenarmen aber wortgewaltigen Gesundheitsökonomen das Patentrezept des Problems liefert: Mehr private Versicherung für bessere Leistungen und niedrigere Kosten!

Dies war auch in den USA so und zwar 2003, als das staatlich organisierte und zum Teil auch finanzierte Krankenversicherungssystem Medicare für die über 65 Jahre alte Bevölkerung der USA ein erhöhtes Wachstum der dafür notwendigen Finanzen zu verzeichnen hatte.
Zu dem zur Lösung dieser Probleme verabschiedeten "Medicare Modernization Act (MMA)" gehörte auch, einen Teil der Versorgungsleistungen auf die Programme privater Krankenversicherungsanbieter zu übertragen, die so genannten "Medicare Advantage (MA) private plans", d.h. einer Form privater "health plans". Dies bedeutete auch, dass bewusst auch etwas mehr Medicare-Geld in die Kassen der MA-Anbieter fließen sollte.

Die Verabschiedung des Gesetzes war ausdrücklich mit der Erwartung und These verknüpft, "private plans and competition will help drive down the explosive growth of Medicare spending" (so der republikanische Repräsentantenhaus-Abgeordnete Bill Thomas in dem Aufsatz "Dramatic Improvement or Death Spiral—Two Members of Congress Assess the Medicare Bill" von ihm und dem demokratischen Senator Edward Kennedy im "New England Journal of Medicine"vom 19.2.2004; 350(8):747-51).

Was danach tatsächlich geschah, untersuchte eine im Mai 2009 erschienene Studie des Commonwealth Fund einschließlich der Entwicklungen im Jahr 2009.

Das Ergebnis war eindeutig und lautete:

• In den letzten 6 Jahren waren die Ausgaben für die in "MA plans" versicherten Personen höher als wenn ihre Versorgung nach dem auch nicht unumstrittenen aber natürlich völlig "unmodernen" Medicare-Einzelleistungsvergütungssystem ("fee-for-service") bezahlt worden wären.
• Die für 2009 geplanten Zahlungen der in "MA plans" versicherten Personen sind um 13% höher als die im fee-for-service-System. Die Mehrausgaben belaufen sich auf 1.138 US-$ pro MA-plan-Versicherten und eine Gesamtsumme von 11,4 Milliarden US-$. Dieser Wert schwankt zwischen 2.521 US-$ oder 38% über dem Medicaredurchnitt in Hawaii und 2% über dem Durchschnitt bei den "MA plan"-Versicherten in Nevada.
• Die Anzahl der Medicare-Versicherten, die in "MA plans" versichert waren stieg von 4,8 Millionen in 2004 (13% aller Medicareversicherter) auf 10 Millionen im Februar 2009 (23% der Medicareversicherten).
• Obwohl die höheren Ausgaben der "MA plans" zum Teil für zusätzliche Leistungen verwandt werden, sind diese Leistungen bei weitem nicht für alle MA-Leistungsberechtigten erhältlich, werden aber insgesamt aus dem allgemeinen Geldtopf von Medicare finanziert.
• Alles in allem kosteten die Extrazahlungen an die privaten "MA plans" Medicare in den letzten 6 Jahren seit dem MMA 44 Milliarden Dollar.
• Sogar wenn man einige Korrekturen im 2008 verabschiedeten "Medicare Improvements for Patients and Provider Act (MIPPA)" berücksichtigt, triebe allein die Fortsetzung der bisherigen Privatisierung in Gestalt der "MA plans" die Ausgaben für Medicare in den nächsten 10 Jahren um gut 150 Milliarden US-$ nach oben.
• Eine der mit der großzügigen Finanzierung der "MA plans" verknüpfte Erwartung, die Versorgung der 19% auf dem Land lebenden Medicare-Versicherten zu verbessern, trat kaum oder nicht ein. 85% dieser Versicherten sind auch 2008 im traditionellen Medicare-System versichert. Die Versorgung der restlichen 15% der Versicherten tendiert dahin, teurer zu sein als im "fee-for-service"-System.

Angesichts dieser Zahlen bleibt es aber das Geheimnis der Autoren dieser Analyse, warum sie diese mit der Hoffnung ausklingen lassen, es wäre möglich die "private plans" dazu zu befähigen, ihre beabsichtigte Rolle spielen zu können: "to develop innovations in quality, efficiency, and patient service; and to offer beneficiaries a choice of the best of both worlds."
Dies gilt auch ein bisschen für ihre sympathische Überlegung, die Zusatzausgaben für die "MA plans" zu kürzen und die frei gewordenen Milliardenbeträge den auf dem Lande arbeitenden Ärzten und Krankenhäuser mit dem ausdrücklichen Ziel zu bezahlen, die Versorgung der älteren und behinderten Landbevölkerung zu verbessern.
Gut gemeint ist sicherlich auch, ebenfalls die künftig für "MA plans" geplanten 150 Milliarden US-$ Zusatzzahlungen u.a. zu Gunsten der Finanzierung des Versicherungsschutzes der aktuell 47 Millionen unversicherten US-Amerikaner zu nutzen als sie in die Kassen der "MA plans" fließen zu lassen.

Der achtzehnseitige materialreiche Aufsatz "The Continuing Cost of Privatization: Extra Payments to Medicare Advantage Plans Jump to $11.4 Billion in 2009" von B. Biles, J. Pozen und S. Guterman ist als PDF-File kostenlos zu erhalten.

Bernard Braun, 5.5.09


Abschied von der "Mittelstandshypothese": Zur schwachen Empirie des "Jobmotors" Klein- und Mittelbetriebe.

Artikel 1448 Die finanzielle Stabilität und damit die Leistungsfähigkeit von Sozialversicherungssystemen, die an die Erwerbstätigkeit und die dort erzielten Einkommen gebunden sind, beruhten und beruhen ihrerseits erheblich auf ideell und materiell gesicherten Annahmen über die Stabilität von sozialen, ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Entwicklungen.

Dazu gehört in der deutschen Sozial- und Wirtschaftsordnung die in vielerlei Hinsicht erwartete und unangefochten verfochten stabilisierende Existenz der kleinen und mittleren Betriebe (alle Betriebe mit bis zu 499 Beschäftigten).

Die wichtige Rolle dieser Größenklasse von Betrieben ergibt sich schon aus der Tatsache, dass im Jahr 2005 69,6 % der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland in kleinen Betrieben mit unter 250 Beschäftigten arbeiteten und dieser Anteil in den letzten 10 Jahren sogar gewachsen ist (1994=65 %). Damit hängen sowohl die Erwerbstätigkeit oder Arbeitslosigkeit als auch das Einkommen und damit die Einnahmenbasis und die Höhe der Einnahmen von Sozialversicherungsträgern in erheblichem Maße vom Geschehen in Klein- und Mittelunternehmen (KMU) ab. Der Anteil aller Beschäftigten, die in KMU arbeiteten lag 2005 bei 79,7 %.

Wegen der historisch gewachsenen besonderen Binnen-Sozialverhältnisse und der spezifischen Produktionsweisen in mindestens einem Teil dieser Betriebe (Stichwort "Betriebsfamilie") galt es bisher für gesichert, dass in ihnen weniger schnell konjunkturellen Impulsen gefolgt und entlassen wird als in Großbetrieben und sogar rascher und mehr neue Arbeitsplätze geschaffen werden als in größeren Betrieben. Es wurde sogar für möglich gehalten, dass Beschäftigungseinbrüche in größeren Betrieben durch kleinere und mittlere Unternehmen kompensiert werden können.

Ein empirischer Beleg dafür ließ sich aber bisher nicht (einfach) finden, aber Zweifel an dieser Funktion nahmen zu.

Für die Jahre 1993 bis 2005 beseitigt diese Ungewissheiten und Erkenntnislücken aber jetzt eine Analyse der Beschäftigungsdynamik in Betrieben unterschiedlicher Größe in allen Sektoren der Wirtschaft, die mit Beschäftigungs-Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) von WissenschaftlerInnen des "Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)" durchgeführt wurde. Die Datenbasis ist ein Mikrodatensatz auf Betriebsebene, der aus der Grundgesamtheit aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (ohne geringfügig Beschäftigte) aus der Beschäftigten-Historik der BA gebildet wurde.

Die als "IAB-Kurzbericht 23/2008" auf 6 Seiten veröffentlichten Ergebnisse zeigen ein wesentlich weniger idyllisches Bild der Kompensationskraft kleinerer Betriebe als in den (Selbst)-Inszenierungen mittelständischer Betriebslandschaft von links bis rechts:

• Betriebe mit weniger als 500 Beschäftigten sind am Auf- und Abbau von Arbeitsplätzen, also an den Beschäftigungsbewegungen, überdurchschnittlich beteiligt - sowohl in Zeiten des Aufschwungs als auch in Abschwungphasen und dies stärker als bisher.
• Sie können sich aber - anders als früher - in Jahren des Beschäftigungsrückgangs nicht mehr besser behaupten als große Betriebe.
• In Westdeutschland unterliegen die Anteile der Kleinstbetriebe (1 bis 9 Beschäftigte) und die der Kleinbetriebe (10 bis 49 Beschäftigte) an den Beschäftigungsgewinnen nur leichten Schwankungen. Ihr Anteil an den Verlusten nimmt dagegen im Untersuchungszeitraum tendenziell zu.
• Beschäftigungsverhältnisse sind in Großbetrieben beständiger als in Kleinstbetrieben mit bis zu 9 Beschäftigten: Während ein Arbeitsplatz in einem westdeutschen Großbetrieb mit 500 und mehr Beschäftigten im Zeitraum von 1994 bis 2005 rund 11 Jahre bestand, betrug die Lebensdauer eines Arbeitsplatzes in einem westdeutschen Kleinstbetrieb im selben Zeitraum 2,6 Jahre. Die Arbeitsplatz-Lebensdauer lag in Ostdeutschland in allen Betriebsgrößenklassen unter der vergleichbar großer Betriebe in Westdeutschland.
• Die KMU sind - gemessen durch die jeweilige Veränderung der Nettobeschäftigung bezogen auf die größenklassenspezifische Durchschnittsbeschäftigung - sowohl in Aufschwung- als auch in Abschwungzeiten überdurchschnittlich an den entsprechenden Beschäftigungsbewegungen beteiligt. Im Zeitraum 2002-2005 nahm die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Großbetrieben um 1,19 % ab, in allen anderen Größenklassen war der Abschwung stärker. Mit -2,27 % lagen hier die westdeutschen Betriebe mit bis zu 9 Beschäftigten an der Spitze (Beschäftigte in ostdeutschen Kleinstbetrieben schrumpften im selben Zeitraum um 4,41 %).
• Anders als oft unterstellt, können mittelständische Unternehmen somit Beschäftigungseinbrüche nicht in erheblichem Umfang kompensieren und die eingangs erwähnte gesicherte Erwartung entsprechender materieller Effekte zielt ins Leere.

Die Autorengruppe fragt sich angesichts der Ergebnisse ihrer Analysen "warum sich das uneingeschränkt positive Bild der KMU als 'Jobmotor' in der Öffentlichkeit und der Politik durchgesetzt hat", ohne selbst eine Antwort oder zumindest Hypothesen zu liefern. Zu Recht heben sie aber hervor, dass eine besondere Förderung der kleinen und mittleren Betriebe wegen einer besonderen Fähigkeit zur Arbeitsplatzsicherung durch ihre Empirie nicht gerechtfertigt werden kann.

Der IAB-Kurzbeitrag "Beschäftigungsbeitrag von kleinen und mittleren Unternehmen. Viel Umschlag, wenig Gewinn" von Thomas K. Bauer, Alexandra Schmucker und Matthias Vorell ist komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 20.12.08


"Priority Setting" in acht Gesundheitssystemen: Größte Schwachstelle ist die mangelhafte Beteiligung der Öffentlichkeit

Artikel 1429 In den Gesundheitssystemen zahlreicher Länder fanden und finden mehr oder weniger offene oder intensive Diskussionen über die explizite oder implizite Rationierung gesundheitlich notwendiger Versorgungsleistungen (und nur dies ist strenggenommen Rationierung und nicht die Verweigerung jeder beliebigen Leistung) oder die Prioritätensetzung bei diesen Leistungen sowie die damit verbundenen Fragen der Gerechtigkeit und Effizienz solcher Maßnahmen statt.

Egal, welche Absichten man bezüglich der Rationierung verfolgt, ob was man von ihr lernen will der Argumente gegen sie sucht, kann erst eine gründliche Analyse der unterschiedlichen nationalen Diskurse Hinweise auf ihre jeweiligen Erfolge und Misserfolge oder die Bedingungen ihres Scheiterns liefern.

Diese Untersuchung führten nun zwei Philosophen aus Norwegen und den USA für acht Länder, nämlich Norwegen, Schweden, Israel, die Niederlande, Dänemark, Neuseeland, Großbritannien und den US-Bundesstaat Oregon, für deren expliziten Bemühungen um eine Priorisierung der Allokation von Ressourcen im Gesundheitswesen durch.
Die dort entwickelten Herangehensweisen lassen sich in eine Variante unterscheiden, die sich darauf konzentriert, Prinzipien herauszuarbeiten und eine andere Variante, bei der es darum geht praktische Übungen und den Wissenserwerb zu definieren.

Um überhaupt Lehren aus den Erfahrungen mit Rationierung in diesen Ländern gewinnen zu können, sahen sich die Forscher vier Aspekte genauer an: Wie sah der Prozess des "priority settings" aus? Was waren die Kriterien aus mit denen der Erfolg dieser Bemühungen bewertet wurden? Welche Herangehensweise wurde mit diesen Kriterien am besten getroffen? Wie kommt man unter Nutzung der Erfolge und des Scheiterns am besten im Prozess einer Rationierung voran?

Zu den zentralen Kriterien mit den die Rationierungsdiskurse und -politiken untersucht und eingeordnet wurden gehörte die ausdrückliche Bitte für einen öffentlichen Input und die Förderung einer öffentlichen Diskussion und Bildung, die Einrichtung der Prinzipien und ihres Einfluss auf Politik und Versorgungspraxis.

Die wesentlichen Erkenntnisse aus dem Prioritätensetzungsgeschehen in diesen Ländern lauten:

• Es zeigte sich, dass es nur eine geringe Evidenz dafür gibt, dass die Etablierung eines Wertekatalogs für "priority setting" irgendeinen Effekt auf die Gesundheitspolitik gehabt hat.
• Ebenso wenig Evidenz hatten Priorisierungsübungen aber auf das damit ins Auge gefasste Ideal einer offenen, partizipativ-öffentlichen Einmischung in die Entscheidungsfindung.
- Die Einrichtungen, die sich in den verschiedenen Ländern etabliert haben, um bei der Steuerung des Rationierungsprozesses und seiner Implementation mitzuwirken, waren relativ erfolgreich.
• Am wenigstens Wirkung auf Politik und Praxiswelt zeigten die ersonnenen und platzierten "priority setting"-Prinzipien bzw. ein Priorisierungsrahmen.
• Die dritte Schlussfolgerung aus den acht Fallstudien kommt relativ nüchtern zum Schluss, dass trotz aller Attraktivität und der u.a. in der Priorisierungsliteratur zu beobachtenden Begeisterung für eine öffentliche Beteiligung von BürgerInnen an diesen Prozessen diese kein fester und wirksamer Bestandteil der Priorisierungsorganisation ist.
• In den meisten Ländern wurden daher regelbasierte und -legitimierte Bewertungsprozeduren durch outcomelegitimierte Bewertungen ersetzt, die Beteiligung der Öffentlichkeit zurückgefahren und stattdessen Experten-Zirkel gestärkt und die Einmischungsmöglichkeiten der Öffentlichkeit auf den Fall offensichtlicher Fehler in der Entwicklung von Rationierungsvorschlägen begrenzt.
• Eine wichtige Quintessenz: "The examination of the prioritization efforts discussed in this paper, however, leads us to conclude that implementation of public discussion and open and transparent deliberative processes has not been achieved" und der Versuch einer Lösung unter Berücksichtigung der öffentlichen Beteiligung: "In light of this, one of the main challenges for the priority setting field would be propose appropriate levels of public involvement and appeal that is much less extensive than the usual rhetoric suggests, but that still ensures that decisions reached are legitimate. One key element for appropriate public involvement would probably be transparency in providing reasons for decisions."

Die Untersuchung enthält knappe Darstellungen und Bewertungen der acht nationalen Priorisierungs-Szenarien, fragt aber praktisch nirgendwo nach, ob und in welcher Intensität der Zwang über Rationierung diskutieren zu müssen und praktische Vorschläge zur Rationierung liefern zu müssen eigentlich gerechtfertigt ist. So berechtigt die kritische Darstellung und Auseinandersetzung mit der mangelnden öffentlichen Beteiligung also auch ist, so problematisch ist die dargestellte Konzentration auf eine zum guten Teil technische Optimierung der Beteiligung der Öffentlichkeit.

Die dreizehnseitige Darstellung der Analysen erschien als Aufsatz unter dem Titel "Priority setting in health care: Lessons from the experiences of eight countries" von Lindsay M Sabik und Reidar K Lie bereits am 21. Januar 2008 im Onlinebereich der Zeitschrift International Journal of Equity Health" und ist komplett und kostenfrei erhältlich.

Bernard Braun, 3.12.08


Der "Abschwung vor dem Abschwung" oder sinkende bzw. stagnierende Brutto- und Nettolohnquote bei Höchststand der Gewinnquote

Artikel 1421 Die Bezieher verschiedener Einkommensarten gehen mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen in den wirtschaftlichen Abschwung. So hat die Gewinn-/Vermögensquote am Volkseinkommen nach den aktuellsten verfügbaren Daten einen neuen Höchststand erreicht. Dagegen sinkt der Anteil der Arbeitseinkommen selbst in der Spätphase des Aufschwungs.

Das zeigt der gerade erschienene "Verteilungsbericht 2008 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung. Der Verteilungsbericht erscheint verfasst von Claus Schäfer unter der Überschrift "Anhaltende Verteilungsdramatik - WSI-Verteilungsbericht 2008" im Heft 11+12/2008 der WSI Mitteilungen (S. 587-596).

Die Einkommen aus Gewinnen und Vermögen sind in Deutschland brutto wie netto noch einmal gestiegen und erreichen einen historischen Spitzenwert: 2007 machten sie netto 34 Prozent des privat verfügbaren Volkseinkommens aus, im ersten Halbjahr 2008 waren es 35,8 Prozent. 1960 hatte diese Einkommensart noch einen Anteil von 24,4 Prozent, 1990 waren es 29,8 Prozent und im Jahr 2000 lag die Quote bei 30,8 Prozent. Besonders stark wuchsen dabei zuletzt die Unternehmensgewinne und vor allem die Gewinne von Produktionsunternehmen. Da nach den Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) lediglich rund vier Prozent der Erwachsenen in Deutschland Betriebsvermögen besitzen, kommen die Gewinne einem sehr kleinen Personenkreis zu gute.

Dagegen hat selbst der Aufschwung in seiner Spätphase den langjährigen Schwund beim Kaufkraft- und Beitragsschöpfungspotenzial der Arbeitseinkommen nicht umgekehrt:

• Die Lohnquote (umfasst Einkommen aus abhängiger Arbeit und die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung) ging brutto von 71 % (1991) über einen zwischenzeitlichen Höchststand von 72,2 % (2000) auf 64,8 % in 2007 sowie auf 63,7 % im ersten Halbjahr 2008 weiter zurück.
• Netto - nach Abzug von Steuern und Beiträgen - stieg die Lohnquote zwar 2007 im Vorjahresvergleich etwas an - auf 41,2 Prozent. Sie ist jedoch im ersten Halbjahr 2008 mit 39,3 Prozent bereits wieder unter das Niveau von 2006 gesunken, als es 40,6 Prozent waren. Vor 1990 erreichte die Nettolohnquote jahrzehntelang noch ein Niveau von über 50 Prozent.
• Die Beitragsbelastung der Bruttolöhne und -gehälter stieg von 14,3 % in 1991 über 16,1 % in 2000 auf 17,5 % im 1. Halbjahr 2008 an. Ganz anders sieht das Niveau und die Entwicklung der Belastung der Gewinn- und Vermögenseinkommen durch Sozialbeiträge aus: Sie fiel von 3,1 in 1991 über 3,5 %in 2000 auf 2,4 % in 2008.

Die Tatsache, dass es selbst in einem wirtschaftlichen Aufschwung nicht gelingt die Quote der Einkommen aus abhängigen Arbeit zu erhöhen, hat vor allem den Grund, dass hinter der Zunahme der Beschäftigungszahlen oftmals schlecht bezahlte Voll- oder Teilzeitjobs stecken, d.h. auch die Anzahl der so genannten Vollzeit-Äquivalenzarbeitsplätze nicht spürbar zunimmt. Damit verfestigt sich aber auch die Einkommensschwäche der Sozialversicherungsträger, die sich vor allem aus Beiträgen aus Bruttoeinkommen finanzieren - egal, ob das künftig in der GKV durch den Gesundheitsfonds oder bisher durch jede Krankenkasse individuell erledigt wurde.

Eine knappe Zusammenstellung von Daten und Schlussfolgerungen des WSI-Verteilungsberichts 2008 enthält eine kostenlos erhältliche Presseerklärung von 6 Seiten.
Wer die 10 Seiten umfassende Aufsatzversion des Verteilungsberichts studieren will, erhält sie ebenfalls kostenlos. Beide Publikationen enthalten reichhaltige Tabellen zur Entwicklung der genannten und weiterer Indikatoren.

Bernard Braun, 28.11.08


Wie drückend und standortgefährdend ist die Steuer- und Sozialabgabenquote Deutschlands 1975-2007? OECD-Bericht entdramatisiert

Artikel 1372 Auch wenn dies in dem Monat, in dem eine deutsche Bundesregierung innerhalb einer Woche aus der "Steuerlast" mindestens 400 Milliarden Euro mobilisiert, um zwischen den deutschen Banken wieder Vertrauen einkehren zu lassen, gerade nicht passt, gab es und wird es bald wieder den bitterernsten Diskurs über die immer unerträglicher alle privatwirtschaftliche Initiativen und den "Wirtschaftsstandort Deutschland" belastende Steuer- und Abgabenlast in Deutschland geben. Und es wird bald wieder heißen, "wir" könnten "uns" das eine oder andere öffentliche Gut nicht mehr leisten, weil durch seine Finanzierung die Steuer- und Abgabenlast noch weiter erhöht würde.

Passend dazu veröffentlichte die OECD gerade für ihre Mitgliedsländer und den Zeitraum 1965 bis 2006/2007 einen Überblick zur Entwicklung der Steuer- und Abgabensummen und -quoten, deren absolute Werte und Anteil an der im Bruttoinlandsprodukt (BIP) zusammengefassten Wirtschaftsleistung. Diese Publikation, die OECD "Revenue Statistics 1965-2007", kommt dabei zu einem wesentlich differenzierten und zum Teil völlig anderen Bild über die Entwicklung in Deutschland als dies in dessen Standortdebatte an die Wand gemenetekelt wird.

