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25 Jahre Wettbewerb in der GKV aus Sicht des Bundesversicherungsamts: Weder Silber und gleich gar nicht Gold.

Artikel 2620 "Die wettbewerbliche Ausgestaltung des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung hat sich nach Einschätzung aller Experten im Gesundheitswesen im Wesentlichen bewährt", so steht es im Vorwort zu dem im April 2018 veröffentlichten "Sonderbericht Wettbewerb" des Bundesversicherungsamts (BVA). Doch, so fährt der Verfasser dieses Vorworts, der BVA-Präsident Frank Plate, vier Zeilen danach fort, "es ist auch nicht alles Gold, was vermeintlich glänzt". Auch Experten scheinen Menschen zu sein, die sich irren können.

Und welche wesentlichen Voraussetzungen und Effekte des mit der Kassenwahlfreiheit im Gesundheitsstrukturgesetz von 1992 gestarteten Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung bis zum heutigen Tag nicht oder nicht richtig funktionieren, findet sich in den unterschiedlichsten Quellen. Zum einen liefert dies der Blick in die auch mit der letzten, vierten Korrektur vorhandener Dysfunktionalitäten durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz aus dem Jahr 2007 (Kerninhalt: Einführung eines Gesundheitsfonds und des so genannten morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (RSA) ab 2009) noch längst nicht beendeten Geschichte des Risikostrukturausgleichs (siehe dazu u.a. die Forderungen des Betriebskrankenkassenverbandes und einiger anderer Kassen). Und zum anderen ermöglicht dies auch der aktuelle BVA-Berichts für Nichtexperten und diejenigen der "alle Experten", die bereit sind soziale Tatsachen jenseits des Glanzes "kundenfreundlicher Empfangszonen" mit Online-Informationen an Stelle von "Kassenschaltern" mit Hängeregistraturen zu erkennen.

Wie bedeutend ein funktionierender Risikostrukturausgleich für die Bewertung des gesamten Wettbewerbssystems in der GKV ist, hat das Bundesverfassungsgericht in seinem 77-seitigen Grundsatzurteil vom 18. Juli 2005 zum RSA - 2 BvF 2/01 - Rn. (1-287), so beschrieben:

"Schon die Entstehungsgeschichte des Gesundheitsstrukturgesetzes macht deutlich, dass der Gesetzgeber ein eigenständiges, sich von der gewerblichen Wirtschaft unterscheidendes Wettbewerbsmodell für die gesetzliche Krankenversicherung entworfen hat. Gedacht war an eine Wettbewerbsordnung auf der Basis des Solidarprinzips. Der Wettbewerb sollte erst dort beginnen, wo das Solidarprinzip endet. Solidaritätswidriger Risikoselektionswettbewerb, also Wettbewerb um die guten Risiken, war nicht erwünscht (vgl. BTDrucks 12/3608, S. 68 f.)." (Seite 48 des Urteils)
Und:
"Seine (des Gesetzgebers - der Verfasser) Prognose, Kassenwahlfreiheit und Aufnahmezwang seien ohne Flankierung durch einen Risikostrukturausgleich generell nicht hinreichend geeignet, solidaritätswidrige Risikoselektion zu verhindern, ist nicht fehlsam. Zwar kann der Aufnahmezwang die unmittelbare aktive Risikoselektion durch die Krankenkasse unterbinden; Anreize zu mittelbarer aktiver Risikoselektion durch die Kasse sowie passive Risikoselektion, also Selbstselektion der Versicherten, können aber durch einen Risikostrukturausgleich deutlich besser abgemildert werden. Ohne einen solchen Ausgleich gibt es starke Anreize für eine Krankenkasse, ihre finanzielle Situation durch Gewinnung guter Risiken und Abwehr schlechter Risiken zu verbessern. Trotz Aufnahmezwangs bestehen vielfältige Möglichkeiten für mittelbare Risikoselektion durch Werbe- und Marketingmaßnahmen der Krankenkassen. Ebenso bestehen starke Anreize für die Selbstselektion der guten Risiken, die durch den Aufnahmezwang nur wenig abgemildert werden. Es sind eben die guten Risiken, die die stärkste finanzielle Motivation haben, sich in kostengünstigen Teil-Versicherungskollektiven zusammenzufinden." (S. 64)

Aber nicht nur das Fehlen eines halbwegs wirkungsvollen und nebenwirkungsfreien RSA-Gesetzes weckt Zweifel an der eingangs zitierten Expertenbewertung, der Wettbewerb habe sich bewährt, was ja bedeuten sollte, dass die Vorteile und der Nutzen Nachteile überwiegen.

Dafür braucht man noch nicht einmal die dazu bereits seit Jahren veröffentlichten wettbewerbskritischen Studien durchzuarbeiten (dort nachzuschauen ist aber trotzdem bereichernd), es reicht der Blick in den Sonderbericht des BVA.