Um die Daten richtig interpretieren zu können ist wichtig, dass die OECD unter den Begriff "taxes" oder "tax revenue" eine Reihe von Steuern und Abgaben zusammenführt. Hinter "taxes" verbergen sich also richtige Steuern auf Einkommen, Gewinne, Vermögen, Honorare, Konsum und andere richtige Steuern sowie die Pflichtbeiträge von Beschäftigten und Arbeitgeber für die soziale Sicherung.

Die zentralen Ergebnisse der Berechnungen der OECD sehen so aus:
• Die gesamte Steuer- und Abgabequote (Prozentanteil der "taxes" am BIP) bewegt sich in Deutschland zwischen 34,3 % (1975), Maxima von 37,2 % (1995 und 2000) und 35,6 % (2006) wie 36,2 (2007 vorläufiges Ergebnis). 2005 war ein Zwischentief von 34,6 % erreicht. Während Deutschland sich 1975 noch deutlich über dem OECD-Durchschnittswert von 29,4 % befunden hat, liegt es in den letzten Jahren knapp über (2005=35,8 %) oder knapp unter diesem Wert (2006=35,9 %). Vergleicht man Deutschland mit den EU15-Ländern liegt es in den letzten 10 Jahren konstant und deutlich unter deren Durchschnittswert von 39 % (1995), 40,6 % (2000), 39,7 % (2005) und 39,8 % (2006). 1975 lag dagegen der deutsche Wert noch ebenso deutlich über dem EU15-Wert von 32,2 %.

• Die Steuerbelastung von Einkommen und Gewinnen in Anteilen am BIP liegt in DEutschland seit 1990 konstant unter dem Wert aller OECD-Länder und sogar deutlich unter dem der EU15-Länder. 2006 betrug dieser Wert in Deutschland 10,8 %, in der OECD 13 % und im EU15-Bereich 13,8 %.

• Ebenfalls eher undramatisch sieht die Empirie bei den Pflicht-Sozialabgaben (Anteil am BIP) aus. Sie fallen nach einem Anstieg von 8,5 % (1965) auf 14,5 % (1995 und 2000) über 13,9 % (2005) auf 13,7 % (2006). In der gesamten OECD steigt dieser Wert kontinuierlich von 4,6 % (1965) auf 9,1 % (2005 und 2006). Bei den EU15-Ländern fällt die Sozialabgabenquote von einem Allzeit-Hoch von 11,4 % (1995) auf 11,1 % (2005 und 2006). Überlegt man sich, dass in mehreren Ländern die soziale Sicherheit überwiegend aus Steuern finanziert wird, wirkt der relativ hohe Sozialabgabenwert nicht mehr dramatisch, sondern sogar relativ günstig.

• In einer Reihe von vergleichenden Übersichten zur Veränderung der gesamten Steuer- und Abgabenquote oder einzelner Komponenten der "taxes" in den Jahrzehnten zwischen 1975 und 2005, platziert sich Deutschland immer im mittleren oder unteren Bereich der Veränderungsraten. So nimmt z.B. der Anteil der gesamten Steuern und Abgaben am BIP in der OECD zwischen 1975 und 2006 um 1,2 Prozentpunkte zu. Beim Spitzenreiter Island stieg dieser Wert um über 10 Prozentpunkte während er beim Schlusslicht Slowakei um fast 7 Prozentpunkte abnahm. Deutschlands Wert nahm ebenfalls ab und zwar um fast 2 Prozentpunkte. Nur noch in den Niederlanden, Kanada, Finnland, Polen und Ungarn war die Abnahme höher, während sie z. B. in den USA oder Großbritannien mehr oder weniger kräftig zunahm.

Wer sich in den Bericht weiter vertieft wird eine Fülle von Status quo-Daten und Entwicklungsreihen finden, die das hier gezeichnete Bild anreichern und auch weiter differenzieren. Was die Daten in keinem Fall bestätigen, ist die Berechtigung für eine Überdramatisierung der Lage des Wirtschaftsstandorts Deutschland im direkten Vergleich mit auf dem Weltmarkt konkurrierenden OECD-Volkswirtschaften aufgrund von Steuern und Abgaben. Forderungen, den Standort durch einen Abbau dieser Quoten zu stärken, sind ebenfalls in keinem Fall aus den OECD-Daten abzuleiten.

Diese Schlussfolgerungen gelten auch dann, wenn man der geäußerten und zum Teil auch berechtigten Kritik an den Datenkörpern der OECD (z.B. unterschiedliche nationale Statistiksysteme) für den Vergleich derartig vieler Länder eine bestimmte Berechtigung einräumt.

Den in englischer und französischer Sprache verfassten und mit einem umfangreichen statistischen Anhang versehenen 365-Seiten-Bericht "Revenue Statistics 1965-2007 - Statistiques des recettes publiques 1965-2007" gibt es als PDF-Datei kostenlos.

Bernard Braun, 24.10.08


Faktor 2,3 oder Blankoscheck: Kommen die zur GKV-Honorierung hinzukommenden 33.000 €-Privathonorare pro Kassenarzt korrekt zustande?

Artikel 1361 Wenn Ärzte privat versicherte Patienten behandeln, tun sie dies nach der Gebührenordnung für Ärzte bzw. Zahnärzte (GOÄ). Für einen PKV Kunden wird normalerweise der Preis für eine identische Leistung bei gesetzlich Krankenversicherten mit dem Faktor 2,3 (oder 1,8) multipliziert und liegt damit deutlich über dem GKV-Niveau.
Dies trägt maßgeblich dazu bei, dass im Moment jeder niedergelassene Arzt - sofern er zur Behandlung von gesetzlich Krankenversicherten zugelassen ist - zusätzlich zum damit erzielten Durchschnittseinkommen (nach Abzug aller Praxiskosten aber vor Steuern) von 88.000 Euro (2006) Einkünfte von 33.000 Euro erzielt. Da vermutlich hiervon keine Praxiskosten oder Sozialbeiträge mehr abgezogen werden, bleibt noch ein gutes Sümmchen übrig, das dann nur noch versteuert werden muss.

Da offensichtlich viele Ärzte, ohne dies nennenswert sachlich mit einer schwierigeren oder zeitaufwändigeren Behandlung zu begründen, diesen gesetzlich eingeräumten "Multiplikations"-Spielraum voll ausschöpfen, bezweifelten kostenbewusste PKV-Versicherte die Zulässigkeit dieser Abrechnungsmentalität.

Schließlich musste sich bereits Ende 2007 der Bundesgerichtshof mit dieser Vorgehensweise der Ärzte befassen (AZ. III ZR 54/07 vom 8.11.2007).

Die zentralen Feststellungen lauten im Wortlaut einer Presseerklärung des Bundesgerichtshofs vom 8. November 2007 so:

• "Im Streitfall ging es hauptsächlich um die Frage, ob ärztliche Leistungen, die nach Schwierigkeit und zeitlichem Aufwand als durchschnittlich zu bewerten sind, mit dem jeweiligen Höchstsatz der Regelspanne, also mit dem 2,3- oder dem 1,8fachen, abgerechnet werden dürfen. In der bisherigen Rechtsprechung und Literatur wird weitgehend die Auffassung vertreten, die Regelspanne solle für die große Mehrzahl der Behandlungsfälle gelten und den Durchschnittsfall mit Abweichungen nach oben und unten, also auch schwierigere und zeitaufwändigere Behandlungen, erfassen. Hieraus wird vielfach der Schluss gezogen, eine im Durchschnitt liegende ärztliche Leistung sei mit einem Mittelwert innerhalb der Regelspanne, also mit dem 1,65- oder dem 1,4fachen, zu entgelten oder mit einem etwas darüber liegenden Wert von 1,8 bzw. 1,6.
• In der Abrechnungspraxis von privaten Krankenversicherungen und Beihilfestellen ist ungeachtet dessen festzustellen, dass ärztliche Leistungen weit überwiegend zu den Höchstsätzen der Regelspanne (2,3 bzw. 1,8) abgerechnet werden."

Zunächst überraschend kommt der Bundesgerichtshof dann zu folgender Entscheidung:

• "Der III. Zivilsenat hat insoweit entschieden, ein Arzt verletze das ihm vom Verordnungsgeber eingeräumte Ermessen nicht, wenn er nach Schwierigkeit und Zeitaufwand durchschnittliche ärztliche Leistungen mit dem Höchstsatz der Regelspanne abrechne."

Die für diese Entscheidung maßgebliche Begründung wirft aber schließlich den "Ball" konsequent in das Feld der Politik zurück:

• "Dem Verordnungsgeber (also der Bundesregierung bzw. dem zuständigen Bundesgesundheitsministeriums - Anmerkung forum-gesundheitspolitik.de) sei die Abrechnungspraxis seit vielen Jahren bekannt und er habe davon abgesehen, den Bereich der Regelspanne für die Abrechnungspraxis deutlicher abzugrenzen und dem Arzt für Liquidationen bis zum Höchstsatz der Regelspanne eine Begründung seiner Einordnung abzuverlangen. Möchte der Arzt für eine Leistung das 2,3fache des Gebührensatzes überschreiten, ist er nach § 12 Abs. 3 GOÄ verpflichtet, dies für den Zahlungspflichtigen verständlich und nachvollziehbar schriftlich zu begründen und auf Verlangen die Begründung näher zu erläutern. Ohne eine nähere Begründungspflicht im Bereich der Regelspanne ist es jedoch nicht praktikabel und vom Verordnungsgeber offenbar nicht gewollt, dass Zahlungspflichtige und Abrechnungsstellen den für eine durchschnittliche Leistung angemessenen Faktor ermitteln oder anderweitig festlegen. Insbesondere hat der Verordnungsgeber einen Mittelwert für durchschnittliche Leistungen innerhalb der Regelspanne, wie ihn Teile der Rechtsprechung und Literatur für richtig halten, nicht vorgesehen."

Entsprechend harm- und folgenlos bzw. rein appellativ bleibt dann auch der letzte Satz der Bundesrichter: "Hiervon bleibt selbstverständlich unberührt, dass der Arzt seine Leistungen nicht schematisch mit dem Höchstsatz der Regelspanne berechnen darf, sondern sich bei einfachen ärztlichen Verrichtungen im unteren Bereich der Regelspanne bewegen muss."
Da Bundesrichter Beamte, also privat krankenversichert sind, können sie an den eigenen Privatliquidationen nachvollziehen, wie Ärzte mit diesem Blankoscheck umgehen und sich beim nächsten Mal nicht zu diesen etwas weltfremden Appellen hinreißen lassen.

Die hier anstelle eines nicht komplett kostenfrei zugänglichen Urteilstextes zitierte Mitteilung 167/2007der Pressestelle des Bundesgerichtshofes" ist kostenfrei erhältlich.

Bernard Braun, 14.10.2008


Dauerschlusslicht Deutschland: Lohnstückkosten in Deutschland erhöhen sich trotz des Aufschwungs kaum oder schrumpfen sogar.

Artikel 1321 Auf die Bedeutung der Lohnstückkosten statt der inhaltlich diffusen oder undurchsichtig gehaltenen Lohnnebenkosten für die Wettbewerbsfähigkeit des "Wirtschaftsstandortes Deutschland" wurde im Forum-Gesundheitspolitik bereits mehrfach und umfangreich hingewiesen. Auch darauf, dass sie trotz gegenteiliger öffentlicher Debatten und trotz der für ihre Höhe verantwortlich gemachten Sozialversicherungssysteme im internationalen Vergleich recht niedrig ausfallen.

Nachdem die deutsche Volkswirtschaft in den letzten Jahren einige Zeit boomte und die fast ein Jahrzehnt dauernde Reallohnstagnation durch einige kräftigere Lohnabschlüsse beendet wurde, häufen sich aber schon wieder Warnungen vor ihrer dadurch und durch steigende Sozialabgaben gefährdeten Wettbewerbsfähigkeit.

Die neueste OECD-Veröffentlichung zum Stand und zur Entwicklung der Lohnstückenkosten in allen möglichen Wirtschaftszweigen und den wesentlichen Industrieländern inner- und außerhalb Europas von 2000 bis zum ersten Quartal 2008 zeigt ein aktuell deutlich andereres Bild:

• Setzt man die industriellen Lohnstückkosten in der gesamten OECD im Jahr 2000 auf den Wert 100, liegt er 2007 im gesamten Euro-Gebiet bei 100,3. Nur in Finnland, Irland, der Slowakei und Japan lag der Wert niedriger als in Deutschland (90,2).
• Dieser Wert fiel in Deutschlands Industrie von 2005 bis 2007 anders als in vielen anderen OECD-Ländern von einem 2005er-Niveau von 95,5 Punkten.
• Ähnlich sieht es bei den Dienstleistungen aus: Der Wert lag 2007 im Euro-Gebiet bei 112,7 (2000=100) und in Deutschland bei 101,6. Nur in Japan war der Wert mit 83,1 Punkten niedriger. Auch hier fiel der Wert zwischen 2005 und 2007 fast allein in Deutschland um 0,4 Punkte.
• Auch im Vergleich mit allen OECD-Ländern oder etwa den USA war der Lohnstückkostenwert 2007 in Deutschland deutlich niedriger und stieg in den Vergleichsländern seit 2005 meist leicht an.
• Im ersten Quartal 2008 nahmen die Lohnstückkosten in der deutschen Industrie im Vergleich zum vorherigen Quartal um 0,3 Prozent ab. In der gesamten OECD nahmen sie um 0,5 Prozent zu. Nur in zwei OECD-Länder war die Abnahme höher. Bei den Stückkosten von Dienstleistungen gab es zwar im selben Quartal in Deutschland eine Zunahme um 0,3 Prozent, dieser Wert lag aber deutlich unter dem Wert der gesamten OECD-Welt mit 0,7 Prozent.

Diese und viele anderen jährlichen oder quartalsbezogenen Statistikdaten ("unit labour cost") finden sich tabellarisch nach Ländern und Wirtschaftsgruppen sortiert auf der kostenfrei zugänglichen OECD-Website OECD Statextracts.

Bernard Braun, 18.8.2008


EU-Analyse: Schwierigkeiten bei der Suche nach den sozialpolitischen Wettbewerbsnachteilen des "Wirtschaftsstandortes Deutschland"

Artikel 1244 Das Lamento über die durch steigende Lohnnebenkosten und einen weit überdurchschnittlichen Anteil der Aufwendungen für die soziale Sicherheit gefährdete Wettbewerbsfähigkeit des "Wirtschaftsstandortes Deutschland" gehört seit Jahren zum Standardrepertoire der sozial- und gesundheitspolitischen Debatte in Deutschland.

Allein das Dauerabo, das der "Wirtschaftsstandort" auf den Titel des Export-Weltmeisters oder Export-Vize-Weltmeisters zu besitzen scheint, regt Zweifel am Zwingenden der behaupteten Nachteile.

Diese werden durch die Ergebnisse einer gerade veröffentlichten vergleichenden Analyse der aktuellen Sozialaufwendungen in Europa ("Social protection in the European Union") und deren Entwicklung seit Beginn dieses Jahrhunderts eher bestätigt und empirisch belegt.

Die wesentlichen Erkenntnisse lauten:

• Mit einem Anteil von 29% des Bruttoinlandprodukts für die Aufwendungen für die gesamte soziale Sicherheit lag Deutschland 2005 auf dem 5. Platz der 15 Alt-EU-Länder.
• Sieht man sich nur die Ausgaben für die soziale Sicherheit pro Kopf der Bevölkerung ab 30 Jahre, also dem Bevölkerungsteil bei dem diese Ausgaben vor allem aufgebracht und ausgegeben werden müssen, fällt Deutschland wiederum 2005 mit 11.728 Euro auf den 11. Platz zurück und gibt mit 11.728 Euro nur noch mehr aus als Italien, Spanien, Griechenland und Portugal. Die drei Spitzenreiter, Luxemburg, Dänemark und Schweden, geben durchweg mehr als 16.000 Euro aus.
• Der jährliche Zuwachs der Ausgaben für die soziale Sicherheit pro Kopf der gesamten Bevölkerung in konstanten Preisen betrug in Deutschland von 2000 bis 2005 lediglich 0,2%. Außerdem nahm dieser Wert nur in Deutschland seit 2003 sichtbar ab. Damit liegt Deutschland direkt nach Österreich (1,2%) und weit hinter Irland (9,3%), Schweden (2,7%) und dem EU27-Durchschnitt von 2,1% auf dem letzten Platz.
• Die Ausgaben für Gesundheit pro Kopf in konstanten Preisen nahmen im Zeitraum 2000-2005 in Deutschland um 0,2% ab, während sie in der 15er-EU um 3,4% zunahmen. Der leichte Anstieg der Ausgaben für Alter und Hinterbliebene in Deutschland um 0,9%, lag immer noch deutlich unter dem Alt-EU-Wert von 1,9%. Andersherum sah es lediglich bei den Ausgaben für Sozialhilfe aus: Deutschland=4,7% und Alt-EU-Durchschnitt 2 %.
• Die bisher dargestellten Trends schlugen sich in Deutschland in einem EU-weit fast einmalig niedrigen Anstieg der so genannten Lohnnebenkosten nieder. Nur Österreich hatte zwischen 2000 und dem 4. Quartal 2007 mit 108,9 Punkten (2000=100) einen geringeren Anstieg als Deutschland mit 110,1 Punkten. Die Spitzenreiter Dänemark und Großbritannien lagen dagegen mit 167,5 und 155,7 Punkten erheblich höher.
• Deutschland ist dann auch das einzige Land in der 15er-Alt-EU in dem die Arbeitgeberbeiträge zur sozialen Sicherheit zu konstanten Preisen und Wechselkursen zwischen 2000 und 2005 kontinuierlich und kräftig abnahmen (um insgesamt 7%).
• Aber auch der Anteil der öffentlichen Gelder an allen Ausgaben für die soziale Sicherheit liegt 2005 mit 36% unter dem EU27-Durchschnitt von 38% und drastisch unter dem Staatsanteil von 63% in Dänemark. Hier bilden die Niederlande mit 21% das Schlusslicht.
• Nach der Eurostat-Statistik liegt der Anteil der Gesundheitsausgaben ("sickness/health care") am Bruttoinlandsprodukt in Deutschland mit 7,8% nur um 0,1 Prozentpunkte über dem EU15-Durchschnitt. Dieser Anteil liegt beispielsweise in Großbritannien und den Niederlanden bei 8,1%.

Die 12-seitige Ausgabe der von Alexandra Petrasova verfassten Eurostat-"Statistics in Focus 46/2008" zum Thema "Social protection in the European Union" gibt es kostenlos herunterladbar.

Grafisch gut aufbereitete Daten aus dieser Publikation finden sich aktuell, ergänzt mit weiteren Eurostat-Daten und Informationen des Statistischen Bundesamt, unter der Schlagzeile "Wie Deutschland seine soziale Sicherheit verspielt" in dem generell zur regelmäßigen Lektüre empfohlenen Informationsportal Globalisierung von Joachim Jahnke.

Bernard Braun, 19.5.2008


Zuzahlungen im Krankheitsfall: Versorgungsforschung widerlegt zunehmend kostendämpfendes Potenzial

Artikel 1198 Einmal mehr geht die bei Blackwell-Synergy erscheinende Fachzeitschrift Health Services Research in ihrer jüngsten Ausgabe auf das Thema von Zuzahlungen im Gesundheitswesen ein. Die Artikel ergänzen eine beständig wachsende Reihe von Studien, die herkömmliche gesundheitsökonomische Ansätze in Frage stellen. Nicht allein die Erkenntnisse aus Epidemiologie und Versorgungsforschung, sondern auch umfassendere Kalkulationsansätze zeigen, dass Selbstbeteiligungen allzu oft unerwünschte Wirkungen entfalten.

In ihrem Leitartikel zur Aprilausgabe 2008 von Health Services Research (43 (2), S. 451-457) formulieren es Michael Chernew und Mark Fendrick so: "When consumers pay a greater share of the cost of prescription drugs they consume less (Gilman and Kautter 2008; Reed et al. 2008; Wallace et al. 2008; Simoni-Wastila et al. 2008). In standard economic models, this reduction in use of prescription drugs due to higher out-of-pocket costs would be expected and interpreted as a sign of efficiency. It would be assumed that the value of health foregone by this price-related reduction in use was below the cost of care to the patient, and that therefore the greater cost sharing would lead to a more efficient system." Das Editorial Value and Increased Cost Sharing in the American Health Care System steht leider nur AbonnentInnen zur Verfügung.

Doch soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass die zunehmende Evidenz für die zumindest fragwürdige, vielfach aber auch bedenkliche Auswirkung von Arzneimittel- und anderen Zuzahlungen den Glauben an grundsätzlich heilsame Effekte von Marktmechanismen im Gesundheitswesen im Grundsatz unerschüttert lässt. Die neuste Tendenz in diesem Sinne zeichnet sich in den letzten Jahren unter dem Begriff "value-based insurance design" ab. Selbstbeteiligungen sollen dabei die Wirksamkeit von therapeutischen und diagnostischen Maßnahmen berücksichtigen, um das Patientennachfrageverhalten im gewünschten Sinne zu medizinischen Leistungen hoher und nachgewiesener Effektivität zu lenken. Die beiden Autoren des Leitartikels haben sich schon früh im Rahmen der Debatte über managed care für "werte-basierte" Versicherungsverträge eingesetzt und gehören fraglos zu deren überzeugtesten BefürworterInnen, nachzulesen beispielsweise in zwei kostenfrei als Volltexte zugänglichen Artikeln des American Journal of Managed Care:
A Benefit-Based Copay for Prescription Drugs: Patient Contribution Based on Total Benefits, Not Drug Acquisition Cost und
Value-based Insurance Design: Aligning Incentives to Bridge the Divide Between Quality Improvement and Cost Containment
• sowie im Journal of General Internal Medicine: Value-Based Insurance Design: A "Clinically Sensitive, Fiscally Responsible" Approach to Mitigate The Adverse Clinical Effects of High-Deductible Consumer-Directed Health Plans.

Bereits erheblich früher begann die Einführung gestaffelter Zuzahlungen ohne Berücksichtigung von Wirksamkeitsparametern allein in Abhängigkeit vom Preis von Arzneimittel sowie von der Kosteneffektivität anderer Versorgungsleistungen. Unterschiedliche Kostenübernahmesätze für Markenprodukte und Generika soll die Nachfrage nach letzteren steigern und PatientInnen zum Verbrauch preisgünstigerer Arzneimittel bewegen. In der genannten Ausgabe von Health Services Research stellen Reed et al. Fest, dass mehrfach gestaffelte Selbstbeteiligungen (multiple-tiered), wo sich die Zuzahlungshöhe zusätzlich zwischen beliebigen und vertraglich empfohlenen Mitteln unterscheidet, bei Medicaid-Versicherten sowohl die Anzahl der Verschreibungen als auch die Gesamtausgaben im Vergleich zu weniger differenziert gestaffelten Zuzahlungsbedingungen verringern. Dabei stellten die AutorInnen fest, dass Versicherte mit dreifach gestaffelter Zuzahlungen im Durchschnitt pro Jahr fast sechs Rezepte mit Markenprodukten und ein Generika-Rezept weniger in Anspruch nehmen als Medicaid-Versicherte mit einheitlichen Zuzahlungsbedingungen. Zusätzlich zeigt sich, dass eine "aggressivere Zuzahlungsstrategie" zu Reduzierung sowohl von Markenprodukten als auch von Generika führt, dabei aber eine Verlagerung hin zu Nachahmerprodukten zu beobachten ist. Die Senkung der Gesamtausgaben fällt jedoch vornehmlich auf die Versicherten in Verträgen mit gestaffelter Kostenübernahme zurück: Sie müssen fast 60 % mehr aus eigener Tasche zuzahlen als Medicaid-Versicherte mit einheitlichen Selbstbeteiligungssätzen.

Diese Tendenz zeigte sich auch bei der Dauertherapie von Personen mit chronischen Krankheiten, die weniger auf Zuzahlungserhöhungen ansprechen und ggf. eher zu Generika greifen. Ein Abstract der Studie Im Unterschied zu den anderen Studien zeigt diese Untersuchung somit also ein Verhalten im Sinne der ökonomischen Theorie, wenn PatientInnen bei der Inanspruchnahme von Arzneimitteln zur Behandlung chronischer Krankheiten nicht so stark auf Preisanreize reagieren wie solche ohne erforderliche Dauermedikation. Die gesamte Untersuchung, von der nur das Abstract unter dem Titel Impact of Multitiered Copayments on the Use and Cost of Prescription Drugs among Medicare Beneficiaries kostenfrei zur Verfügung steht, muss indes die Frage letztlich unbeantwortet lassen, ob die beobachteten Effekte tatsächlich Effizienzgewinne belegen oder Folge von Zugangsbarrieren sind.

Eine weitere Studie geht den Auswirkungen der Deckelung der Kostenübernahme für Arzneimittel nach, wie sie zum Beispiel das Anfang 2006 in Kraft getretene Medicare Part D Programm in den USA mit sich brachte. Dabei untersuchten die Forscher die Auswirkungen von finanziellen Deckungslücken auf das Therapieverhalten von Versicherten mit schwerer psychiatrischer Erkrankung (Schizophrenie und anderen psychotische Störungen, manischer und bipolarer Erkrankung und schwerer Depression) unter besonderer Berücksichtigung der Einnahme von Antipsychotika und Antidepressiva. Dabei zeigte sich, dass ausgeschöpfter Versicherungsschutz zu einem drastischen Rückgang der Medikamenteneinnahme führte, während Unterbrechung der Kostenübernahme vor allem die Anzahl der verschriebenen und eingenommenen Psychopharmaka senkte. Die Autoren kommen zu folgendem Schluss: "Severely mentally ill Medicare beneficiaries may be particularly vulnerable to the Medicare Part D drug benefit design and, as such, warrant close evaluation and monitoring to insure adequate access to and utilization of medications used to manage mental illness." Diese Zusammenfassung sowie ein kurzer Überblick sind kostenfrei nachzulesen im Abstract des Artikels Drug Use Patterns in Severely Mentally Discontinuities in Drug Coverage.

Die Studien von Gilman und Kautter sowie von Simoni-Wastila et al. bestätigen einmal mehr den generellen und bereits vielfach nachgewiesenen Effekt, dass Arzneimittelzuzahlungen die Einnahme von Medikamenten fraglichen Nutzens gleichermaßen senken wie die Therapietreue gegenüber hoch wirksamen Behandlungen. Die Tatsache, dass Selbstbeteiligungen auch die Einnahme erwiesenermaßen sinnvoller und wirksamer Mittel verringern, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Übertragbarkeit (mikro-)ökonomischer Modelle auf das Gesundheitswesen und insbesondere auf das Verhalten Kranker wenig tauglich ist, um daraus gesundheitspolitische Entscheidungen abzuleiten. Schließlich geht die gesundheitsökonomische Theorie davon aus, dass Preiseffekte bei "rationalen NachfragerInnen" am ehesten bei wenig wirksamen oder sinnvollen Maßnahmen einträten.

Mary Reed und ihre KollegInnen gingen der Fragestellung nach, was Versicherte über ihre Zuzahlungsbedingungen wissen und wie PatientInnen mit Selbstbeteiligungen umgehen. Dabei zeigte sich interessanterweise, dass die Kenntnis über fällige Zuzahlungen mit der Art der Medikamente zusammenhängt: Während zwei Drittel der Befragten genau wissen, wie viel sie bei Generika aus eigener Tasche zahlen müssen (bei über 65-Jährigen sind es sogar über 70 %), sind es bei Markenerzeugnissen nur zwei von fünf Versicherten. Für die Geldbeutel der Betroffenen relevanter ist die Beobachtung, dass viel mehr Befragte die Zuzahlungen für die teureren Markenprodukte unterschätzen (42,9 %!) als bei den kostengünstigeren Generika (nur 10,1 %); das Risiko der Überschätzung ist insgesamt und vor allem brand products deutlich geringer (16,1 % bei Marken- und 24,7 % bei Nachahmerprodukten). Insgesamt kommen die Wissenschaftler zu der Erkenntnis, dass Patienten recht wenig über die Zuzahlungsbedingungen wissen und sich die Kenntnis mit der Komplexität der Regelungen abnimmt: Bei gestaffelten Eigenbeteiligungen und der Kombination von Zuzahlung und Obergrenze nimmt das Wissen der Betroffenen deutlich ab. Dies ist ein weiterer deutlicher Hinweis darauf, dass die Anwendung üblicher ökonomischer Anreizmechanismen im Gesundheitswesen problematisch ist, erfordert sie doch ausreichende Vorkenntnis auch auf Nachfragerseite.

Des Weiteren bestätigt die Studie von Reed et al. frühere Hinweise und ergänzt die bisher bekannte Liste der auf Ausweichstrategien der Versicherten bzw. PatientInnen. Zwar verhielten sich 10,6 % der Befragten im erwünschten Sinne und wechselten zu kostengünstigeren Präparaten, 2,6 % kauften ihre Medizin bei einer günstigeren Apotheke und 1,9 % sogar außerhalb der USA, aber in keinem Fall per Internet. Gleichzeitig aber verzichteten 9,2 % auf ein neues Rezept, 8,0 % brachen die Medikamentenbehandlung ab und 5,6 % nahmen eine geringere als die verordnete Dosis ein und 4,6 % teilten einfach ihre Tabletten; darüber hinaus liehen sich 4,5 % Arzneimittel bei Angehörigen oder FreundInnen, 7,8 % liehen sich Geld, um Ihre Medikamentenzuzahlung aufbringen zu können, 3,3 % kamen in den Genuss kostenloser Proben und 0,5 % nahmen das Medikamentenhilfsprogramm in Anspruch.Auch diese Studie ist für Nicht-AbonnentInnen kostenpflichtig, mit Ausnahme des Abstracts von Coping with Prescription Drug Cost Sharing: Knowledge, Adherence, and Financial Burden.

Auch der allseits erhofften Einsparungen bei den Gesundheitsausgaben durch nachfrageseitige Steuerung über Einschränkungen der Kostenübernahme widmet sich ein Artikel der April-Ausgabe von Health Services Research. Etwa ein Viertel der Medicaid-Versicherten im Bundesstaat Orgeon musste in den so genannten Oregon Health Plan (OHP) wechseln, der fixe Zuzahlungen für bestimmte Gesundheitsleistungen vorsah und andere von der aus dem Leistungspaket herausnahm. Die Einschränkung der Kostenübernahme sollte die öffentliche Versicherungsstruktur von steigenden Ausgaben entlasten.

Doch dieser Ansatz erwies sich einmal mehr als Milchmädchenrechnung. Zwar zeigte sich bei Arzneimitteln ein stärkerer Rückgang der Inanspruchnahme in der OHP-Gruppe gegenüber den anderen Versicherten, und sanken die Pro-Kopf-Ausgaben bei den OHP-Versicherten deutlich, was insgesamt zu einer deutlichen Verringerung der Medikamentenausgaben führte. Doch gleichzeitig stiegen die Ausgaben für alle anderen ärztlichen Leistungen mindestens drei Mal so stark wie die Inanspruchnahme zurückging, so dass die Einschränkung der Kostenübernahme mit erhöhter Eigenbeteiligung der PatientInnen insgesamt zu einer deutlichen Erhöhung der Pro-Kopf-Ausgaben von Medicaid für die OHP-Gruppe führten.

Die AutorInnen fassen ihre Ergebnisse prägnant in einer Warnung an politische EntscheidungsträgerInnen zusammen: "In the Oregon Medicaid program applying copayments shifted treatment patterns but did not provide expected savings. Policy makers should use caution in applying copayments to low-income Medicaid beneficiaries." Zumindest das Abstract der lesenswerten Studie How Effective Are Copayments in Reducing Expenditures for Low-Income Adult Medicaid Beneficiaries? Experience from the Oregon Health Plan steht kostenfrei für Nicht-AbonnentInnen zur Verfügung.

Jens Holst, 14.4.2008


Schlussfolgerungen des "Krankenhaus Rating Report 2008": Versorgungsqualität und Wirtschaftlichkeit sind kein Widerspruch

Artikel 1169 Der Zusammenhang zwischen der Qualität medizinischer Dienstleistungen und der Wirtschaftlichkeit des Krankenhausbetriebs wurde jetzt im "Krankenhaus Rating Report 2008" untersucht. Dabei wurden einerseits Jahresabschlüsse von 701 Krankenhäusern für die Jahre 2005/2006 erfasst und die Häuser nach dem Insolvenz-Risiko in drei Kategorien (grün, gelb und rot) eingeteilt. Andererseits wurden Daten der Bundesgeschäftsstelle für Qualitätssicherung (BQS) zur Bewertung der Versorgungsqualität berücksichtigt - wobei allerdings nur eine sehr kleine Zahl von Qualitätsindikatoren und Erkrankungen berücksichtigt werden konnte.

Die Studie kommt dabei zu dem Ergebnis: "Der Anteil an Häusern mit festgestellten qualitativen Auffälligkeiten liegt je nach Indikator meist unter 0,5%, nur selten über 1 bis 2%. Krankenhäuser mit qualitativen Auffälligkeiten weisen tendenziell ein schlechteres Rating auf. Der Unterschied ist statistisch nicht signifikant. Es lässt sich aber festhalten, dass eine höhere Wirtschaftlichkeit nicht zu Lasten der Qualität geht, sondern umgekehrt möglicherweise sogar mit höherer Qualität in Verbindung gebracht werden kann."

Die Studie wurde erstellt vom RWI Essen, dem Institute for Healthcare Business GmbH und der ADMED GmbH. Bei der Bewertung der wirtschaftlichen Lage kommt man zu dem Ergebnis: 18% der Krankenhäuser liegen im roten Bereich, 16% im gelben, immerhin 66% im grünen Bereich. Für 2008 prognostiziert die Studie jedoch einen Anteil von 34% der Krankenhäuser im roten Bereich und eine Zunahme des Anteils der Häuser mit Verlusten von 23 auf 52%. "Ohne Gegenmaßnahmen", so die Autoren, "dürfte sich daher die Situation künftig erheblich verschlechtern. Der Anteil der Häuser im roten Bereich könnte dann bis 2020 auf 49% steigen."

Steigende Tariflöhne, höhere Sachkosten insbesondere bei Lebensmitteln und Energie sowie ein größerer Personal- und Sachmittelbedarf aufgrund steigender Behandlungsfälle sind die drei wichtigsten Ursachen der Kostensteigerungen. Weil die Budgets von der Politik gedeckelt werden, öffnet sich schon in diesem Jahr eine Finanzierungslücke von 1,3 bis 2,2 Milliarden Euro. Das entspricht 2-3% des bisherigen Budgets der Krankenhäuser. Bis zum Jahr 2006 war für viele Krankenhäuser eine wirtschaftliche Erholung möglich, konnten Gewinne erwirtschaftet und zum Teil sogar aus eigener Kraft Investitionen getätigt werden. Die Ergebnisse des Krankenhaus Rating Reports 2008 lassen aber nach Meinung der Forschungsinstitute eine spürbare Verschlechterung in der nahen Zukunft erwarten.

Bei der Auswertung der Qualitäts-Indikatoren zeigt sich: Kleine Krankenhäuser schneiden im Rating signifikant schlechter ab als große oder mittelgroße, westdeutsche schlechter als ostdeutsche. Im roten Bereich liegen 22% der öffentlich-rechtlichen Häuser, aber nur knapp 17% der freigemeinnützigen und lediglich rund 14% der privaten Einrichtungen.

Weitere Empfehlungen der Studien-Autoren betreffen die zukünftige Krankenhausfinanzierung und legen ein Gesundschrumpfen der aktuellen Klinik-Landschaft nahe: "Durch eine Kombination betrieblicher und politischer Maßnahmen könnte die relativ günstige Ausgangslage des Jahres 2006 wieder erreicht werden, wenn eine Marktbereinigung um 10 % der Krankenhäuser akzeptiert wird. Die Bundespolitik sollte ferner den Sanierungsbeitrag bereits in diesem Jahr wieder abschaffen und 2009 die Vergütung um 2,4 % erhöhen. Die Länder sollten ihre ohnehin knappen Investitionsfördermittel effizienter einsetzen und auf die monistische Krankenhausfinanzierung umsteigen, das bedeutet Finanzierung der Investitionen und der Betriebsausgaben aus einer Hand."

Hier ist eine kostenlose Zusammenfassung der Studienergebnisse "Executive Summary" (PDF, 12 Seiten). Die vollständige Studie kann für 260 Euro beim RWI Essen bestellt werden.

Gerd Marstedt, 17.3.2008


Selbstbeteiligungen und kein Ende: Was lange währt, ist keineswegs immer gut

Artikel 1142 Das Thema Zuzahlungen in Krankheitsfall findet nicht zum ersten Mal auf den Informationsseiten des Forum Gesundheitspolitik Erwähnung, und ganz bestimmt auch nicht zum letzten Mal. Denn es ist und bleibt ein Dauerbrenner in der gesundheitspolitischen Debatte und bei allen Reform- und Kostendämpfungsansätzen im Gesundheitswesen. Allerdings kommt es zurzeit zu einer allmählichen Verschiebung der Schwerpunkte und vor allem der Erkenntnisse. Das steht zweifellos damit im Zusammenhang, dass die Epidemiologie und vor allem die Versorgungsforschung auf diesem weiten Feld der Gesundheitsökonomie den Rang ablaufen. Das zeigt sich besonders deutlich in den ersten Wochen des noch jungen Jahres 2008, wo verschiedene Journals Studienergebnisse präsentieren, die den Glauben an die sinnvolle Steuerung der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen durch Selbstbeteiligungen spürbar erschüttern.

Den ersten Beitrag zu diesem Thema lieferte die angesehenen US-Zeitschrift Health Affairs in ihrer Januar-Ausgabe 2008 mit dem Beitrag Impact Of Decreasing Copayments On Medication Adherence Within A Disease Management Environment (H Aff 27 (1), S. 103-112). Michael Chernew und Kollegen untersuchten bei arbeitgebergetragenen Krankenversicherungen in den USA die Auswirkungen von verringerten Selbstbeteiligungen auf die Zuverlässigkeit der Medikamenteneinnahme bei Versicherten, die an Disease-Management-Programmen teilnahmen.

Dabei zeigte ich, dass sich die Einnahme von fünf verschiedenen Substanzklassen, die typischerweise zur Behandlung chronischer Krankheiten dienen, nach Abschaffung bzw. Halbierung der Selbstbeteiligungen spürbar verbesserte. Vor allem bei ACE-Hemmern und Angiotensinrezeptor- sowie Beta-Blockern, bei Diabetes-Medikamenten (orale Zuckermedikamente und Insulin) und Blutfettsenkern vom Typ der Statine war dieser Effekt deutlich, während er bei Kortison-Asthma-Sprays weniger ausgeprägt eintrat. Insgesamt bestätigen diese Beobachtungen die umgekehrten Effekte, die regelmäßig bei Erhöhung von Medikamentenzuzahlungen eintreten. Die Autoren werten dieses Ergebnis als weiteren Hinweis auf die Wirksamkeit so genannter wertebasierter Versicherungskonzepte (value-based insurance designs), die Selbstbeteiligungen nur bei Leistungen fraglichen Nutzens verlangen, aber hoch infizierte Behandlungen (weit gehend) davon befreien. Von der Zuzahlungsstudie aus Health Affairs ist nur das Abstract kostenfrei zugänglich.

Die renommierte US-Medizinerzeitschrift New England Journal of Medicine publizierte in der vierten Ausgabe dieses Jahres eine Untersuchung über die Auswirkungen von Eigenbeteiligungen auf die Inanspruchnahme von Früherkennungsmaßnahmen mit dem Titel Effect of Cost Sharing on Screening Mammography in Medicare Health Plans (N Engl J Med 358 (4), S. 375-383). Dabei zeigte sich, dass die Nutzung des zweijährigem Mammographie-Screeningangebots bei Versicherugsverträgen mit Selbstbeteiligungen über 10 US-$ um mehr als 8 Prozent zurückging, wobei dieser Effekt in ärmeren Wohngegenden am ausgeprägtesten war. Grundlage dieser Analyse waren 550-082 Einzelfallbeobachtungen an 366.475 Frauen zwischen 65 und 69 Jahren. Die Autoren leiten daraus die überaus vorsichtig formulierte Empfehlung ab, Zuzahlungsbefreiungen von Präventionsmaßnahmen für ältere Menschen könnten sinnvoll sein. Im Internet steht die Studie von Trivedi, Rakowski und Ayanian kostenlos zum Herunterladen zur Verfügung.

Mit den Konsequenzen von Zuzahlungen für die Medikamenteneinnahme bei erwachsenen AsthmatikerInnen befasst sich eine Untersuchung von Seung-Jin Bae und KollegInnen, die unter dem Titel Modeling the Potential Impact of a Prescription Drug Copayment Increase on the Adult Asthmatic Medicaid Population ebenfalls im Januar in Value ind Health (11 (1), S. 110-118) erschien. Dabei kommen die AutorInnen bei der Hochrechnung von Ergebnissen einer geringfügigen Erhöhung der Selbstbeteiligung für kortisonhaltige Asthma-Sprays bei Medicaid-Versicherten zu folgendem Schluss: "In a target population of 17.500 adult asthmatics, increased copayments from 50¢ to $2.00 would result in an additional 646 acute events per year, caused by increased drug nonadherence." Kostenfrei steht nur das Abstract der Studie von Bae, Paltiel, Fuhlbrigge, Weiss und Kuntz zur Verfügung.

Auch bei Kindern mit chronischen Erkrankungen wie Asthma bronchiale ergibt sich ein ähnliches Bild. Die Untersuchung des Einnahmeverhalten von über 17.000 Kindern mit Bronchialasthma in Ontario ergab einen klaren Zusammenhang zwischen der Höhe des anfallenden Eigenanteils und der Häufigkeit der Nutzung von Asthma-Sprays. Die Pädiaterin und Gesundheitspolitikerin Wendy Ungar von der Universität Toronto und Ihre MitarbeiterInnen zeigen in ihrer Studie Effect of Cost-Sharing on Use of Asthma Medication in Children, dass insbesondere hohe Selbstbeteiligungen im Umfang von 20 % oder mehr des Preises die Inanspruchnahme von inhalativen Dauerbehandlungen und Zweifachtherapien spürbar senken. Archives of Pediatrics and Adolescent Medicine 62 (2), S. 104-110 Kostenfrei ist das Abstract der Studie von Ungar, Kozyrskyj, Paterson und Ahmad im Internet herunterzuladen.

Die US-GesundheitswissenschaftlerInnen Shone und Szilagyi ziehen in derselben Ausgabe dieser Zeitschrift eine ernüchternde Bilanz Am Ende ihres Artikels Prescription Cost-Sharing and Child Asthma (Arch Pediatr Adolesc Med 162 (2), S. 184-186) heißt es: "Continued overall increases in health care costs coupled with a new spectrum of costsharing features that shape the distribution and magnitude of patient spending in the United States suggest that until alternatives are explored, cost-sharing will become more of a barrier to the optimal use of prescription medications for child asthma - not less " (Hervorhebung jh). Das Abstract der Studie von Shone und Szilagyi ist ebenfalls kostenfrei zugänglich.

Gilman und Kautter schließlich vervollständigen die Reihe von Zuzahlungsartikeln in den ersten Wochen des Jahres 2008. Die OnlineEarly Ausgabe von Health Service Research veröffentlichte vorab ihren Artikel Impact of Multitiered Copayments on the Use and Cost of Prescription Drugs among Medicare Beneficiaries. Dabei bestätigen sie Vorbefunde, dass gestaffelte Zuzahlungen auch nichts weiter bewirken al seine Verlagerung derKosten vom Finanzierungsträger auf die PatientInnen bewirken. Der Rückgang der Verschreibungen und der Ausgaben um über 14 % war begleitet von einem 56-prozentigen Anstieg der Selbstbeteiligungen der Betroffenen. Allerdings war dieser Effekt bei chronischer Einnahme geringer ausgeprägt, worausdie AutorInnen schließen, dass gestaffelte Zuzahlungen eher nicht-essenzielle Medikamente betrifft und weniger die erforderlichen. Ganz nachvollziehbar ist diese Argumentation nicht. Were s nachlesen will, möge das tun, allerdings ist für Interessierte ohne Volltextzugang das Abstract der Studie von Gilman und Kautter kostenfrei zugänglich.

An gleicher Stelle findet sich auch die Studie von Mary Reed und KollegInnen, die sich mit Ausweichstrategien bei Medikamentenzuzahlungen befasst. In ihrer Untersuchung, deren Ergebnisse sie nun in dem Artikel Coping with Prescription Drug Cost Sharing: Knowledge, Adherence, and Financial Burden darstellen, kommen Reed et al. zu der Erkenntnis, dass nur gut ein Viertel aller PatientInnen über sämtliche sie betreffende Zuzahlungsbedingungen Bescheid wissen. Allein diese Beobachtung wirft unübersehbare Fragezeichen im Hinblick auf die gewünschten Steuerungseffekte auf. Außerdem lässt sich feststellen, dass nicht nur höhere Selbstbeteiligungen, sondern auch komplexere Bedingungen bei der Gestaltung der Eigenanteile zu Ausweichstrategien führten. Auch das Fazit dieser AutorInnen spricht für sich: "Overall, our findings suggest that patients have limited knowledge of their drug benefits. Despite this limited knowledge, many patients report changing their drug use behavior in response to cost sharing, some taking less medication than prescribed, and some reporting that the drug costs create a substantial financial burden. The full economic and health implications of these behaviors are important to explore further, particularly for population groups that might be vulnerable to adverse effects." Für Interessierte steht das Abstract der Studie von Reed, Brand, Newhouse, Selby und Hsu online zur Verfügung.