Dort finden sich u.a. folgende, wegen ihrer Prägnanz etwas ausführlicher zitierten Feststellungen aus der Prüfpraxis des BVA und anderer dazu beauftragten Einrichtungen auf Länderebene und aus Interviews mit GKV-Akteuren:

• "Die Krankenkassen nutzen ihre Gestaltungsspielräume für zusätzliche Leistungen aus Wettbewerbsgründen rege. Insoweit ist das gesetzgeberische Ziel der Eröffnung von Gestaltungsspielräumen der Krankenkassen voll erreicht. Dabei spielt die Ausrichtung der zusätzlichen Leistungen auf bestimmte Personengruppen aus Marketingaspekten und zur gezielten Anwerbung neuer Mitglieder eine große Rolle….Auf der anderen Seite birgt die Eröffnung der zusätzlichen Gestaltungsmöglichkeiten für die Kassen vor dem Hintergrund des Wettbewerbsdrucks auch Risiken. Denn es ist zu vermuten, dass Wirksamkeit, Qualitätssicherung und Wirtschaftlichkeit der Leistungen in der Regel eher eine untergeordnete Rolle spielen. So bieten die Krankenkassen etwa keine Zusatzleistungen im Bereich der Rehabilitation an. Dafür schaffen sie aber gezielt Angebote, deren medizinische Wirksamkeit nicht sicher nachgewiesen oder Regelleistungen kaum überlegen ist. Kritiker sehen die satzungsmäßigen Zusatzangebote nach § 11 Abs. 6 SGB V aus sozialpolitischer Sicht als problematisch an, weil Zusatzangebote Selektionsprozesse begünstigten. Auch werden damit reguläre Verfahren zur Qualitätssicherung neuer Leistungen, etwa durch den G-BA, umgangen."
• "Eine wesentliche Verbesserung der Versorgung im Hinblick auf einen Qualitätswettbewerb erscheint aus hiesiger Sicht fraglich. Bonusprogramme werden von den gesetzlichen Krankenkassen als ein Instrument zur Werbung, Mitgliederakquise und Mitgliederbindung genutzt, um sich von ihren Mitkonkurrenten abzugrenzen und im Wettbewerb zu bestehen. Dennoch stellt sich die Frage, inwieweit sich der gesetzgeberische Wille, mit dem Instrument der Bonusprogramme das gesundheitsbewusste Verhalten aller Versicherten zu stärken, wirklich in der Praxis manifestiert hat. Denn nicht nur die Aussagen der Verbraucherzentrale NRW, sondern auch die vom Bundesversicherungsamt geführten Interviews belegen, dass Krankenkassen ihre Bonusprogramme vorwiegend dazu nutzen, junge, gesunde sowie sportliche Versicherte anzusprechen und an sich zu
binden. Zudem ist der Nutzen vieler angebotener Bonusprogramme nicht hinreichend qualitätsgesichert."
• "Der Grund, weshalb die meisten gesetzlichen Krankenkassen weiterhin schwerpunktmäßig individuelle Präventionsleistungen anbieten, liegt an der wettbewerblichen Ausrichtung des Krankenversicherungssystems. Jeder Versicherte kann seine Krankenkasse innerhalb eines kurzen Zeitraums wechseln, während langfristige, effektive Gesundheitsförderungs- und Präventionsangebote keine kurzfristigen wirtschaftlichen Erfolge für die Krankenkassen zeitigen. Der Krankenkassenwettbewerb verleitet die Krankenkassen eher dazu, in verhaltensbezogene individuelle Freizeit und Wellnessangebote zu investieren, um neue und vor allem junge, gesunde, sowie gut verdienende Versicherte anzulocken. Der morbiditätsorientierte RSA in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung weist für diese Versichertengruppe noch immer eine Überdeckung auf."
• "Auch stellt der Prüfdienst des Bundesversicherungsamtes in Übereinstimmung mit dem Prüfdienst eines Landes fest, dass die Krankenkassen gerade in Leistungsbereichen, die vorwiegend junge und gesunde Versicherte anlocken, wie Prävention und betriebliche Gesundheitsförderung, rechtswidrige Leistungen häufig "aus Kulanz" gewähren. Auch die Patientenbeauftragte und einzelne Krankenkassen bestätigten dem Bundesversicherungsamt, dass Krankenkassen vor allem Versicherte mit "guten Risiken" verstärkt umwerben. Darüber hinaus fand das IGES Institut in der oben genannten Studie heraus, dass einige Krankenkassenarten im Bereich der Vorsorge und Rehabilitation Ablehnungsquoten von bis zu 19,4 Prozent sowie im Bereich der Hilfsmittel von bis zu 24,5 Prozent aufweisen. Besonders betroffen von den Leistungsablehnungen waren nach Einschätzung von Patientenorganisationen ältere Personen, chronisch Kranke, bildungsbenachteiligte sowie schwerbehinderte Menschen."
• "Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die Selektivverträge von den Krankenkassen auch zu Wettbewerbszwecken eingesetzt werden und somit der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck an der Stelle durchaus erfüllt worden ist. Fraglich bleibt allerdings, ob hierdurch die Versorgung entscheidend verbessert worden ist."

Auch wenn man dem Hinweis des BVA folgt, dass ein Teil der Handlungslücken und Handlungen durch gesetzgeberische Vorgaben oder das Nebeneinander politischer Vorgaben für gemeinsames und einheitliches Handeln in der Solidargemeinschaft (z.B. im § 1 SGB V) und Leistungswettbewerb unter denselben Kassen verursacht wurden und werden, fällt es nach den zitierten Berichten aus dem Alltag des Wettbewerbs schwer, der Einschätzung "aller Experten" ohne Einschränkungen zu folgen, der Wettbewerb habe sich "bewährt" und "die Versorgung der Versicherten (habe) sich verbessert".

Zu befürchten ist aber trotzdem, dass die Protagonisten des GKV-Wettbewerbs auch angesichts der vom BVA ermittelten Fehlentwicklungen an ihm festhalten werden und glauben, dass er sich, wenn schon nicht heute dann "irgendwann" wirklich bewährt.

Wer sich noch ausführlicher über die Funde des BVA und seine Vorschläge für die weitere Entwicklung informieren will und die wahrscheinlichen Einwände von GKV-Seite überprüfen will, kann die 166 Seiten des SONDERBERICHT ZUM WETTBEWERB IN DER GESETZLICHEN KRANKENVERSICHERUNG kostenlos herunterladen.

Bernard Braun, 6.4.18