Erwähnenswert sind auch zwei kürzlich erschienene deutschsprachige Artikel, die einen Literaturüberblick zum aktuellen Stand der Forschung vermitteln, und zwar jenseits bloßer ökonomischer Modellrechnungen und simplizistischer Zuordnungen von verringerter Inanspruchnahme als empirischen Beleg für die Steuerungswirkung von Patientenselbstbeteiligungen. Eine komprimierte, schlaglichtartige Übersicht liefert ein Beitrag in der Januar-Ausgabe der vom AOK-Bundesverband herausgegebenen Fachzeitschrift Gesundheit und Gesellschaft (G&G). Für NutzerInnen des Forum Gesundheitspolitik steht hier ein kostenloser Download des G&G-Beitrags Zuzahlungen: Zur Kasse bitte zur Verfügung.

Den erwünschten und vor allem unerwünschten Auswirkungen von Selbstbeteiligungen in den Bereichen Prävention und Medikamentenversorgung chronisch Kranker geht ein Beitrag aus der Februarausgabe der Zeitschrift für Allgemeinmedizin auf den Grund. Die Literaturübersicht berücksichtigt vielseitige internationale Erfahrungen mit Eigenbeteiligungen im Gesundheitswesen und unterstreicht Zweifel an der Wirksamkeit in von Patientenzuzahlungen im gewünschten Sinne. Selbstbeteiligungen im Krankheitsfall wirken gleichermaßen auf die Inanspruchnahme sinnvoller und überflüssiger Gesundheitsleistungen, und sie gefährden die Gesundheit und die soziale Absicherung der Gesamtbevölkerung. Anstelle der angestrebten rationalen Steuerung des Inanspruchnahmeverhaltens gefährden Selbstbeteiligungen den Erfolg medizinischer Behandlungen, diskriminieren ältere und arme Patienten und verursachen vielfach höhere Gesamtausgaben.
Von dem Artikel Zuzahlungen im Krankheitsfall - ein taugliches Instrument für mehr Gesundheit? - Ein Literaturüberblick ist für Nicht-Abonnenten leider nur das Abstract kostenfrei zugänglich.

Das Forum Gesundheitspolitik ermöglicht seinen LeserInnen hier allerdings Zugang zu Auszügen aus dem Fazit

Jens Holst, 10.2.2008


2006 gab es in Deutschland mit zunehmender Tendenz rund 6,5 Millionen Niedriglohn-Beschäftigte

Artikel 1127 Im aktuellen "IAQ-Report" (1/2008) des Institut für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg/Essen beschäftigen sich Thorsten Kalina und Claudia Weinkopf mit dem Stand der Niedriglohnbeschäftigung für alle in der Bundesrepublik 2006 abhängig Beschäftigten (einschließlich sozialversicherungspflichtiger Teilzeitarbeit und Minijobs). Die vor allem mit Daten des "Sozioökonomischen Panels (SOEP)" berechneten Ergebnisse für 2006 vergleichen sie außerdem mit denen aus den Jahren 1995 und 2000 und mit denen in einigen anderen europäischen und außereuropäischen Ländern.

Die Entwicklung der Niedriglohnbeschäftigung ist für die gesundheitspolitische Diskussion insofern relevant, weil die Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung aber auch anderer Sozialversicherungsträger über prozentuale Beiträge auf Bruttoeinkommen erfolgt. Stagnieren diese Einkommen oder sinken sie gar, stehen die Sozialversicherungsträger vor der Frage, die Beiträge zu erhöhen oder Leistungen zu kürzen. Hier liegt also eine der vielen sozialpolitisch bedingten und gespeisten Quellen der Einnahmeschwäche oder der "Beitragssatz-Explosion" in der GKV.

Dies gilt es bei der Interpretation der wichtigsten Ergebnisse der IAQ-Studie zu bedenken:

• Unter allen abhängig Beschäftigten liegt der Anteil von Niedriglöhnen 2006 bei 22,2% - d.h. mehr als jede/r Fünfte ist gering bezahlt. "Niedriglohn" ist als ein Lohn definiert, der unterhalb von zwei Dritteln des Medians aller Einkommen liegt.
• Gegenüber 1995 ist der Niedriglohnanteil in Deutschland damit um gut 43% gestiegen.
• Der durchschnittliche Stundenlohn der Niedriglohnbeziehenden ist seit 2004 gesunken bzw. hat sich nach untern ausdifferenziert, während er in den Vorjahren auf dem niedrigen Gesamtniveau immerhin noch gestiegen ist. Im Durchschnitt beträgt der Bruttostundenlohn der Niedriglohnbeschäftigten 2006 in Westdeutschland 6,89 € und in Ostdeutschland 4,86 €. Die geringere Ausdifferenzierung "nach unten" erklärt sich im Übrigen vor allem durch die gesetzlichen Mindestlöhne oder tariflichen Standards in den meisten europäischen Ländern.
• Überdurchschnittlich betroffen von Niedriglöhnen sind insbesondere Minijobber/innen, Jüngere, gering Qualifizierte, Ausländer/innen und Frauen.
• Die so genannte Aufstiegsmobilität, d.h. die Chance aus einer Niedriglohnbeschäftigung herauszukommen, ist im europäischen Vergleich nur noch in Großbritannien vergleichbar niedrig.
• Der Anteil von Beschäftigten mit abgeschlossener Berufsausbildung am Niedriglohnbereich ist von 58,6% (1995) auf 67,5% (2006) deutlich gestiegen. Hinter das häufig in Debatten benutzte Alrgument, "mehr Qualifikation hilft gegen das Abrutschen in Niedriglohn etc." muss also zumindest ein kleines Fragezeigen gemacht werden.
• Schon ein dickeres Fragezeichen verdient das Argument, die Entwicklung in Deutschland hinke einem internationalen Trend hinterher und im Zeichen der Globalisierung bliebe Deutschland gar nichts anderes übrig: Im internationalen Vergleich - so u.a. die Ergebnisse einer von der US-"Russell Sage Foundation" geförderten Studie über Deutschland, Dänemark, Frankreich, Großbritannien und die Niederlande, hat Deutschland inzwischen nach einem beispiellos starken Anstieg in den letzten Jahren einen der höchsten Anteile von Niedriglöhnen und eine fast beispiellose Ausdifferenzierung des Lohnspektrums nach unten erreicht. Selbst vom Spitzen-Niedriglohnanteil von 25% in den USA, liegt Deutschland mit seinen rund 22% zusammen mit Großbritannien nicht mehr weit entfernt.

Den IAQ-Report "Weitere Zunahme der Niedriglohnbeschäftigung: 2006 bereits rund 6,5 Millionen Beschäftigte betroffen" erhält man als PDF-Datei kostenlos.

Bernard Braun, 1.2.2008


Deutschland ist in Euro-Zone und EU seit 2000 Schlusslicht beim Wachstum von Bruttolöhnen und Lohnnebenkosten

Artikel 0907 In allen der mittlerweile im Zweijahresrhythmus stattfindenden Gesundheitsreformen der letzten 3 Jahrzehnte spielen die Arbeitskosten sowie die so genannten Lohnnebenkosten eine oder sogar die zentrale Rolle. Diese Kosten müssten gesenkt werden, um den "Wirtschaftsstandort Deutschland" zu sichern und zu stärken und dabei - so die jeweiligen Reform-Protagonisten - müssen wesentlich die Sozialversicherungsbeiträge beitragen.

Auf das terminologische Schindluder das mit dem Begriff der "Lohnnebenkosten" betrieben wird und auf die langjährige empirische Relevanz der Arbeitgeberanteile an den Sozial- oder Krankenversicherungsbeiträgen für die Gesamtkosten der im internationalen Wettbewerb abzusetzenden Produkte haben wir bereits mehrfach hingewiesen.

Quintessenz: Der Großteil der neben dem Arbeitslohn gezahlten Summen beruhen auf Tarifverträgen, an deren Zustandekommen die Arbeitgeber beteiligt sind. Wegen des in der Industrie permanent sinkenden Anteil der Arbeitskosten an den Gesamtkosten eines Produkts von momentan nicht mehr als 20 %, beträgt z. B. dort der Anteil des gesamten Arbeitgeberbeitrags zur Krankenversicherung an allen Kosten weit weniger als 2 %. In einem im Kern unwidersprochen und -widerlegt gebliebenen Gutachten von IGES wurde u.a. auch auf die im internationalen Vergleich eher geringere Belastung der Kostenstruktur deutscher Arbeitgeber durch Sozialversicherungsbeiträge hingewiesen.

Am empirischen Hintergrund und Gehalt dieser Situation hat sich auch nichts geändert. Insofern enthalten die jüngsten vom "Statistischen Bundesamt (StBA)" veröffentlichten Daten zum Stand und der Entwicklung der Arbeits- und Lohnnebenkosten in Deutschland nichts wirklich Neues, bestätigen aber, dass es keine Trendwende gegeben hat.

Die Berechnungen des Bundesamtes beinhalten folgende Einzelpunkte:

• Die Arbeitskosten für Arbeitgeber im Produzierenden Gewerbe und im Dienstleistungsbereich (den beiden Bereichen für die es immer noch nur eine verlässliche amtliche Arbeitskostenberechnung gibt) im zweiten Quartal 2007 erhöhten sich kalenderbereinigt um 0,9% im Vergleich zum zweiten Quartal 2006.
• Im Vergleich zum ersten Quartal 2007 stiegen die Arbeitskosten saison- und kalender-bereinigt um 0,7%.
• Die beiden Hauptkomponenten der Arbeitskosten entwickelten sich unterschiedlich: Während die Kosten für Bruttolöhne und -gehälter im zweiten Quartal 2007 gegenüber dem Vorjahresquartal um 1,4% wuchsen, wurden die Arbeitgeber bei den Lohnnebenkosten im gleichen Zeitraum um 0,8% entlastet. Hier spiegelt sich die Entwicklung der Beitragssätze zu den Sozialversicherungen wider.
• Zum internationalen Vergleich liefert das StBA folgende Informationen: Für das erste Quartal 2007 liegen Daten von 22 der 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union vor. Im Vergleich zum ersten Quartal 2006 stiegen die Arbeitskosten im ersten Quartal 2007 in Deutschland kalenderbereinigt um 0,2%. Ein vergleichbar niedriges Wachstum der Arbeitskosten gab es in keinem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union. Malta weist mit einem Wachstum von + 1,4% die zweitniedrigste Entwicklung auf, gefolgt von Belgien (+ 2,0%), Österreich (+ 2,3%) und Schweden (+ 2,8%). Die höchste Veränderungsrate der Arbeitskosten verzeichnete Lettland mit + 32,6%. In Frankreich (+ 3,8%) lag die Wachstumsrate deutlich über dem deutschen Wert. In der Europäischen Union war der durchschnittliche Anstieg bei den 22 einbezogenen Mitgliedstaaten mit + 3,7% deutlich höher als in Deutschland.
• Zu beachten ist dabei freilich, dass der Arbeitskostenindex die Entwicklung der Arbeitskosten je geleistete Stunde in der jeweiligen Landeswährung misst. Die Zeitreihen von Staaten außerhalb des Euro-Währungsgebiets sind daher nicht währungsbereinigt.
• Die mehrjährigen, kalender- und saisonbereinigten Veränderungen der Indices der Arbeitskosten, Bruttolöhne und -gehälter und Lohnnebenkosten von 2000 bis zum 1. Quartal 2007 rechtfertigen ebenfalls nicht eine Dramatisierung dieser Kostengrößen: Wenn man das Niveau des Jahres 2000=100 setzt erhöhten sich die Arbeitskosten im Euro-Währungsgebiet auf 120,9 Punkte und in Deutschland auf 111 Punkte. Nur in Österreich war die Entwicklung etwas besser, nämlich mit 110,2 Punkten. Der Index der Bruttolöhne und -gehälter stieg im Euro-Währungsgebiet ebenfalls auf 120,9 und in Deutschland auf 112,8 Punkte. Damit war der Anstieg in Deutschland der schwächste in ganz Europa. Die Lohnnebenkosten lagen im Euro-Gebiet 2007 bei 120,7 Punkten und erneut Deutschland gab mit 105,2 Punkten das Schlusslicht ab.

Hier erhält man die ausführliche und faktenreiche Pressemitteilung des StBA Nr. 362 vom 07.09.2007 zu den aktuellen nationalen und international vergleichenden Ergebnissen der Arbeitskostzenstatistik des StBA.

Zum Begriff der "Lohnnebenkosten" findet man nachwievor eine der systematisch umfassendsten und empirisch gut hinterlegten Darstellungen in: Schönwälder, Thomas (2003): Begriffliche Konzeption und empirische Entwicklung der Lohnnebenkosten in der Bundesrepublik Deutschland - eine kritische Betrachtung, Düsseldorf (Der Setzkasten).

Bernard Braun, 7.9.2007


Unkenntnis, falsche Annahmen, Unter- und Überschätzung von Kosten - Zur Wirklichkeit des "homo oeconomicus" in der GKV

Artikel 0865 Anders als dies manche Ökonomen als Verhaltensannahme und Menschenbild verbreiten (Stichworte: "homo oeconomicus", "moral hazard", "Freibiertrinkermentalität") und Politiker nachbeten und in Gesetze gießen, die gegen die vermeintlichen Verhaltensweisen gerichtet sind: Die GKV-Versicherten unter- und überschätzen vielfach sowohl ihre Beiträge in Prozentpunkten und ihre absoluten Beitragszahlungen als auch die Kosten ihrer Behandlung erheblich oder kennen sie schlicht nicht. Von handlungsorientierendem Wissen kann also bei der Mehrheit der GKV-Versicherten a priori nicht die Rede sein. Ob sich der Rest der Versicherten auf der Basis von mehr und gesichertem Wissen so verhält wie die genannten Modellannahmen es ausmalen, ist empirisch zweifelhaft und verdient gründlich untersucht zu werden.

In mehreren Befragungen seit den 1970er Jahren (z. B. von Jens Alber) wurde die Unkenntnis der Höhe des individuellen Beitragssatzes bei zeitweise über der Hälfte der Mitglieder der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) belegt.
In einer Befragung des "Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen (WidO)" aus dem Jahr 2006 zu "Beitragssatzkenntnis und Wechselbereitschaft in der GKV" konnten 42 % der Befragten keine Angabe zu ihrem Beitragssatz machen und lediglich 46 % machten halbwegs realistische Angaben. Trotz einiger Verbesserungen des Kenntnisstandes unter den Bedingungen eines möglichen Kassenwechsels, weiß also die Mehrheit der GKV-Beitragszahler nichts oder falsches über ihre Beitragsbelastung.

Eine repräsentative Befragung von GKV-Versicherten im Jahr 2005 und 2006 im Rahmen des Gesundheitsmonitors der Bertelsmann Stiftung, die durch das "Zentrum für Sozialpolitik (ZeS)" der Universität Bremen ausgewertet wurde, bestätigte diese Ergebnisse und förderte noch mehr falsche Annahmen und Unkenntnisse der GKV-Mitglieder über materiell und immateriell wichtige Bedingungen ihrer Mitgliedschaft zu Tage:

• 24 % konnten zu den potenziellen Einsparmöglichkeiten eines Kassenwechsels mangels Kenntnis des jetzigen und der Höhe künftiger Beitragssätze nichts sagen.
• 8 % erwarten gar keine Einsparmöglichkeiten und
• weitere 21 % nennen einen mit Sicherheit unterschätzten Wert zwischen einem und 10 Euro.

In der selben Befragung (die Ergebnisse sind von Bernard Braun et al. unter dem Titel "Barrieren für einen Wechsel der Krankenkasse: Loyalität, Bequemlichkeit, Informationsdefizite? im von Böcken/Braun/Amhof und Schnee herausgegebenen "Gesundheitsmonitor 2006. Gütersloh 2006: S. 11-31 veröffentlicht worden - hier gibt es bisher keinen kostenlosen Zugang) zeigten sich dann aber auch noch zusätzliche Wissenslücken, die am Bild des "homo oeconomicus" oder vorteilsbedachten Informationssammler zusätzlich zweifeln lassen:

• Nur jeder Dritte (35 %) GKV-Versicherte beantwortet drei oder vier von vier Fragen (Beim Kassenwechsel innerhalb der GKV gehen angesparte Beiträge verloren? Langjährig Versicherte erhalten mehr Leistungen? Alte und Kranke zahlen dasselbe wie Junge und Gesunde? Und Kassen dürfen Interessenten ablehnen?) richtig.
• Auf alle vier Fragen geben lediglich 20 % der Versicherten korrekte Antworten.

Dass solche Unkenntnis und Wissensdefizite und damit Unter- wie Überschätzungen von Belastungen und/oder Effekten auch im Bereich der Leistungen verbreitet sind, hat eine jetzt veröffentlichte Studie aus dem Kieler "Institut für Mikrodatenanalyse (IMDA)" durch eine Befragung von 1.000 Krankenversicherten im Alter von 14 bis 85 Jahren eindrucksvoll transparent gemacht.
Generell kommt diese Studie zum Ergebnis, dass die Kosten von Einzelleistungen zum Teil um 1.000 % überschätzt, die so genannten Lebenszykluskosten für die gesundheitliche Versorgung aber um etwa die Hälfte unterschätzt werden.

So finden die Autoren, Drabinski und Schröder, beispielsweise, dass

• die GKV-Versicherten im Durchschnitt ihre Lebenszykluskosten auf rund 56.358 Euro schätzen, sie aber in Wirklichkeit 142.413 Euro betragen.
• Die Kosten für eine Blutdruckmessung werden auf 24,66 Euro geschätzt, was aber in Wirklichkeit 7,41 Euro kostet.
• Erheblich überschätzt wird auch ein 10-minütiges Arzt-Patienten-Gespräch, nämlich auf 34,38 Euro, wofür der Arzt aber tatsächlich 7,67 Euro erhält.
• Ebenfalls überschätzt werden die Kosten eines 3-tägigen Krankenhausaufenthalt einschließlich Blinddarm-OP: Erwartet werden 2.561 Euro, dem ein Ist-Wert von durchschnittlich 1.962 Euro gegenübersteht.
• Noch gravierender ist die Diskrepanz zwischen Erwartungs- und Ist-Wert für eine Blutuntersuchung im Labor nach einem Zeckenbiss. Geschätzt werden Kosten von 165,88 Euro, während der tatsächliche Betrag sich auf 7,70 Euro beläuft.

Diese und weitere Ergebnisse finden sich auf 60 Seiten in: Drabinski, Thomas / Schröder, Carsten (2007): Zur Wahrnehmung von Kosten im Gesundheitswesen. Kiel, August 2007, ISBN 978-388-312-346-2. Die kleine Studie ist nur für einen Preis von 13,50 Euro beim IMDA erhältlioch.

Bernard Braun, 20.8.2007


Steuer- und Sozialabgabenanteil am Bruttoinlandsprodukt 2005 im EU-Vergleich: Deutschland meist im unteren Mittelfeld

Artikel 0790 Auch 2007 ist der Hinweis, eine sozial- oder gesundheitspolitische Maßnahme sei ein Beitrag, die Lohnnebenkosten zu senken und damit den Wirtschaftsstandort Deutschland im internationalen Wettbewerb zu stärken, weit verbreitet. Breiter gefasst, und das zeigt die gerade von der Bundestagsmehrheit von CDU/CSU und SPD beschlossene Senkung der Unternehmenssteuern, gilt dies eigentlich für alle öffentlichen Aufwendungen. Steuern und Sozialabgaben deutlich unter die je nach Bedarf ohne weiteren Wirksamkeitsnachweis gesetzte 50-, 40- oder 30-Prozent-Marke senken und dann seien wenigstens "unsere Schwerter gleich lang wie die auf dem Weltmarkt" - so oder so ähnlich lauten die Argumente.

Hier wie anderswo lohnt es sich aber, die Argumente und Daten gründlich zu hinterfragen und auf den empirischen Prüfstand zu stellen. Die entsprechenden EU-weiten und internationalen Daten haben in den letzten Monaten und für das Jahr 2005 zweimal die Statistiker des Statistischen Amtes der EU, Eurostat, veröffentlicht.

Im März 2007 legten sie als "News release" Nr. 41 eine Übersicht der jährlichen Entwicklung der so genannten "tax revenue" (dies ist die Summe aller Steuern und Sozialabgaben) von 1995 bis 2005 vor: "Taxation in the EU from 1995 to 2005".

In der am 26. Juni 2007 veröffentlichten Ausgabe Nr. 89 der "Eurostat News release" mit dem Titel "Taxation trends in the EU. Rise in overall tax burden in the EU27 to 39.6% of GDP in 2005" setzten sie diese Berichterstattung fort und vertieften sie.

Die wesentlichen Trends und Fakten für die Debatte über Steuern und Abgabenlasten in Deutschland lauten nach dem jüngsten Bericht so:

• Der Anteil aller Steuern und Sozialabgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) betrug 2005 im EU13-Bereich 39,9 % und in EU27 39,6 %. Deutschland liegt mit 38,8 % unter dem Durchschnitt und hat 8 gewichtige Nachbarländer und "Wirtschaftsstandort-Konkurrenten" von Schweden (51,3 %) bis Italien (40,6 %) vor sich. Einen geringeren Anteil haben EU-Länder wie Luxemburg (38,2 %) bis hin zu Irland (30,8 %) oder Rumänien (28 %). Teiloweise noch niedriger liegen die Anteile in Nicht-EU-Länder wie der Schweiz (30 %), den USA (für 2004: 26,8 %) und Japan (2004: 26,4 %).

• Der BIP-Anteil dieser Abgaben blieb zwischen 1995 und 2005 in EU13 unverändert, sank in Deutschland um 1 Prozentpunkt und stieg z. B. in Großbritannien um 1,4 Prozentpunkte. Die Traumentwicklung für manchen Lohnnebenkostensenker findet sich allerdings in Ländern wie Estland, wo dieser Anteil im Zeitraum 1995-2005 von 37,9 auf 30,9 % sank.

• Die so genannte "implicit tax rate" als Summe der auf Arbeit, Konsum und Kapital entfallende durchschnittliche Belastung mit Steuern und Abgaben zeigt weitere Details der sozialen Verteilungs- und Umverteilungssituation in Deutschland im internationalen Vergleich:

• Der implizite Steuer- und Abgabensatz auf Arbeitseinkommen lag in Deutschland 2005 mit 38,7 % deutlich über dem EU13-Durchschnitt von 36,8 %, aber immer noch nicht in der EU-Spitzengruppe von Schweden (46,4 %), Italien (43,1 %) oder Frankreich (42,1 %). Hinter Deutschland lagen etwa Griechenland (38 %) oder Großbritannien (25,5 %).

• Völlig anders sah der implizite Steuersatz auf Kapitaleinkommen im Jahr 2005 aus: Dieser lag in Deutschland mit 23,3 % deutlich unter dem EU13-Satz von 30,4 %. Einen geringeren Satz mussten nur die Kapitaleigner in Tschechien mit 23,2 %, in den Niederlanden mit 21,2 % und dann am wenigsten die in Estland mit 8,1 % bezahlen. Deutlich mehr zahlten aber die Kapitaleigner beim Spitzenreiter Irland mit 41,´4 % oder in Finnland mit 26,7 %.

• Schließlich liegt auch der implizite Steuer- und Abgabensatz auf den Konsum 2005 in Deutschland mit 18,1 % unter dem EU13-Durchschnitt von 21,8 %.

• Weitere interessante internationale Vergleiche des Spitzensteuersatzes und der Körperschaftssteuer runden das Bild ab, liefern aber keine belastbaren empirischen Anhaltspunkte für die eingangs memorierte Überbelastungsdebatte.

Wer nicht nur an den nackten Zahlentabellen, sondern an grafischen Darstellungen interessiert ist, findet in dem "Informationsportal Globalisierung" mehrere Abbildungen auf der Basis der Eurostat-Daten hier.

Bernard Braun, 10.7.2007


Arbeitseinkommen in Deutschland aus OECD-Sicht: Wie sich eine "kleine Elite...von der Masse zu distanzieren" weiß!

Artikel 0751 Die Finanzierungsfähigkeit der deutschen Sozialversicherungssysteme und vor allem der GKV hängt immer noch wesentlich von der Höhe der Arbeitseinkommen ihrer Versicherten ab. Der meisten Probleme der GKV in den letzten Jahrzehnten hängen daher auch maßgeblich von der Entwicklung des Umfangs und relativen volkswirtschaftlichen Gewichts der Löhne und Gehälter ab, sind also Einnahme- und weniger oder gar keine Probleme von explodierenden Ausgaben.

Wie sich die Arbeitseinkommenssituation der letzten Jahre in Deutschland im Vergleich zu anderen, fast durchweg hochindustrialisierten Ländern in der OECD entwickelt hat, zeigt unter vielen anderen interessanten Ergebnissen die soeben erschienene Ausgabe 2007 des "Employment Outlook" der OECD für die Jahre 2000 bis 2005.

Unter der programmatischen Wunsch-Feststellung, die Regierungen der Mitgliedsländer sollen weniger Angst vor der Globalisierung verbreiten und sich darauf konzentrieren, die Regulierung der Arbeit und die sozialen Sicherungssysteme so zu verbessern, dass sich die Menschen an die sich verändernden Arbeitsmärkte anpassen können ("Governments must do more to help workers adapt to new global economy"), liefert die OECD u.a. für Deutschland empirische Belege für eine etwas andere Situation:

• 2005 lagen die Bruttojahresgehälter in US-$ gerechnet in Deutschland mit 38.001 in der unteren Hälfte der Einkommensrangliste der OECD - genau auf Platz 16. Weniger als die deutschen Einkommensempfänger verdienten z. B. kanadische (35.494 US-$), griechische (25.085 US-$) oder schließlich slowakische (7.608 US-$) ArbeitnehmerInnen. Mehr verdienten dagegen schwedische (38.244 US-$), britische (44.037 US-$) oder gar schweizerische (58.205 US-$) ArbeitnehmerInnen. Der OECD-Durchschnitt belief sich auf 39.203 US-$. Mit Sicherheit hat sich angesichts der Einkommensentwicklung die Position Deutschlands eher noch verschlechtert.

• Bei den Steigerungen der Bruttojahresgehälter in US-$ zwischen 2000 und 2005 belegt Deutschland mit +0,2 % den vorletzten Platz. Nur die spanischen ArbeitnehmerInnen waren mit -0,3 % schlechter gestellt. Im Durchschnitt der OECD-Länder stiegen die Arbeitseinkommen um 0,7 % und etwa in Großbritannien um 1,7 %, nicht zu sprechen von den sicherlich durch Sonderbedingungen geprägten Spitzenreitern Tschechien und Ungarn mit knapp unter 5 und erheblich darüber liegenden Zuwachsraten.

• Was aber in Deutschland nach den OECD-Zahlen zwischen 1995 und 2005 im Vergleich mit anderen europäischen Ländern (ohne Osteuropa), den USA, Kanada und Japan am stärksten zugenommen hat, ist der Abstand zwischen dem Arbeitseinkommen der 10 % am besten und am schlechtesten entlohnten ArbeitnehmerInnen. Dabei weist die OECD aber darauf hin, dass dies nicht mit einer Absenkung der untersten Einkommen einhergehen muss. Die Ungleichheit der Arbeitseinkommen hat im übrigen in Europa nur in Irland und Spanien abgenommen.

• In der zu den meisten hier genannten Fakten fakten- und sprachlosen deutschsprachigen Zusammenfassung des Berichts gibt es zumindest zu den "Einkommensdisparitäten" einige gewundene Worte: "Was die Einkommensdisparitäten anbelangt, so hat sich der Lohnanteil am Nationaleinkommen verringert, in einigen Ländern sogar recht drastisch. Außerdem ist ein wachsendes Verdienstgefälle festzustellen, das jedoch großenteils einem starken Anstieg der Verdienste in den oberen 10 % des Verdienstspektrums und weniger einem Verdienstrückgang am unteren Ende des Spektrums zuzuschreiben ist. Inwieweit die Globalisierung zu diesen Veränderungen beigetragen hat, ist nicht klar. Die Veränderungen in der Verdienstverteilung legen aber zumindest den Schluss nahe, dass die Globalisierung einer kleinen Elite von Arbeitskräften und Investoren die Möglichkeit gab, sich von der Masse zu distanzieren." Sollte jemals ein "Wörterbuch des Umverteilungs-Sprech" erscheinen, könnte dieser Satz das Deckblatt zieren.

Den gesamten, 281 Seiten umfassenden Report "OECD Employment Outlook - 2007 Edition" kann man ohne einen Zugang über berechtigte Universitäts-Bibliotheken oder als eingetragener Journalist leider nicht in einer druckbaren Version kostenlos erhalten. Zum Preis von 56 Euro kann man den Bericht über diese Seite mit einem Link zum OECD-Bookshop bestellen. Wer sich den Bericht nur herunterladen und ihn dann am Bildschirm lesen will, kann dies in der so genannten nur lesbaren und legal nicht ausdruckbaren Browse_It-Form machen. Der fast 5 MB umfassende Bericht ist als Browse_It-Version hier herunterladbar.

Hier findet "der eilige Leser" eine 7-seitige Kurzfassung der Ergebnisse in deutscher Sprache in der auch noch Links zu weiteren interessanten Daten wie etwa der Entwicklung der Verdienstdisparitäten in 10 OECD-Ländern seit 1980, zu den OECD-weiten Beschäftigungs- und Arbeitslosenquoten oder dem Effekt von Elternurlaubsregelungen auf die Produktivität zu finden sind.

Die Grafik, die ihre Titelzeile "Earnings inequality has tended to widen" für eine Reihe von OECD-Ländern (inkl. Osteuropa, Australien und Neuseeland) quantitativ belegt, findet man hier.

Bernard Braun, 24.6.2007


OECD-Rentenvergleich 2007: Rentenniveaus und Bezugsgröße für GKV-Beiträge der Rentner in Deutschland niedrig und sinkend

Artikel 0739 Einen weiteren Hinweis auf Finanzierungsprobleme der deutschen solidarischen Sozialversicherungssysteme, die durch einige nicht gesundheitspolitische Reformen und Entwicklungen der letzten Jahre verursacht oder verschärft wurden, liefert der gerade veröffentlichte OECD-Bericht "Pensions at a glance 2007", der sich auftragsgemäß und in Fortsetzung eines älteren Berichts mit dem Rentenniveau und den Rentenreformeffekten in den OECD-Ländern beschäftigt.

Eines seiner für Deutschland wesentlichen Ergebnisse ist sein im OECD-Vergleich für das Jahr 2003/2004 verhältnismäßig niedriges Niveau der Renten aus der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV):

• Beim Verhältnis der Renten zum durchschnittlichen vorherigen Einkommen liegen deutsche Rentner mit 39,9 % auf dem viertletzten Platz einer insgesamt 23 OECD-Länder umfassenden Rangreihe. Der Abstand zum "Schlusslicht" Großbritannien mit 30,8 % ist aber minimal und jedenfalls wesentlich kleiner als zu den "Spitzenreitern" Griechenland mit 95,7 %, Luxemburg mit 88,3 % oder Niederlande mit 81,9 %.
• Das Niveau der Renten, welche diejenigen erhielten, die vorher das doppelte durchschnittliche Einkommen erhielten, lag mit 30 % noch niedriger, aber immerhin rückt Deutschland hier auf den siebtletzten Platz vor. Zu den letztplatzierten Ländern gehören ebenfalls erneut Großbritannien oder Japan und an der Spitze liegen mit Niveaus über 80 % immer noch Griechenland, die Niederlande und Luxemburg.
• Betrachtet man sich das Rentenniveau für die Personen, die als Erwerbstätige nur die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens erzielten, erhielt diese schon lebenslang ärmere Personengruppe ebenfalls nur 39,9 % ihres halben Durchschnittseinkommens. Da praktisch alle anderen 22 Länder der damit wahrscheinlichen Altersarmut gegensteuern, rutscht Deutschland in dieser Betrachtung auf den letzten Platz der OECD-Länder. Selbst die US-Amerikaner, die dieser Rentnergruppe angehören, erhielten mit 55,2 % ihres halben Durchschnittseinkommens noch mehr und der Abstand zum vorletzten Land, Japan, betrug rund 8 Prozentpunkte. An der Spitze liegt bei der Rentenpolitik gegen Altersarmut Dänemark, das den armen Rentnern ein Rentenniveau von 119,6 % des vorherigen halben Durchschnittseinkommens verschafft. Wie in einigen anderen sozialen Bereichen (z. B. Bildungschancen für Kinder und Jugendlichen aus unteren sozialen Schichten) auch, ist offensichtlich die Wirksamkeit des deutschen Sozialstaats ausgerechnet bei den unterprivilegiertesten Bevölkerungsgruppen zunehmend eingeschränkt. Dies wird durch weitere Analysedaten des OECD-Berichts vielfach unterstrichen.
• Wie politisch beeinflusst das Rentenniveau ist, zu welchem Volumen sich viele Einzelmaßnahmen addieren und dass es auch anders geht, zeigt eine weitere vergleichende Analyse der OECD. Danach senkten die Rentenreformen der letzten Jahre das Rentenniveau für Personen mit durchschnittlichem Einkommen in Deutschland von 48,7 % auf die bereits bekannten 39,9 %. Nur in wenigen Ländern gab es einen vergleichbaren oder sogar noch kräftigeren Abbau - natürlich von jeweils unterschiedlichen Niveaus aus. Bei der Mehrzahl der OECD-Länder war der Niveauverlust geringer.

Zu den vielen möglichen Folgeeffekten dieser Entwicklungen (z. B. Altersarmut) außerhalb des engeren rentenpolitischen Bereichs gehört die Schwäche und sogar noch laufende Schwächung der Einnahmenbasis für die Beiträge der Rentner zur Gesetzlichen Krankenversicherung.

Hier findet man die kostenlose "Browse_it" oder "Nur-Leseversion" (der Text hat einen durchgehenden "Nur-zum-Lesen"-Aufdruck und kann nicht kopiert oder gedruckt werden) des 208 Seiten umfassenden und über 7 MB großen OECD-Berichts "Pensions at a glance 2007. Public Policies across OECD countries".

Natürlich kann man den Bericht auch in einer Druckversion für 21 Euro hier bestellen.

Bernard Braun, 17.6.2007


"Race to the bottom": Anhaltende Stagnation der Arbeitskosten und GKV-Finanzierungsbasis in Deutschland im EU-Vergleich

Artikel 0737 Die im EU-Vergleich seit Jahren auf durchschnittlichem Niveau stagnierenden Brutto- und Nettoeinkommen in Deutschland gehören zu den problematischen aber politisch gestalteten Determinanten des immer noch fast ausschließlich aus Lohneinkommen finanzierten Krankenversicherungs- bzw. Gesundheitssystem Deutschlands.

Weniger vornehm ausgedrückt handelt es sich dabei um einen seit rund einem Jahrzehnt stattfindenden Lohndumping-Wettbewerb oder den Export eines Teils der Arbeitslosigkeit in die Nachbarländer Deutschlands. Diesem Druck können viele von ihnen, anders als vor der Einführung des Euros, nicht mehr durch währungspolitische Maßnahmen ausweichen.
Gehören die exportierenden Unternehmen und damit natürlich auch ein Teil der deutschen ArbeitnehmerInnen zu den Gewinnern, gibt es allerdings auch im Inland Verlierer. Dazu zählen all diejenigen Einrichtungen, die ihre Tätigkeit über Beiträge, Gebühren etc. finanzieren, die auf Lohneinkommen erhoben werden, also im wesentlichen die Sozialversicherungsträger und ihre beitragszahlenden und an Leistungen interessierten Mitglieder.

Wie massiv das Lohndumping aussieht und welche Substanz zugleich die immer noch alarmierend verbreitete Bedrohung der Wettbewerbsposition des Wirtschaftsstandortes Deutschland durch Lohnnebenkosten und damit auch durch Arbeitgeber-Sozialversicherungsbeiträge in Wirklichkeit hat, zeigen zum wiederholten Male auch die am 14. Juni 2007 in der EU-Datenbank EUROSTAT veröffentlichten und damit aktuellsten EU-weiten Daten zur Entwicklung der Arbeitskosten im 1. Quartal 2007 gegenüber dem Vergleichsquartal des Vorjahrs.

Danach stiegen die nominalen Stunden-Arbeitskosten als Summe aus Bruttolohn und allen Lohnnebenkosten in der Eurozone insgesamt um 2,2 % an. In einzelnen europäischen Ländern mit meist hoher außenwirtschaftlicher Bedeutung für Deutschland, lag der Zuwachs der Arbeitskosten sogar meist deutlich höher: Großbritannien war der Spitzenreiter mit +7 %, Spanien hatte einen Zuwachs von 4,1 % und Frankreichs Arbeitskosten wuchsen um 3,8 %. Der Zuwachs in Deutschland betrug dagegen gerade noch 0,1 % und stellt damit das europäische Schlusslicht dar. Rechnet man aus den Arbeitskosten noch die jeweilige Verbraucherpreisinflation heraus und hat es dann mit den realen Arbeitskosten pro Stunde zu tun, stiegen sie in Großbritannien vom 1. Quartal 2006 auf das diesjährige 1. Quartal immer noch um 4,2 %, in der Eurozone auch um 0,1 %, aber sinken (!!) in Deutschland um 1,8 %.

Dehnt man übrigens den Kreis der verglichenen EU-Länder auf den der neuen ost- und südosteuropäischen Beitrittsländer aus, kommt man noch in ganz andere Wachstumsbereiche. Dann werden im Quartalsvergleich 2007/2006 nämlich "die...größten Zuwächse...in Lettland (32,6 %), Rumänien (25 %), Litauen (22,2 %) und Estland (21,1 %)" erzielt. Und "bei den Lohnnebenkosten reichte die Skala der Veränderungen von 0,0 % in Deutschland bis 33,8 % in Lettland."

Welche Dynamik ("race to the bottom") damit für den weiteren internationalen Wettbewerb eingeläutet ist bzw. fortgeführt wird und welche ambivalente Konstellation eigentlich der Freude über "uns als Exportweltmeister" zugrundeliegt, zeigt ein Hinweis im "Informationsportal Globalisierung", das sich auch mit diesen Daten beschäftigt: Eine der mitten im französischen Parlamentswahlkampf angekündigten Abwehrmaßnahmen in Frankreich als einem Haupthandelspartner Deutschlands ist die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 5 Prozentpunkte und eine damit finanzierte Absenkung der Arbeitskosten oder Lohnnebenkosten der französischen Unternehmen. Man braucht nicht viel Phantasie, um daraufhin die nächste Absenkung der Lohnnebenkosten in Deutschland prognostizieren zu können.

Die wichtigsten Eurostat-Daten finden sich in der "Euro-Indikatoren Pressemitteilung 83/2007 vom 14. Juni 2007".

Bernard Braun, 16.6.2007


Arbeitskosten, Lohnquoten, Leiharbeiter - Aktuelle Daten zu den Treibsätzen der nächsten GKV-Beitragserhöhung

Artikel 0727 Das fast schon vergessene "GKV-Modernisierungsgesetz" vom 1. Januar 2004 hin und das seit 1. April 2007 teilweise in Kraft getretene jüngste Gesundheitsreformgesetz, das "Wettbewerbsstärkungsgesetz", her: Die Beiträge der gesetzlichen Krankenkassen werden 2008 voraussichtlich wieder steigen - so jedenfalls eine aktuelle Schätzung aus Expertenkreisen.

Sollte dies eintreffen wird wie immer eine dramatische Debatte über die Gründe ausbrechen. Befürchtungen, die "Kostenexplosion" und die steigenden Lohnnebenkosten könnten die gerade so gut funktionierende Konjunktur abwürgen, werden schnell anwachsen und Forderungen nach wirksamer Kostendämpfung durch mehr Selbstbeteiligung und Abbau solidarisch finanzierter Leistungen werden wie Pilze aus dem Boden schießen.

Wer Fakten und Argumente für die wirklichen und seit längerem strukturellen Hintergründe des skizzierten Standard-Szenarios der deutschen Gesundheitspolitik sucht, findet mehrere in einer einzigen aktuellen Quelle. Die Quelle ist der "Rundbrief Nr. 28" des Herausgebers des "Informationsportals Deutschland & Globalisierung". Dieses Portal wird seit mittlerweile zwei Jahren von dem pensionierten ehemaligen Außenwirtschaftsexperten im Bundeswirtschaftsministerium (Ministerialdirigent) und Vorstandsmitglied u.a. in der "Europäischen Bank für Wiederaufbau", Joachim Jahnke, mit mittlerweile Hunderten von globalisierungskritischen und sich sachkundig mit der Flut neoliberaler wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Argumente auseinandersetzenden Beiträgen gestaltet. Die Rundbriefe und weitere kurze Texte sind materialreich und hervorragend illustriert und stützen sich auf nationale und internationale Veröffentlichungen und Statistiken u.a. aus statistischen Ämtern, der EU-Kommission oder internationalen Organisationen.

Die für eine ernsthafte Debatte um die vergangene und künftige Entwicklung des Beitragssatzes der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gewichtigen Daten und Analysen sind folgende:

• Das Schreckgespenst der wettbewerbsschädlichen Kostenlasten ist auch aktuell nicht existent oder geringer als suggeriert: Nach dem aktuell für das 1. Quartal 2007 vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Arbeitskostenindex stehen zwei Entwicklungen fest: Dieser Index ist in der Industrie sind in den ersten drei Monaten 2007 lediglich um 0,4 % gestiegen. Der Zuwachs nahm seit 2000 im jeweiligen Vorjahresvergleich ständig ab, nämlich von 3,1 % in 2000, über 2,2 % in 2003, 0,8 % in 2004, 0,2 % in 2005 und 0,9 % im gesamten Jahr 2006 gegenüber 2005.

• Bei den Arbeitskosten aus absoluten Beiträgen von Bruttolöhnen und Lohnnebenkosten in Euro pro Stunde berechnet liegt Deutschland mit 28,70 Euro/Stunde im europäischen Mittelfeld. Dieser Betrag ist in Frankreich, Belgien, Luxemburg, Schweden und Dänemark höher (Spitzenreiter Dänemark mit 33,80 Euro/Stunde), in den Niederlanden, Österreich oder Griechenland niedriger (Schlusslicht Griechenland mit 16,70 Euro/Stunde).

• Bei der prozentualen Veränderung der absoluten Arbeitskosten pro Stunde von 2005 auf 2006 liegt Deutschland mit +1,1 % auf dem letzten Platz und Griechenland mit +7,8 % an der Spitze.

• Die Anzahl der meist unterdurchschnittlich entlohnten Zeitarbeiter nimmt seit Anfang des Jahrzehnts stetig zu (nach Italien und den Niederlanden gibt es hier zu Lande den stärksten Zuwachs) und mit eigenen Tarifverträgen der Zeitarbeitsfirmen ausgestattete Leiharbeitsverhältnisse treten immer häufiger an die Stelle von regulären betrieblichen Arbeitsverhältnissen.

• Diese Entwicklungsdynamik führt zu direkten und indirekten Belastungen der Einnahmesituation der GKV: Direkt ist der "Topf" der Bruttolöhne aus dem die GKV über einen prozentualen Beitragssatz ihre Einnahmen bezieht nicht so voll wie bei regulären Arbeitsverhältnissen. Indirekt schaukeln sich nachteilige Effekte der Leiharbeit mittel- bis langfristig auf. Eine Analyse des "Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)" der Bundesagentur für Arbeit aus dem September 2006 zeigte nämlich für 2003, dass der Anteil der "Ketten-Leiharbeiter" entgegen der Propaganda vom vorübergehenden Zustand aktuell zunimmt (Anteil 1980-84: 15,4 % und 2003: 25,5 %) und der Anteil dieser Art von Arbeitern, die anschließend arbeitslos werden, deutlich höher ist als in der Vergangenheit (18,6 % und 33,8 %). Entsprechend schrumpft dann auch der Anteil der Leiharbeiter, die in eine anderweitige, möglicherweise besser bezahlte und stabilere Beschäftigung übergehen (32,6 % zu 21,2 %).

• Was in Deutschland seit 1979, von damals etwas über 73 %, auf zuletzt im 1. Quartal 2007 (saisonbereinigt) mit einigen Auf und Abs auf unter 65 % abnimmt, und seit 2001 geradezu abstürzt, ist die Lohnquote als Anteil am Volkseinkommen. Diesem Absturz steht ein enormer Anstieg des Anteils der Unternehmens- und Vermögenseinkommen am Volkseinkommen gegenüber, was insgesamt zu einer enormen Zunahme der Spreizung der sozialen Verhältnisse führt. Neben vielen anderen Auswirkungen dieser Spreizung, verbirgt sich hier bei Beibehaltung der lohneinkommensbezogenen Finanzierung der Sozialversicherungssysteme der stärkste Treibsatz der zwingenden Beitragssatzerhöhungen.

Weitere Einzelheiten können dem "Rundbrief 28" des "Informationsportals Deutschland & Globalisierung", der hier heruntergeladen werden kann entnommen werden.

Wer sich auch noch für den einen oder anderen interessanten, häufig international vergleichenden sozialpolitischen Beitrag (z. B. jüngst eine genauere empirische Analyse der Leistungen der skandinavischen Sozialsysteme) oder Materialien zur Globalisierungsdebatte interessiert, kann hier die "Rundbriefe" abonnieren und damit Zugang zu allen bisher veröffentlichten Materialien erhalten.

Bernard Braun, 10.6.2007


4 von 10 Beschäftigten gehen mit Einbußen vorzeitig in Rente - Einkommens- und Einnahmeverluste durch Rentenabschläge

Artikel 0675 Die gute Nachricht zuerst: Das durchschnittliche Zugangsalter zur Rente ist gestiegen und zwar innerhalb dieser Dekade um 12 Monate auf 63 Jahre.
Dass dies nicht an besseren Arbeitsmarktchancen für ältere Personen oder ihrer besseren Gesundheit liegt und daher die Idee mit der "Rente ab 67" doch ganz gut in die soziale Landschaft passt, folgt aus der schlechten Nachricht: Der wesentliche Grund für diese Entwicklung sind nämlich die ab 1997 schrittweise (zuerst bei der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit und nach Altersteilzeitarbeit und zuletzt bei der Altersrente für Frauen) eingeführten Rentenabschläge, die ein frühes Ausscheiden aus dem Arbeitsleben unattraktiv machen bzw. bestrafen wollen.

Die Polarisierung zwischen gesunden und qualifizierten Beschäftigten mit einem Job bis zur Altersrente und den häufig auch gesundheitlich angeschlagenen älteren Langzeitarbeitslosen, die frühzeitig mit massiven Abschlägen in Rente gehen, wird in dem Anfang März 2007 erschienenen "Altersübergangs-Report" ausführlich analysiert, den das Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) im Auftrag der Hans Böckler Stiftung erstellte. Dieser seit 2004 in unregelmäßiger Folge erscheinende Report beruht auf Analysen einer repräsentativen 10 %-Stichprobe der Daten des Forschungsdatenzentrums der Rentenversicherung über Rentenzugänge zwischen 2003 und 2005.

Die Ergebnisse zeigen nicht nur massive Belastungen der Lebensqualität nicht weniger 60- bis 65-Jährigen an. Vielmehr ist auch deren soziale Situation ab 65 belastet ebenso wie es durch alle dieser Belastungen kurz- und langfristige Verschlechterungen der Einnahmesituation der von der Höhe der Einkommen abhängigen Krankenversicherung und anderer Sozialversicherungsträger gibt.
Die wichtigsten Ergebnisse lauten:
• 2005 waren bei 42 % der Neurentner die Auszahlungen durch Abschläge gemindert.
• Der Anteil der vorzeitig aus dem Erwerbsleben Ausgeschiedenen hat sich von 35,4 % im Jahre 2003 deutlich auf 42 % in 2005 erhöht.
• Jeder siebte Erwerbstätige ging bereits mit 60 in den Ruhestand und musste damit 2005 den maximalen Abschlag von 18 % hinnehmen.
• Besondere Problemgruppen waren 2005 Männer und Frauen, die in den drei Jahren vor Renteneintritt entweder arbeitslos, Minijobber oder lange krank waren. Jeder fünfte Mann aus dieser Gruppe ging mit 60, also dem frühstmöglichen Zeitpunkt, in Rente. Bei den Frauen dieser Gruppe war es jede dritte.
• Die durchschnittliche Anzahl der Abschlagsmonate summierte sich 2005 auf 38,9 Monate.
• Der Rentenzugangsquotient, der angibt, wie viel Prozent der 60-jährigen Bevölkerung im betreffenden Jahr mit 60 eine Altersrente begonnen hat, liegt 2005 bei 24,4 %. 2001 betrug er 28,8 %, 2002 25,6 %, 2003 22,9 % und 2004 23,4 %.
• Der Autor des Reports, Martin Brussig, wies darauf hin, dass es sich letztlich um eine doppelte Belastung der vorzeitigen Rentner und der Sozialversicherungsträger handelt: Die kurzfristige Belastung resultiert aus den niedrigen Rentenbeträgen. Die langfristig wirkende oder kumulative Belastung und ihr nie verschwindender Effekt beruht darauf, dass "diesen Personen …- verglichen mit durchgängig Erwerbstätigen, die mit 65 Jahren in Rente gehen - acht Jahre am Aufbau ihrer Alterssicherung (fehlen)". Auch ihre normale Altersrente wird daher lebenslang geringer ausfallen.
• Nach einer im Report zitierten Modellrechnung kumulieren sich die Rentenverluste einer Person mit niedriger Pflichtversicherung aufgrund von Arbeitslosigkeit ab 57 Jahren, fehlender Versicherungszeit von fünf Jahren bei einem Renteneintritt mit 60 Jahren in Verbindung mit dem bereits erwähnten 18 %-Abschlag zu einer um 30 % geringeren Rente gegenüber Personen, die ab ihrem 18. Lebensjahr bis zu ihrem 65. Lebensjahr einen Durchschnittsverdienst erzielten.

Einen Kurzüberblick der Studienergebnisse gibt es hier.

Hier gibt es die 15-seitige Langfassung des Altersübergangs-Report ist als PDF-Datei.

Bernard Braun, 25.4.2007


Der demografische Wandel wird keine "Kostenexplosion" im Gesundheitswesen verursachen

Artikel 0638 Die demografische Entwicklung allein wird sich auf die Beiträge der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) weniger dramatisch auswirken als von vielen befürchtet. Zu diesem Ergebnis kommt der Volkswirtschaftler, Prof. Bert Rürup, Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Nach seiner Hochrechnung steigt der durchschnittliche Beitragssatz lediglich um 2,5 Prozentpunkte, wenn man nur die veränderte Altersstruktur bis 2030 berücksichtigt. In seinem Beitrag für die neue Ausgabe des AOK-Magazins "Gesundheit und Gesellschaft (G+G)" rechnet der Volkswirtschaftler die Herausforderungen für das Gesundheitswesen durch den demografischen Wandel nicht klein. Er stellt die Veränderung der Altersstruktur jedoch in den Zusammenhang mit weiteren Faktoren und deren Einfluss auf die Höhe der Beitragssätze.

Die Leistungsausgaben der GKV lägen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt seit 30 Jahren bei rund sechs Prozent betont Rürup. Eine "Kostenexplosion" im gesamtwirtschaftlichen Sinne habe es demnach in den letzten drei Jahrzehnten nicht gegeben. Rürup: "Dennoch sind in diesem Zeitraum die Beitragssätze von 9,5 Prozent auf über 14 Prozent gestiegen. Dies aber eben weniger als Folge der demografischen Entwicklung, als aufgrund der steigenden und anhaltenden Massenarbeitslosigkeit, sinkenden Lohnquote, Frühverrentungen und einer Politik der Verschiebebahnhöfe zulasten der GKV." Dies habe bewirkt, dass die Ausgaben stärker als die Einnahmen gestiegen seien.

Steigende Gesundheitsausgaben, so der Wirtschaftsweise, seien für die Politik nicht so sehr eine Gefahr, wenn sie "das Ergebnis einer zunehmenden Multimorbidität als Folge der Bevölkerungsalterung, eines die Lebensqualität der Patienten verbessernden und die Lebenserwartung verlängernden medizinisch-technischen Fortschrittes oder veränderter Präferenzen als Folge der Wohlstandssteigerung sind". Problematisch wird es, wenn effizienzfeindliche Organisations- und Anreizstrukturen und fehlender Wettbewerb zwischen den Leistungsanbietern einerseits und den Krankenkassen andererseits die Ausgaben steigen lassen. Und auch dann, wenn "die Art der Finanzierung von Gesundheitsausgaben mit gesamtwirtschaftlichen Beschäftigungs- und Wachstumsverlusten verbunden ist."

Er forderte, dass die Politik deshalb zwei Fragen beantworten müsse:
1. Wie können die aus der Bevölkerungsalterung und dem medizinisch-technischen Fortschritt resultierenden Ausgabensteigerungen weniger beschäftigungsfeindlich und wachstumsfreundlicher finanziert werden als dies derzeit mit den lohnzentrierten Beiträgen der Fall ist?
2. Wie können die - zwar nicht exakt zu beziffernden, gleichwohl zu vermutenden - Wirtschaftlichkeitsreserven auf der Anbieterseite mobilisiert werden?"

Der komplette Beitrag von Prof. Bert Rürup ist hier nachzulesen: Was kostet Gesundheit 2030?
(AOK-Magazin "Gesundheit + Gesellschaft" Nr. 3/2007, PDF, 8 Seiten)

Zu einer konträren Einschätzung der Kostenentwicklung war vor kurzem die Expertise "Alter und steigende Lebenserwartung - Eine Analyse der Auswirkungen auf die Gesundheitsausgaben" gekommen. Das Wissenschaftliche Institut der PKV (WIP) hatte in dieser Studie die Ausgaben von 1,2 Millionen PKV-Versicherten über einen Zeitraum von 10 Jahren hinweg analysiert. Zusätzlich waren Daten der GKV berücksichtigt worden. Als zentrales Ergebnis der Studie wurde hervorgehoben, dass die Ausgaben in keiner Altersklasse gesunken oder konstant geblieben, sondern durchgängig gestiegen waren. Der Anstieg fiel umso höher aus, je älter die Versicherten waren. Mit dem Anstieg der Lebenserwartung gehe demnach ein eindeutiger überproportionaler Kostenanstieg einher, folgerte das Institut der PKV.

Die Studie ist hier als PDF-Datei verfügbar: Dr. Frank Niehaus: Alter und steigende Lebenserwartung - Eine Analyse der Auswirkungen auf die Gesundheitsausgaben (PDF, 9 MB, 158 Seiten)

Gerd Marstedt, 21.3.2007


Lohnneben-, Arbeits- und Lohnstückkosten in Deutschland - Wie gefährdet ist der "Wirtschaftsstandort" wirklich?

Artikel 0569 Nach dem Zerfall der empirischen Evidenz der "Kostenexplosion" im Gesundheitswesen rückten seit den 1990er Jahren die Arbeitskosten und darin speziell die den Arbeitgeber belastenden "Lohnnebenkosten" in den Rang der massiv politikorientierenden Vokabel auf. Im Vergleich dieser "Kosten" mit denen im europäischen oder gar außereuropäischen Ausland erschien der "Wirtschaftsstandort Deutschland" hoffnungslos benachteiligt und einer turmhoch überlegenen Preis- und Innovationskonkurrenz ausgesetzt.

Der tatsächliche Anteil der Lohnnebenkosten oder gar der Arbeitgeberbeiträge zur GKV an den Gesamtkosten (im verarbeitenden Gewerbe lag dieser Anteil Anfang dieses Jahrzehnts deutlich unterhalb von 2 %) und die schon oberflächlich irritierende gleichzeitige Performance der deutschen Volkswirtschaft als Dauer-"Exportweltmeister" nährten schon seit längerem Zweifel an der Stimmigkeit des "Lohnnebenkosten-Krisenszenario". Genaueres findet sich u.a. in früheren Beiträgen dieses Forums.

Auch die im Februar 2007 veröffentlichten neuesten Statistiken des Statistischen Bundesamtes über die "Lohnnebenkosten im europäischen Vergleich" und die "Arbeitskosten: Wo steht Deutschland in Europa?" relativieren die herrschenden Dramatisierungen erheblich.

Die wichtigsten Ergebnisse der international vergleichenden Berechnungen des Bundesamtes für die Lohnnebenkosten im Jahr 2004 lauten:

• Europäischer Vergleich: Deutschland beim Anteil der Lohnnebenkosten im Mittelfeld. In Deutschland zahlten die Arbeitgeber in der Privatwirtschaft auf 100 Euro Bruttolohn und -gehalt zusätzlich gut 33 Euro Lohnnebenkosten. In der Europäischen Union (EU27) lag der vergleichbare Wert - berechnet als gewichtetes Mittel - mit 36 Euro gut 3 Euro höher.
• Auch wenn man nur die per Gesetz vorgeschriebenen Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung betrachtet, bleibt die unterdurchschnittliche "Belastung" in Deutschland erhalten: Für Deutschland sind es 20 Euro auf je 100 Euro Bruttolohn und -gehalt. Zum Vergleich: Während im Durchschnitt der Europäischen Union rund 23 Euro gezahlt wurden, waren es in Belgien mit knapp 39 Euro deutlich mehr und in Dänemark gerade einmal 1 Euro. Auch im Vereinigten Königreich (8 Euro) und den Niederlanden (11 Euro) waren die gesetzlichen Arbeitgeberbeiträge vergleichsweise niedrig.
• Bei allen Vergleichen werden die unterschiedlichen Leistungsniveaus ausgeblendet, d.h. insbesondere das in vielen Ländern mit mehr aber natürlich auch niedrigeren Sozial-Lohnnebenkosten im Vergleich mit Deutschland geringere Niveau. Würde man eine Niveaustandardisierung durchführen, wäre die Position Deutschlands mit hoher Wahrscheinlichkeit noch deutlich besser.

Diese Ergebnissen stimmen im übrigen mit den neuesten Analysen der OECD überein, die unter der Überschrift "Taxing Wages: 2004-2005" u.v.a. die in Deutschland im Jahr 2005 OECD-weit eher unterdurchschnittliche Belastung der Arbeitgeber und eine gleichzeitig überdurchschnittliche direkte Belastung der Arbeitnehmer mit Beiträgen für die soziale Sicherung belegen.

Etwas anders sieht es bei den Rängen aus, wenn die Arbeitskosten verglichen werden. Dann liegt Deutschland im Jahr 2004

• "deutlich über dem EU-Durchschnitt", was konkret für die
• gesamte Privatwirtschaft, d.h. "alle Unternehmen mit zehn und mehr Arbeitnehmern im Produzie-renden Gewerbe und in den marktbestimmten Dienstleistungs-bereichen", "Rang 6" bedeutet: "Die Arbeitskosten in der Privatwirtschaft in Deutschland waren im Jahr 2004 im europäischen Vergleich überdurchschnittlich hoch. Während ein Arbeitgeber in Deutschland 28,17 Euro für eine geleistete Arbeitsstunde zahlte, betrug der Durchschnitts-wert - berechnet als gewichtetes Mittel - für die Europäische Union (EU27) 20,66 Euro. Deutschland lag damit hinter Dänemark (31,98 Euro), Schweden (31,15 Euro), Belgien (30,36 Euro), Luxemburg (30,09 Euro) und Frankreich (28,85 Euro) auf Rang sechs in der Europäischen Union. Die geringsten Arbeitskosten verzeichneten Bulgarien mit 1,62 Euro sowie Rumänien mit 1,90 Euro."
• Für das verarbeitende Gewerbe allein, liegt "Deutschland auf Rang 3 in Europa. Im besonders im internationalen Wettbewerb stehenden Verarbeitenden Gewerbe betrugen im Jahr 2004 die Kosten für eine geleistete Arbeitsstunde in Deutschland durchschnittlich 31,15 Euro. Damit lag Deutschland knapp 55 Prozent über dem Durchschnitt für die Europäische Union (20,15 Euro) und hatte hinter Belgien (32,36 Euro) und Schweden (32,11 Euro) die dritthöchsten Arbeitskosten in diesem Wirtschaftsbereich. Bulgarien (1,39 Euro) und Rumänien (1,60 Euro) verzeichneten wiederum die geringsten Arbeitskosten."
• Dies wird allerdings schon etwas durch eine Darstellung der Entwicklung der Arbeitskosten relativiert, die das Statistische Bundesamt bei der Vorstellung der "Arbeitskostenentwicklung im europäischen Vergleich im November 2005" in den Jahren 200-2004 gemacht hat: "Der Vergleich der Arbeitskostenentwicklung in Deutschland mit der Europäischen Union bzw. mit dem Euro-Währungsgebiet erlaubt eine bessere Einordnung der deutschen Ergebnisse: Die Veränderungsraten der Arbeitskosten in Deutschland liegen in den letzten Jahren deutlich unter den Werten für alle EUMitgliedstaaten bzw. das Euro-Währungsgebiet. Die aktuelle Veränderungsrate der Arbeitskosten für das 2. Quartal 2005 für Deutschland in Höhe von +0,8% ist die mit Abstand geringste Rate unter den vorhandenen europäischen Daten. Obwohl die deutschen Ergebnisse mit einem Gewicht von über einem Drittel in die Berechnungen für das Euro-Währungsgebiet einfließen, liegt die Veränderungsrate für dieses Gebiet mit +2,3% beinahe dreifach so hoch."

Könnte man sich also bei den letzten Daten und wenn man sich durch die "Exportweltmeister"-Stellung der selben deutschen Volkswirtschaft nicht beirren lässt, nicht doch auf den Gedanken kommen, die Wirkung der hohen Lohnnebenkosten und Löhne seien nachteilig und sich Gedanken um deren Absenkung machen?

Dass dies mindestens vorschnell wäre, hebt das Statistische Bundesamt in seiner Publikation mit dem Hinweis auf die Nichtberücksichtigung der Arbeitsproduktivität hervor. Ob Arbeitskosten "zu hoch" sind, entscheidet sich in der Tat daran, was oder wie viel die zu diesen Kosten beschäftigten Arbeitnehmer produzieren. Entscheidend sind also systematisch die so genannten Lohnstückkosten.

Der internationale Vergleich von Lohnstückkosten ist allerdings ein sehr schwieriges Feld, auf dem man schnell Opfer von problematischen Vergleichen und Indikatoren werden kann. Die "Bundeszentrale für politische Bildung" bringt die Dilemmata zweier Indikatoren auf einer ihrer Wissensseiten "Globalisierung - Lohnstückkosten" empirisch gut belegt auf folgenden Nenner: "Werden die Lohnstückkosten in der jeweiligen Währung dargestellt, kann nur die Entwicklung der Lohnstückkosten des jeweiligen Staates mit dem Basisjahr verglichen werden. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit hängt aber entscheidend von Wechselkursänderungen ab, die hier unbeachtet bleiben. Werden hingegen die Wechselkurse berücksichtigt und die Lohnstückkosten in einer einheitlichen Währung abgebildet, wird die Arbeitskosten- und Produktivitätsentwicklung nicht mehr adäquat dargestellt. Ein Beispiel: In Deutschland sind die Lohnstückkosten in nationaler Währung zwischen 2002 und 2005 um 8,7 Prozent gesunken, in den USA haben sie sich um lediglich 3,7 Prozent reduziert. Bei einem internationalen Vergleich der Lohnstückkosten auf US-Dollar Basis hat sich die Wettbewerbsposition Deutschlands gegenüber den USA trotz steigender Arbeitsproduktivität und Lohnzurückhaltung verschlechtert. Grund dafür ist die Aufwertung des Euro gegenüber dem US-Dollar im gleichen Zeitraum. Aus Sicht der USA haben sich die Lohnstückkosten in Deutschland zwischen 2002 und 2005 nicht reduziert, sondern sind um gut 20 Prozent gestiegen."

Sowohl die von der "Bundeszentrale" zitierten Statistiker des U.S. Departement of Labor als ein "Wochenbericht" (14/2004) des "Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW)" über "Lohnkosten im internationalen Vergleich" und schließlich ein Aufsatz aus dem "Institut der deutschen Wirtschaft (IW)" über"Produktivität und Lohnstückkosten im internationalen Vergleich" sind sich aber über die folgenden Trends weitgehend einig:

• Das Niveau der Lohnstückkosten liegt den Jahren 2004 und 2005 in nationalen Währungen gerechnet in Deutschland (Indexwert: 96) unter dem Niveau der Jahre 1992 oder 1995 (das jeweilige Jahr = 100 gesetzt) und unter dem Großbritanniens (Indexwert: 119,6) und Südkoreas (Indexwert: 113,3). Derselbe Indikator zeigt aber auch, dass Deutschland einen mehr oder weniger höheren Indexwert hat als die Mehrzahl vergleichbarer Länder. Am nächsten kommen mit 86,3 Punkten die USA und am weitesten entfernt liegt mit 71,9 Punkten Schweden.
• Seit Beginn der 2000er Jahre sinken die Lohnstückkosten in Deutschland kontinuierlich und dabei stärker als beispielsweise in den USA oder Frankreich.

Verwendet man einen dritten, durchaus möglichen und von der EU-Kommission ("Statistik der Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen der Europäischen Kommission aus dem Herbst 2005" angewendeten Indikator für die realen Lohnstückkosten, nämlich das Verhältnis von Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer zum nominalen BIP je Beschäftigten, ergibt das ein drittes Bild: Dieser Wert hat sich in Deutschland während der letzten 10 Jahre unterdurchschnittlich entwickelt: Wenn man die Lohnstückkosten von 1995 gleich 100 setzt, dann liegen sie in Deutschland gemessen mit diesem Indikator 2006 bei 95,1, in der Euro-Zone bei 95,5, in der EU der ursprünglichen 15 minus Luxemburg bei 96,8 und bei allen heutigen EU-Ländern bei 96,9.

Bei allen Lohnstückkostendebatten ist also zweierlei zu beachten:

• Die durchaus zulässige Wahl eines der genannten Indikatoren muss offen erfolgen und kann zu quantitativ unterschiedlichen Resultaten führen. Keiner Auswahl ist die Absicht der Datenmanipulation zu unterstellen.
• Zum zweiten aber ist generell zu beachten, dass auch empirisch durch die Exporterfolge belegt nicht der Preis allein über die internationale Konkurrenzfähigkeit der Produkte eines nationalen Produzenten entscheidet. Den Kosten - egal ob durch die Lohnstückkosten oder Währungseffekte hochgehalten - kommt nur ein relativer Stellenwert zu. Über den Kauf vergleichsweise teurer deutscher Produkte entscheidet also auch deren Originalität, Lieferpünktlichkeit, Kundenservice und Qualität mit.

Das hier Ausgeführte findet man mit zahlreichen weiteren Details und Hintergründen abgerundet auch noch auf den für alle wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen immer lesenswerten "Nachdenkseiten".

Bernard Braun, 13.2.2007


Was könnte man mit jährlich 200 Milliarden US-$ Ausgaben für den Irakkrieg alternativ anfangen? Antworten der New York Times!

Artikel 0533 Zuerst am 17.1.2007 in der USA-Ausgabe der New York Times und dann in der "New York Times Weekly"-Ausgabe vom 29.1.2007 (hier als Beilage der am gleichen Tag erschienenen "Süddeutschen Zeitung") beschäftigt sich einer der wirtschaftspolitischen Redakteure dieser altehrwürdigen liberalen Tageszeitung, David Leonhardt, unter der Überschrift "What U.S. could buy for $1.200.000.000.000" mit einem Thema, das früher allenfalls auf Flugblättern linker Vereinigungen zu finden war: Welche der vielen, penetrant für unbezahlbar erklärten sozialen, politischen und gesundheitlichen Verbesserungen, wären durch die Vermeidung der insbesondere durch den Irakkrieg hochgetriebenen Militär- bzw. Kriegsausgaben in den USA teilweise oder komplett finanzierbar?

Zuerst trägt der NYT-Redakteur die von verschiedenen Ökonomen (darunter z.B. dem Nobelpreisträger und Ex-Weltbank-Chefökonom Joseph Stieglitz) angestellten Berechnungen der direkten und indirekten Kosten des Irak-Krieges zusammen und kommt defensiv geschätzt zu der jährlichen Summe von 200 Milliarden US-Dollar. Die bisherigen 6 Jahre Krieg kosten dann die in der Überschrift genannten "$1,2 trillion". Die vom Petagon anfangs genannten Gesamtkosten des Irakkriegs von 50 Milliarden $ wirken dagegen wie die sprichwörtlichen "peanuts".

Unter der Überschrift "putting the Annual Cost of War in Perspective" stellt dann Leonhardt wiederum unter Nutzung zahlreicher Quellen zusammen, was man mit den jährlichen 200 Milliarden Dollar alles alternativ finanzieren könnte:

• Um eine allgemeine Gesundheitsversorgung für alle diejenigen finanzieren zu können, die zur Zeit keinen Schutz haben, müsste man 100 Milliarden US-$ abziehen,
• ein allgemeines, flächendeckendes Vorschulangebot (halbtags für Dreijährige und ganztags für Vierjährige) kostete 35 Milliarden US-$,
• um alle Sicherheitsempfehlungen umzusetzen, die es nach dem, 11.9. gab, wären 10 Milliarden US-$ aufzuwenden,
• das jährliche Budget für eine ordentliche Krebsforschung erforderte nochmals 6 Milliarden US-$ und
• mit jährlich 600 Millionen US-$ könnte man alle Kinder dieser Erde gegen mehrere schwere Infektionskrankheiten impfen.
• Mit den dann immer noch überschüssigen rund 50 Milliarden US-$ könnte man noch "locker" eine Verbesserung der Behandlung von Herzerkrankungen und Diabetes finanzieren.

Ein von der NYT zitierter eher konservativer Forscher bringt diese Konstellation auf folgenden Nenner: "This war has skewed (verzerrt, verdreht) our thinking about resources. In the context of war, $20 billion (Milliarden) is nothing." Man muss sich dieser Ressourcensituation nur erinnern, wenn davon geredet wird, dass "wir uns" eine der genannten oder der vielen anderen Aufgaben "nicht leisten können."

Für den deutschen Hausgebrauch: Wieviel kosten eigentlich die weltweiten Einsätze der Bundeswehr mittlerweile jährlich und insgesamt?

Auch wenn es bei weitem keine vergleichbar präzisen Analysen der aktuellen und perspektivischen Kosten für Deutschland gibt und man sie dann mit Sicherheit nicht in der FAZ oder SZ findet, bewegen sich die damit erheblich zu niedrigen Schätzungen der laufenden Kosten bei rd. 1,8 Milliarden Euro pro Jahr (davon ein Jahr Afghanistan-Krieg etwa 319 Millionen Euro). Wenn man ein Teil des Mehrjahresprogramm von 75 Mrd. Euro für die Modernisierung der Ausrüstung der Bundeswehr auf die Auslandseinsätze zurückführt, steigt der Betrag aber auch in Deutschland schnell in den Bereich zweistelliger Milliardenbeträge.

Minister Jung kündigte bereits an, die "verteidigungsinvestiven Ausgaben" (für Kriegsgerät und Kriegstransportgerät) erhöhten sich von 5,8 Milliarden Euro 2005 auf 7,2 Milliarden Euro 2009.
Bundeskanzlerin Merkel erklärte außerdem im September 2006 vor dem Bundeswehrverband prophylaktisch, "auf Dauer" sei "der bisherige Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt für die neuen Aufgaben der Bundeswehr zu gering".

Leider kostet der Aufsatz in der US-New York Times mindestens 4,95 $. Seinen Nachdruck in der "New York Times Weekly" erhält man leider überhaupt nicht im Internet, sondern allenfalls in guten Zeitungsarchiven.

Bernard Braun, 1.2.2007


Sozial und ökonomisch absurd und folgenreich: "Rente mit 67" bei wachsenden Berufseinstiegsproblemen

Artikel 0529 Während die Auseinandersetzung über den beabsichtigten Einstieg in die "Rente mit 67" hohe Wellen schlägt, redet über die gleichzeitigen Schattenseiten am anderen Ende der Erwerbstätigkeit, d.h. den immer späteren, unfreiwilligen und ungleich verteilten Einstieg ins Erwerbsleben und seinen sozialen Folgen, fast niemand.

Wie die Vorstellung einer Studie aus dem "Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)" der Bundesagentur für Arbeit im Heft Nr. 2/2007 des "IAB-Kurzbericht" zeigt, sind hiervon sehr viele junge Menschen betroffen: Demnach waren trotz einer leichten Entspannung im Jahr 2006 im Jahresdurchschnitt mehr als 500.000 Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 arbeitslos gemeldet.

Diese Entwicklung wird durch ein paar erwartete aber auch unerwartete qualitative Elemente geprägt:

• Die Zahl arbeitsloser Jugendlicher ohne berufliche Ausbildung stagniert seit 2000 auf hohem absoluten Niveau.
• Entgegen vielen Erwartungen und politischen Versprechungen stieg die Zahl arbeitsloser Jugendlicher mit beruflichem Abschluss zwischen 2000 und 2005 deutlich.
• Der Anteil von Altbewerbern an den Lehrstellenbewerbern eines Jahrgangs steigt seit Jahren, was zeigt, dass die Probleme beim Übergang in eine betriebliche Ausbildung zunehmen. Im Vermittlungsjahr 1997/1998 kamen noch 62 % der Bewerber unmittelbar aus einer allgemeinbildenden oder beruflichen Schule und 45 % ausschließlich aus allgemeinbildenden Schulen. Lediglich 36 Prozent aller bei der BA registrierten Bewerber haben unmittelbar im Vermittlungsjahr 2004/05 eine allgemeinbildende Schule verlassen. Auch wenn Abgänger aus beruflichen Schulen wie etwa Berufsgrundbildungsjahr oder Berufsvorbereitungsjahr hinzugenommen werden, sind nur etwa 54 Prozent aller Bewerber als Schulabgänger im weiteren Sinne zu bezeichnen. Ein beachtlicher Teil der Jugendlichen (46 %) hat bereits in früheren Jahren die Schule verlassen.
• Dies gilt zwar auch für besser qualifizierte Jugendliche, verstärkt aber für leistungsschwächere Bewerber die Zugangsprobleme zu einer beruflichen Ausbildung. Hier gibt es einen deutlichen Verdrängungswettbewerb.
• Bei Maßnahmen der aktiven Arbeitsförderung ist eine ähnliche Entwicklung zu beobachten: Jugendliche ohne beruflichen Abschluss kamen seltener zum Zug. Im Jahr 2005 konnten sie jedoch bei diesen Maßnahmen teilweise aufholen.

Zu den vielen unmittelbaren wie mittelbaren sozialen, mentalen und wirtschaftlichen unerwünschten Folgen des verzögerten Ausbildungs- und Beschäftigungsbeginns von jungen Menschen gehören nicht zuletzt seine bereits öfters angezeigten Auswirkungen auf die Finanzierungsbasis der Sozialversicherungsträger bzw. sein Beitrag zu ihrer Einnahmeschwäche.

Den 8 Seiten umfassenden IAB-Kurzbericht "Jugendliche. Die Schwächsten kamen seltener zum Zug. Beim Zugang zu beruflicher Ausbildung und in Beschäftigung sind bildungsschwache Jugendliche benachteiligt" erhalten Sie hier.

Bernard Braun, 31.1.2007


USA: Unternehmer und Ökonomen für die Existenz und Erhöhung eines Mindestlohns.

Artikel 0525 In Deutschland warnt z. B. der Präsident des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft (BVMW), Mario Ohoven in einer Presseerklärung am 29.1.2007 vor der Einführung allgemeiner Mindestlöhne. Seine Befürchtung: "Mindestlöhne würden die Arbeitskosten für einfache Tätigkeiten in vielen Branchen und Regionen erheblich verteuern. Die Folge wären Wegfall oder Verlagerung dieser Jobs ins Ausland" und nach Berechnungen des wissenschaftlichen Beirats des Bundeswirtschaftsministeriums würde ein gesetzlicher Mindeststundenlohn von 7,50 Euro rund 2,4 Millionen Arbeitsplätze vor allem im Niedriglohnbereich akut gefährden.

Ganz anders sieht die Debatte und Positionierung in Teilen der Unternehmerschaft und der Wissenschaft ausgerechnet der USA aus. Zur Erinnerung: In den USA gibt es bereits seit langem einen gesetzlichen Mindestlohn, der laufend erhöht wird, aber natürlich von Anbeginn bis zur letzten ERhöhung ebenfalls mit ähnlichen Argumenten "verteufelt" wurde.
In einem Artikel ("Slapping the invisible hand")vom 29.1. 2007 auf der Website der liberalen Initiative Tompaine.common.sense werden zahlreiche Unternehmerinitiativen für den Mindestlohn vorgestellt, in denen Klein- und Mittelunternehmer genauso aktiv sind wie Führungskräfte größerer Unternehmen. Auf der Unterschriftenliste "Business for a fair minimum wage" finden sich hunderte von Unternehmern, die sich gegen den zu niedrigen Minimallohn von US-$ 5,15 und die dafür verbreiteten Begründungen wenden sowie für eine Erhöhung auf $ 7,25 im Jahre 2009 plädieren.

Das Arbeitspapier 178 des ebenfalls liberalen "Economic Policy Institute (EPI)" mit dem Titel "MINIMUM WAGE TRENDS. Understanding past and contemporary research" bewertet die auch in den USA immer wieder in die Debatte geworfenen dramatischen Negativprognosen über die Wirkungen der Einführung und Erhöhung von Mindestlöhnen auf der Basis zahlreicher und mehrjähriger Studien folgendermaßen: "There is a growing view among economists that the minimum wage offers substantial benefits to low-wage workers without negative effect. Although there are still dissenters, the best recent research has shown that the job loss reported in earlier analyses does not, in fact, occur when the minimum wage is increased. There is little question that the overall impact of a minimum wage is positive."

Sicherlich können und dürfen auch hier viele Positionen und Konzepte aus den USA nicht umstandslos nach Deutschland importiert werden. Dass es in den USA eine breite Initiative für einen Mindestlohn und gegen das Schüren negativer Folgewirkungen gibt, sollte die deutschen Diskutanten trotzdem nachdenklich stimmen.

Eine PDF-Datei der 11-seitigen EPI-Studie von Liana Fox zum Thema "MINIMUM WAGE TRENDS. Understanding past and contemporary research" können Sie hier herunterladen.

Bernard Braun, 29.1.2007


Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt: Gesundheitsreformen und "Beitragssenkungen" oder: Die Wirklichkeitsferne von Prognosen

Artikel 0457 Egal was man von Bundeskanzlerin Merkel halten mag: Bei der nächtlichen Vorstellung der Grundzüge der neuesten Gesundheitsreform im Sommer 2006 hat sie anders als viele ihrer Vorgänger und deren GesundheitsministerInnen aber sicherlich zum Entsetzen ihrer Medienberater ausdrücklich auf die zuerst mal Anfang 2007 erfolgende Erhöhung (!!!) der Krankenkassenbeiträge um "0,5 Punkte" hingewiesen. Ob sie das machte, weil sie noch in Erinnerung hatte, wie kläglich und rasch Ulla Schmidt noch als rot-grüne Gesundheitsministerin mit ihrem Versprechen scheiterte, die Beiträge würden durch das am 1.1. 2004 in Kraft getretene Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG) spürbar sinken, wissen wir nicht. Wissen tun wir aber, wie realistisch ihre Annahme im Falle des "Wettbewerbsstärkungsgesetzes" war - und sogar ohne, dass es schon verabschiedet ist!

Ob und wie sich die zahlreichen verabschiedeten Gesundheitsreformgesetze in Deutschland seit 1989 auf die Ausgaben und Beitragssätze der Gesetzlichen Krankenversicherung ausgewirkt haben und wie oft die Wirklichkeit zumindest kurzzeitig dem Dauerversprechen der absenkenden Wirkung entsprach, untersuchte der Volkswirt Sauerland und veröffentlichte seine Ergebnisse als "Diskussionspapier Nr. 5 der (privaten) Wissenschaftlichen Hochschule Lahr" im August 2005.

Aus der u.a. ökonometrisch arbeitenden Studie seien drei Punkte hervorgehoben:

• Aus Sicht des Jahres 2007 wirkt die folgende Zusammenfassung der Ankündigungen der GMG-MacherInnen zur Beitragsentwicklung durch Sauerland geradezu hämisch: "Von 2005 bis 2007 sollen die Minderausgaben von 15,3 über 22,5 auf 23 Mrd. Euro steigen; letztgenannter Betrag soll dann auch in den Folgejahren eingespart werden. Beabsichtigt ist die Senkung der Beitragssätze in der GKV von 14,3 Prozent zu Beginn des Jahres 2004 auf 12,15 Prozent im Jahr 2007." Angesichts der gerade in der Gesundheitspolitik verbreiteten Prognosewut über Ausgaben, Alterslasten und Beiträge bis zum Jahre 2040 oder gar 2050 und der damit verknüpften Dramatisierung der Gegenwart, sollte die Tatsache, dass selbst Prognosen über einen Zeitraum von 3 oder 4 Jahren die Wirklichkeit beträchtlich verfehlen, nachdenklich stimmen und das Ende derartiger "Märchenstunden" einläuten.
• Das Fazit der Studie für über 40 Jahre Beitragssatzsenkungs-Gesundheitspolitik Deutschland lautet: "Analysiert man die Determinanten der realen pro Kopf-Ausgaben der GKV von 1960 bis 2003, so zeigt sich, dass von allen Reformgesetzen lediglich das Gesundheitsreformgesetz von 1989 einen signifikanten Einfluß auf die Ausgaben hatte. Der Effekt dieses Gesetzes führte jedoch weder zu einem dauerhaft niedrigeren Ausgabenwachstum noch zu stabilen Beitragssätzen. Beide Größen steigen weiterhin an, da andere Faktoren, wie etwa das Einkommen, die Ausgaben der GKV treiben. Schreibt man die in der Vergangenheit zu beobachtende Entwicklung fort, so zeigt sich, daß auch das GMG 2004 keine dauerhafte Senkung des Ausgabenwachstums und keine Stabilisierung der Beitragssätze sicherstellen kann. Die Frage der nachhaltigen Finanzierung der Gesundheitsausgaben in Deutschland bleibt damit auf der politischen Agenda."
• Einen sachlich korrekten aber schwachen Trost für die innerdeutsche Debatte hat die Studie ebenfalls parat: "Blickt man in die USA, so zeigen sich dort ähnliche Ergebnisse. Die dortige Einführung von Managed Care Organisationen führte in den 90er Jahren zu einer Senkung der Ausgaben für Gesundheit. Dann allerdings stiegen die Ausgaben nach diesem temporären Niveaueffekt mit nahezu unveränderten Wachstumsraten weiter an."
• Als Erklärungen für diese nahezu permanente Verfehlung der selbstgesetzten und lauthals propagierten Ziele weist Sauerland auf die Determinanten Altersstruktur, technischer Fortschritt in der Medizin und das Einkommen der Versicherten hin. Egal was man von den Wirkungen dieser Bedingungen im Einzelnen hält, handelt es sich dabei fast durchweg um variable und nachweisbar politisch beeinflussbare Faktoren. Dies ist besonders beim Einkommen unmittelbar nachvollziehbar.

Download der PDF-Datei (27 Seiten) der Studie Gesundheitsreformgesetze in Deutschland: Auswirkungen auf Ausgaben und Beitragssätze der Gesetzlichen Krankenversicherung

Bernard Braun, 7.1.2007


Unterschätzung des tatsächlichen Lehrstellendefizit heute und der Folgen für den Arbeitsmarkt und die Sozialsystem-Finanzierung morgen

Artikel 0439 Während manche "Härte" der "Modernisierung des Sozialstaats" durch Gesundheitsreformen oder die Hartz-Gesetzgebung mit der vorgeblichen Konzentration auf Forschung, Bildung und Ausbildung weichgezeichnet wird, werden aktuell für bestimmte Teilgruppen der an Ausbildungsplätzen interessierten Jugendliche die Weichen eher oder ebenfalls in Richtung Unterqualifikation und Niedriglohnbeschäftigung gestellt.
Dies belastet sowohl die Lebensqualität der betroffenen Jugendlichen als auch die gesellschaftliche Zukunft. Wenn die derzeitige Dynamik anhält, wird der Lehrstellen- in Kürze in einen Lehrlings- und einen Facharbeitermangel umschlagen und die schon heute wegen der vielen Teilzeitbeschäftigten und Niedriglohnempfängern existierende Einnahmenschwäche der Sozialversicherungsträger und ihre Folgen erheblich verschärfen.

Ein Anlass über die Gefahr einer solchen Spirale nachzudenken, ist die Analyse der jüngsten Entwicklungen am Markt der betrieblichen Ausbildungsplätze durch Mitarbeiter des ["Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)" der "Bundesagentur für Arbeit".

Der IAB-Kurzbericht Nr. 28 vom 27.12. 2006 fasst seine Ergebnisse so zusammen: "Neben den von der BA ausgewiesenen 49.500 nicht vermittelten Jugendlichen waren im Ausbildungsjahr 2006 sieben mal so viele Bewerber nicht in eine betriebliche Ausbildung eingemündet." Und: Die "nicht befriedigte Ausbildungsplatznachfrage (betrifft allein 2006) ... etwa 160.000 Jugendliche."
Neben den bisher immer öffentlich kommunizierten bundesweit 49.500 Lehrstellenbewerber, die Ende September 2006 noch nicht vermittelt waren und in etwa 6 % der Gesamtzahl der registrierten Bewerber entsprachen, erhielten also fast weitere 44 % der anfänglichen Bewerber tatsächlich keine Lehrstelle vermittelt. Diese Jugendlichen waren in eine schulische Nach- oder Weiterqualifizierung bzw. in eine berufsvorbereitende Maßnahme eingemündet, orientierten sich ohne Berufsausbildung am Arbeitsmarkt oder waren "anderweitig verblieben". Der unverhohlene Verdrängungswettbewerb um die zukunftssichernden Ausbildungsplätze geht immer deutlicher zu Ungunsten von Hauptschulabsolventen und ausländischen Bewerbern aus. Von letzteren wurde aktuell nur jeder Dritte auf eine Lehrstelle vermittelt.

Die PDF-Version des IAB-Kurzberichts "Lehrstellenmangel. Alternativen müssen Lücken schließen" kann hier heruntergeladen werden.

Bernard Braun, 2.1.2007


Niedriglohnsektor mit Armut verfestigt sich und trägt zur Einnahmeschwäche der GKV bei

Artikel 0377 Viele strukturelle Veränderungen des Arbeitskräfte- und Erwerbstätigenpotenzials in Deutschland innerhalb des letzten Jahrzehnts wirken sich u.a. auch auf die Einnahmesituation der Sozialversicherungsträger aus. Dies, weil die Beiträge zur Kranken-, Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung von der Höhe der Bruttoeinkommen abhängen.

Über einen bisher kaum reflektierten und empirisch nicht bekannten oder unterschätzten Effekt des hier bereits mehrfach betrachteten und politisch seit Jahren geförderten Niedriglohnsektors berichteten im Oktober 2006 Wissenschaftler des Gelsenkirchener "Instituts für Arbeit und Technik (IAT)". Eine Auswertung des von der Bundesagentur für Arbeit und seinem IAB-Institut getragenen und für wissenschaftliche Auswertungen zur Verfügung gestellten so genannten Beschäftigtenpanels zeigte:

• Wer im Niedriglohnsektor arbeitet, hat es immer schwerer in besser bezahlte Jobs aufzusteigen.
• Der Übergang vom Rand des Beschäftigungssystems in den Kernbereich gestaltet sich immer schwieriger.
• Vor allem für gering Qualifizierte und Ältere stehen die Chancen sich nach oben zu arbeiten schlecht. Damit erweist sich eine mit der "Hartz-Gesetzgebung" verknüpfte Hoffnung, es handle sich für die davon Betroffenen um eine vorübergehende Startphase, aus der sie nach kurzer Zeit herauskämen, als Illusion und damit z. B. die Auswirkungen auf die Einnahmen der GKV als dauerhaft.

Zwischen den Jahren 1998 und 2003 gelang insgesamt 34,42 Prozent der 1998 und 2003 vollzeitbeschäftigten (ohne Azubis) Niedriglohnbeschäftigten der Aufstieg in bessere Jobs - bei den Männern schaffte es jeder zweite (50,39 Prozent), aber nur jede vierte Frau (27,12 Prozent). Auch Berufsausbildung und weiterführende Qualifizierungen verbessern die Aufstiegsmobilität. Wer gut qualifiziert mit Universitäts- oder Fachhochschulabschluss zu Billiglöhnen arbeitet, schafft in einem Zeitraum von fünf Jahren immerhin zu 62,25 Prozent den Aufstieg. Deutlich wirkt die Alterskomponente: Während bei den unter 25-Jährigen der Anteil der Aufsteiger aus dem Niedriglohnbereich über 50 Prozent liegt, sind es bei den über 55-Jährigen nur noch 12,13 Prozent.

Die Gründe für die sinkende Aufwärtsmobilität liegen u.a. im "Outsourcing", der Ausgliederung schlecht bezahlter Tätigkeiten in besondere Unternehmen oder auch Leiharbeit, denn innerbetrieblicher Aufstieg wird damit abgeschnitten. Kombilohnmodelle - auch die Kombination von Teilzeitarbeit und ALG II - und Minijobs mit weniger Abgaben halten schlecht Bezahlte in diesen Tätigkeiten fest. "Die Politik hat durch die Deregulierung von Leiharbeit und Minijobs und das Kombilohnmodell ALG II zur abnehmenden Aufstiegsmobilität beigetragen", kritisiert Gerhard Bosch, einer der IAT-Wissenschaftler. "Abnehmende Aufstiegsmobilität bedeutet aber Verfestigung des Niedriglohnsektors mit Armut."

Hier finden Sie die Presseerklärung des Gelsenkirchener Instituts für Arbeit und Technik (IAT) vom 24. Oktober 2006

Bernard Braun, 9.12.2006


Mini- und Midi-Jobs: 1,5 Millionen Mehrfachbeschäftigte 2004 ohne oder mit wenig Krankenkassenbeiträgen

Artikel 0374 Eine der politisch gewollten und mit dem so genannten "Hartz II"-Gesetz geschaffenen Verknappungen von Sozialversicherungsbeiträgen beruht auf den verschiedenen Möglichkeiten der Mehrfachbeschäftigung mittels Mini- und Midi-Jobs. Dabei bleiben seit 2003 Zusatzeinkünfte von 400 oder zwischen 400 und 800 Euro frei von Steuern und für Arbeitnehmer auch frei von Sozialbeiträgen, sind also brutto-gleich-netto-Einkünfte.

Eine jetzt veröffentlichte Studie des "Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)" der Bundesagentur für Arbeit zeigt, dass unter diesen Bedingungen eine nicht so hoch erwartete Anzahl von Arbeitnehmern verschiedene Formen der Mehrfachbeschäftigung ausübt oder ausüben muss. Mitte 2004 gingen rund 1,5 Millionen Personen mehr als einer Beschäftigung nach. Das sind 4,7 % aller 26,5 Millionen sozialversicherungspflichtig und aller 4,8 Millionen ausschließlich geringfügig Beschäftigten:

• 82 % der Mehrfachbeschäftigten (1,193 Millionen Personen) übten neben einer sozialversicherungspflichtigen Hauptbeschäftigung noch eine geringfügige Nebentätigkeit aus,
• 11 % (165.000) Personen) kombinierten mehrere Mini-Jobs und
• 7 % hatten mehrere sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Ihre Anzahl lag Mitte 2004 um 21 % höher als im Ausgangsjahr dieser Möglichkeiten, dem Jahr 2000.

Auch wenn es für die beitragsfreien Mini-Jobber Leistungseinschränkungen bei Kranken- und Pflegeversicherung gibt und sie keine Ansprüche bei der Arbeitslosen- und Rentenversicherung erwerben, bedeuten diese Art von Beschäftigungsverhältnissen eine weitere Belastung der Einnahmenseite in der GKV bei teilweise real laufenden Ausgaben. Ohne dies den Betroffenen anzulasten, tragen auch die Midi-Jobs, wenn sie Mini-Jobs kumulieren und dann nur reduzierte Sozialabgaben gezahlt werden müssen, zu dieser speziellen Art von Schwächung der GKV-Einnahmen bei.

Selbstverständlich verdienen diese fast 2 Millionen Bundesbürger (es gibt zusätzlich evtl. weitere nicht sozialversicherungspflichtige Mehrfachbeschäftigte aus der Beamtenschaft oder aus den Reihen der Selbständigen) auch unter arbeitspolitischen und arbeitswissenschaftlichen Gesichtspunkten erhöhte Aufmerksamkeit.

Hier ist der IAB-Kurzbericht vom 6.12. 2006, in dem die Studie "Mehrfachbeschäftigung: Ein Job ist nicht genug" vorgestellt wird herunterzuladen.

Bernard Braun, 7.12.2006


Fakten zum Umfang und den Auswirkungen von Produktionsverlagerungen ins Ausland: Sind die Lohnnebenkosten "schuld" und woran?

Artikel 0361 Eines der scheinbar evidenten und entwaffnenden Argumente mancher gesundheits- und sozialpolitischen Debatte ist die u.a. durch die Lohnnebenkosten motivierte Auslagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland und die damit angeblich zwangsläufig entstehenden Wohlfahrtsverluste.

Dass dieser Zusammenhang nicht zwangsläufig ist, zum Teil auch qualitativ anders aussieht als die dramatische Inszenierung glauben machen will und damit auch ein Teil der Dramatik nicht berechtigt ist, zeigt eine Untersuchung der "Deutschen Bundesbank", die in der Septemberausgabe 2006 ihres "Monatsberichts" veröffentlicht wurde.
Unter dem sperrigen Titel "Die deutschen Direktinvestitionsbeziehungen mit dem Ausland: neuere Entwicklungstendenzen und makroökonomische Auswirkungen" kommen die Volkswirte der Bank zu einigen interessanten Feststellungen:

• Einerseits: "Seit Beginn der neunziger Jahre hat die Kapitalverflechtung der deutschen Wirtschaft stark zugenommen" womit sich "die Frage nach den Auswirkungen...auf das Inland" stellt.
• Andererseits: "Die...empirischen Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass die Direktinvestitionen heimischer Unternehmen im Ausland langfristig gesehen nicht zulasten der Investitionen in Deutschland gehen. Auch bedeutet der Aufbau von Beschäftigung bei Niederlassungen im Ausland - gesamtwirtschaftlich betrachtet - keinen Verlust an Arbeitsplätzen hierzulande."

Diese ausgewogene und entdramatisierende Bewertung bedeutet selbstverständlich nicht, dass es einzelbetrieblich, in bestimmten Regionen oder Branchen und vor allem kurzfristig nicht wesentlich härtere Auswirkungen von Produktionsverlagerungen geben kann. Diese Untersuchungen zeigen aber zusammen mit den seriösen empirischen Analysen des tatsächlichen Geschehens bei Produktionsverlagerungen und -rückverlagerungen, wie vorsichtig und differenziert man bei gesamtgesellschaftlichen Reaktionen auf solche Entwicklungen vorgehen muss.
Studien seriöser wissenschaftlicher Institute wie vor allem die Analysen des Fraunhofer Instituts Systemtechnik und Innovationsforschung (ISI) u.a. für das Bundesministerium für Finanzen über "Produktionsverlagerungen ins Ausland und Rückverlagerungen" aus dem Jahre 2004 (Kinkel/Lay/Maloca) zeigen nämlich mehrerlei:

• Es gibt eine gewaltige Kluft zwischen Abwanderungsankündigungen und tatsächlicher Verlagerung von Arbeitsstätten ins Ausland.
• Zwischen 2001 und 2003 (dem letzten untersuchten Jahr) hat ein Viertel aller Betriebe aus den Kernbranchen des Verarbeitenden Gewerbes Teile der Produktion ins Ausland verlagert. Dieser Wert bewegt sich seit 1995 zwischen 17 und 27 %.
• Andererseits gibt es auch Betriebe, die ihren Standort wieder komplett oder teilweise wegen der im Ausland auftretenden Qualitäts- oder Absatzprobleme nach Deutschland zurückverlagern. Dabei handelt es sich um rund 4 % aller Betriebe dieses Gewerbes.
• Auch wenn bei 85 % der Verlagerungen die "Kosten der Produktionsfaktoren" ein wichtiges Motiv waren, lag ihnen in diesem Jahrzehnt zunehmend ein "Mix verschiedener Gründe" (u.a. Markterschließungsgründe) zugrunde.

Hier erhalten Sie als PDF-Datei die 70-seitige Langfassung des ISI-Forschungsberichts "Produktionsverlagerungen ins Ausland und Rückverlagerungen"

Bernard Braun, 3.12.2006


Kostenexplosion und demographischer Kollaps des Gesundheitssystems: Fragwürdig und differenzierungsbedürftig

Artikel 0318 Auch wenn der frühere Gesundheitsminister Seehofer sie bereits 1999 gutbayrisch als einen "Schmarrn" bezeichnete, ist sie je nach Bedarf auch heute noch quicklebendig: die "Kostenexplosion". Genauso wie die "Kostenexplosion" gewalttätig und unbremsbar erscheint, wirkt auch der "demografische Kollaps" als eine Naturgewalt, unbezweifelbar und unbeeinflussbar durch Politik. Dass es sich dabei zunächst um Annahmen über die Ausgaben-, Einnahmen- und Leistungsseite des Gesundheitssystems handelt, die überprüft werden müssen und können, verschwindet häufig in dem von diesen Metaphern erzeugten geistigen Nebel.

In dem im aktuellen 47. Band des "Jahrbuchs für christliche Sozialwissenschaft" (Aschendorff Verlag Münster) auf den Seiten 77 bis 102 veröffentlichten Beitrag von Rainer Müller vom Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen ("Kostenexplosion und demographischer Kollaps. Empirische und systematische sozialwissenschaftliche Präzisierungen zu einigen verbreiteten Annahmen") werden solche Annahmen auf ihre Stichhaltigkeit überprüft, beispielsweise unter dem Gesichtspunkt, welche empirische Faktenlage tatsächlich hinter der als 'Kostenexplosion' diskutierten Ausgabenentwicklung steht. Wie entwickelte sich beispielsweise der Anteil, den Arbeitgeber, Arbeitnehmer sowie schließlich die Kranken selbst an den Kosten tragen? Zugleich werden Zusammenhänge problematisiert, die in den Diskussionen häufig unreflektiert unterstellt werden: In welchem Zusammenhang steht etwa die Ausgabenentwicklung mit der demographischen Entwicklung? Einige der Annahmen erweisen sich als fragwürdig, andere als der Differenzierung bedürftig. Insgesamt verweist der Beitrag auf erhebliche Spielräume für die politische und soziale Gestaltung, mithin darauf, dass die Gesundheitsversorgung nicht als Ensemble von Sachzwängen zu interpretieren ist, sondern als politische Herausforderung.

Hier finden Sie die PDF-Datei des Aufsatzmanuskripts.

Bernard Braun, 16.11.2006


Der homo oeconomicus im Gesundheitswesen

Artikel 0285 Die deutschen Lehrbücher für Gesundheitsökonomie basieren mehr oder weniger auf dem Menschenbild des homo oeconomicus. Dieses grundlegende Paradigma der neoklassischen Ökonomie ist entweder trivial in dem Sinn, dass die Menschen immer versuchen, das Beste aus einer jeden Situation zu machen; oder sie hat nur sehr begrenzte empirische Evidenz, wie man anhand Mark Paulys "moral hazard"-Postulat zeigen kann. Es besagt, dass die öffentliche Finanzierung von Gesundheitsdiensten falsche Anreize setzt, weil die Nutzer versuchen würden, mehr Leistungen als erforderlich zu bekommen. Diese systematische Überkonsumtion medizinischer Leistungen könne nur durch Zuzahlungen etc. beschränkt werden. Eigentlich unterstellt Pauly, dass medizinische Behandlungen ein reines Vergnügen sind, von dem man gar nicht genug haben kann - eine äußerst unrealistische Annahme. Zuzahlungen haben nur dann eine rationale Wirkung auf die Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen, wenn die Patienten eine wirkliche Wahl haben, etwa im Festbetragssystem für Arzneimittel.

Aber wenn es so wenige Belege für die Rationalität von Zuzahlungen gibt, weshalb war dann dieses Instrument in jedem Kostendämpfungsgesetz der letzten 30 Jahre in Deutschland enthalten? Die Gesundheits- und Sozialpolitik wird in Deutschland von einer hoch ideologischen Debatte über Lohnkosten und deren Wirkung auf Deutschlands Stellung im globalen Wettbewerb dominiert. Krankenkassenbeiträge werden als Lohnnebenkosten definiert und für die hohe Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht. Leistungskürzungen in der Gesundheitsversorgung sollen ein Impuls für wirtschaftliches Wachstum und Beschäftigung sein. Es gibt keine belastbaren Belege für diese Behauptung, aber sie beherrscht die veröffentlichte Meinung.

Ein anderes Paradigma der neoklassischen Ökonomie ist die umfassende Nützlichkeit des Wettbewerbs. Jedoch gibt es zwei verschiedenen Denkschulen, deren Protagonisten Walter Eucken und F. A. von Hayek sind. Während Eucken der freien Marktwirtschaft eine suizidale Tendenz zum Monopolismus unterstellt und deshalb für einen regulierten Wettbewerb plädiert, nimmt Hayek eine dogmatische Haltung zum freien Markt ein und weist jede politische Einflussnahme ab. Diese unterschiedlichen Grundsätze bestimmen auch heute noch die deutsche Debatte über den Wettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung. Es ist evident, dass ein solches System nur mit einem Risikostrukturausgleich vernünftig funktionieren kann. Andernfalls entstünde ein total verzerrter Wettbewerb zu Lasten jener Krankenkassen, die chronisch Kranke und sozial Schwache versichern.

Die 36-seitige Studie des Ökonomen Hartmut Reiners stellt beide Paradigmen dar und kritisiert sie aus gesundheitswissenschaftlicher und aus ökonomietheoretischer Perspektive. Die Ergebnisse liegen als Forschungspapier des WZB vor.

Hier finden Sie die PDF-Datei des Forschungspapers.

Bernard Braun, 5.11.2006


Der unerschütterliche Glaube an Kostendämpfung durch Zuzahlungen

Artikel 0249 Kaum ein Monat vergeht, ohne dass aus mehr oder weniger berufenem Munde der Ruf nach höheren Zuzahlungen im Krankheitsfall erklingt. Im Zuge der Fußballweltmeisterschaft und der darin geschickt verborgenen Idee vom Gesundheitsfonds war es kurzzeitig ruhig geworden um die Frage von mehr Geldbeutel bestimmter Eigenverantwortlichkeit. Doch nach der Sommerpause trat zuerst der Baden-Württembergische Ministerpräsident Oettinger mit seiner Forderung nach anteiligen Selbstbeteiligungen auch für kostspielige Behandlungen in die Bütt . Andere übliche Verdächtige um Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt ließen nicht auf sich warten und stießen in dasselbe Horn.

Damit zeigen sie vor allem eins: Von der Sache verstehen sie nichts. Entgegen der auch von unzähligen "WirtschaftsexpertInnen" ununterbrochen wiederholten Wunschvorstellung sind Zuzahlungen im Krankheitsfall nicht nur unsozial, sondern können die Kassen teuer zu stehen kommen. Ein Kommentar in der tageszeitung vom 28.8.2006 zeigt einige Risse des unverwüstlich erscheinenden Mythos Kostendämpfung durch Zuzahlungen auf.

Hier finden Sie den taz-Kommentar Der wahre Preis der Zuzahlungen

Jens Holst, 28.8.2006


Soziale Krankenversicherung in Entwicklungsländern

Artikel 0215 Von der Öffentlichkeit kaum beachtet fand am 5.-7. Dezember 2005 in Berlin eine internationale Konferenz zum Thema Soziale Krankenversicherung in Entwicklungsländern statt. Mit dieser hochkarätig besetzten Veranstaltung wollten die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Internationale Arbeitsbehörde (ILO) und die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) das Thema der sozialen Gesundheitsfinanzierung stärker in die entwicklungspolitische Debatte einbringen. Tatsächlich wirken sich die globalen Ungleichheiten beim Zugang zur Gesundheitsversorgung besonders drastisch aus. 1,3 Milliarden Menschen sind Krankheit ohne jede Chance auf ärztliche Hilfe ausgeliefert, und über 100 Millionen Familien verarmen Jahr für Jahr aufgrund der hohen Kosten, mit denen in vielen Ländern medizinische Versorgung verbunden ist. Denn gerade in armen Ländern müssen die Menschen einen großen Teil ihrer Gesundheitsausgaben selber tragen. Direktzahlungen für medizinische Versorgung ist aber die ungerechteste und regressivste Form der Gesundheitsfinanzierung und stellt viele Menschen in Entwicklungsländern vor unüberwindliche Hürden.
Krankenversicherungen können dabei helfen, den Teufelskreis aus Krankheit und Armut zu durchbrechen. Obwohl viel zu oft einseitig als Kostenfaktor wahrgenommen, tragen soziale Sicherungssysteme auch zu Wachstum und Entwicklung bei. Diese Zusammenhänge finden zwar zunehmend in der internationalen Debatte Berücksichtigung, doch mächtige Interessen setzen weiterhin auf wirtschaftliberale Ideen und wittern hinter sozialer Sicherung allzu oft einen Weg zur Verstaatlichung. WHO, ILO und GTZ wollen gemeinsam mit anderen Partnern auf der Grundlage der europäischen Werte und Erfahrungen mit sozialen Sicherungssystemen den Aufbau universeller und solidarischer Gesundheitssysteme in Entwicklungs- und Schwellenländern fördern. Die Konferenz Anfang Dezember in Berlin verlieh diesem Anliegen spürbaren Auftrieb.
Die Konferenzankündigung fasst konzeptionelle und programmatische Grundlagen einer verstärkten Förderung sozialer Sicherungssysteme in Entwicklungsländern zusammen.

Ausführliches Hintergrundmaterial und etliche Beiträge finden Sie auf der Konferenz-Homepage International Conference on Social Health Insurance in Developing Countries

Jens Holst, 19.12.2005


Mythen und Fakten zu den Lohnnebenkosten

Artikel 0153 Wer sich eine Gesundheitspolitik wünscht, die sich primär und nachhaltig mit Gesundheit, also mit Prävention, Krankenbehandlung oder Rehabilitation beschäftigt und nicht vorrangig mit der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit des "Wirtschaftsstandortes Deutschland" durch Senkung der angeblich von Krankenkassenbeiträgen in die Höhe getriebenen Lohnnebenkosten, braucht eine Vielfalt von Fakten für die Debatten mit einer Allparteienkoalition von "Lohnnebenkostensenkern". Er muss z.B. wissen, wie niedrig der Anteil der Krankenkassenbeiträge an allen Lohnnebenkosten tatsächlich ist, welche mehrheitlich anderen und oft von den Arbeitgebern ausgehandelten Lohnnebenkosten es noch gibt und welches Gewicht diese haben und er muss schließlich wissen, welches geringe Gewicht Lohnnebenkosten in den Gesamtkosten der Unternehmen und damit für die tatsächliche preisliche Wettbewerbsfähigkeit vieler Unternehmen haben.

Diese Fakten finden sich in kurzer und prägnanter Art in einem von dem im brandenburgischen Gesundheitsministerium arbeitenden Diplom-Volkswirt Hartmut Reiners verfassten Aufsatz für die Novemberausgabe der Zeitschrift "Ersatzkasse" des Verbandes der Angestelltenkrankenkassen.

Nach seiner Lektüre versteht man besser, warum es mittlerweile auch der frühere Arbeitsminister Walter Riester in einem Interview (TAZ, 31. 8. 2005) als "seinen größten Fehler" bezeichnete, die Verengung der Wirtschafts- und Sozialpolitik auf die Senkung der Lohnnebenkosten mitgetragen zu haben. Er "habe sie am Anfang sogar geglaubt, weil doch eine Millionen Fliegen nicht irren können." Die Lektüre hilft, so der bissige Schlusssatz Reiners, auch ganz normalen Krankenversicherten dabei "nicht alles für bare Münze nehmen (zu müssen), was Ideologieproduzenten und habilitierte Mietmäuler in Leitartikeln und Talkshows als Gewissheit verkaufen."

Hier findet sich die PDF-Datei des Aufsatzes Lohnnebenkosten - Mythen und Fakten

Bernard Braun, 13.10.2005


Phantom Lohnnebenkosten: Kein Zusammenhang zwischen Gesundheitsausgaben der Arbeitgeber und Beschäftigungsentwicklung

Artikel 0105 Trotz der anhaltenden politischen Debatte durch eine Reduzierung der GKV-Beiträge die Lohnnebenkosten zu senken und damit spürbar zur Sicherung des angeblich dadurch gefährdeten Wirtschaftsstandortes beizutragen, gibt es für die meisten der Annahmen dieser Politik keine oder wenig empirische Evidenz. Auf 229 Seiten kommt das 2004 vom Berliner Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) gemeinsam mit dem Augsburger BASYS-Institut im Auftrag der Techniker Krankenkasse (TK) erstellte Gutachten "Belastung der Arbeitgeber in Deutschland durch gesundheitssystembedingte Kosten im internationalen Vergleich" u.a. zu folgenden Ergebnissen:

• Es gibt keinen Zusammenhang zwischen der Belastung der Arbeitgeber durch Gesundheitsausgaben und der Entwicklung der Beschäftigung - weder in Deutschland noch im internationalen Vergleich.

• Nur rund zehn Prozent der Arbeitskosten gehen auf Gesundheitsausgaben zurück. Gemessen an den Gesamtkosten der Unternehmen, also dem Produktionswert, liegt der Anteil sogar nur bei rund drei Prozent. Außerdem haben zwischen 1995 und 2000 alle Kostengrößen stärker zugenommen als die gesundheitsbedingten Belastungen der Arbeitgeber.

• International liegt Deutschland bei der gesundheitsbedingten Arbeitgeberbelastung im Mittelfeld. Betrachtet man den Anteil am Produktionswert, so liegt Deutschland bei 3,2 Prozent - gleichauf mit den USA. Polen (2,1 Prozent), Großbritannien (1,8 Prozent) und die Schweiz (1,9 Prozent) haben geringere Anteile; Frankreich (3,6 Prozent) und die Niederlande (3,7 Prozent) liegen höher. In keinem der untersuchten Länder konnte für den Zeitraum von 1995 bis 2000 ein empirischer Zusammenhang zwischen den Gesundheitskosten der Arbeitgeber und der Entwicklung der Beschäftigung gezeigt werden.

• Die Beitragseffekte der Gesundheitsreform von 2004 bezifferte das Gutachten für das Jahr 2007 und die Arbeitgeber auf insgesamt 8 Mrd. Euro. Ein VW Golf würde um 28,88 Euro billiger, eine Versicherungspolice (200 Euro) um 37 Cent.

Hier finden Sie die PDF-Datei: Gutachten "Belastung der Arbeitgeber in Deutschland durch gesundheitssystembedingte Kosten im internationalen Vergleich"

Bernard Braun, 19.8.2005


Moderate Entwicklung der künftigen Krankenhauskosten trotz Alterung

Artikel 0072 Zum gesundheitspolitischen Standardrepertoire in Deutschland gehört die folgende Argumentationskette: Immer mehr Menschen, die älter und zugleich kränker werden und deren gesundheitliche Versorgung immer schwerer zu finanzieren ist! Ob dies für die künftige Krankenhausbehandlung zutrifft, haben H. Brockmann und J. Gampe in einer im März 2005 als Arbeitspapier des Max Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock veröffentlichten Studie über "The cost of population aging: forecasting future hospital expenses in Germany" genauer untersucht.
Mittels komplexer Modellberechnungen kommen sie zu drei interessanten Ergebnissen:

• Zunächst werden die Gesamtausgaben für die stationäre Versorgung bis zum Versterben der deutschen Baby-Boomer-Generation bis zum Zeitraum 2040 bis 2050 ansteigen.
• Zweitens wird der Anstieg der Ausgaben vergleichsweise moderat verlaufen, weil die durchschnittlichen individuellen Kosten wegen der künftig verbesserten Gesundheit abnehmen und der medizinische Fortschritt je nach erreichter Etappe in einem Zirkel der technologischen Entwicklung sowohl treibend aber zunehmend auch bremsend Einfluss auf die Krankenhausausgaben nehmen wird.
• Zuletzt variiert die Zunahme der Kosten je nach Geschlecht und Krankheit signifikant.

Auch wenn die Autorinnen selbst auf manche Unsicherheit solcher Prognosen hinweisen, zeigen sie doch, dass die massiv dramatisierende öffentliche Debatte über die Kosteneffekte der demografischen Entwicklung eine Menge empirische Evidenz gegen sich stehen hat.

Hier finden Sie die PDF-Datei der Prognose-Studie über die Kosten der Alterung

Bernard Braun, 8.8.2005