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Zwei-Klassen-Medizin
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Große Mehrheit der Bevölkerung erkennt im Gesundheitssystem Merkmale einer "Zwei-Klassen-Medizin" - nicht nur bei Wartezeiten
Eine jetzt veröffentlichte repräsentative Bevölkerungsumfrage des "Gesundheitsmonitor" der Bertelsmann-Stiftung hat gezeigt, dass in der Bevölkerung eine unterschiedliche Behandlung von Kassen- und Privatpatienten sehr deutlich wahrgenommen wird. Diese "Zwei-Klassen-Medizin" wird nicht nur bei den als "Service- und Komfort-Merkmal" definierten Wartezeiten, sondern auch bei der Versorgung selbst wahrgenommen: Genannt werden die Zeit, die sich Ärzte für Patienten nehmen, die Berücksichtigung neuester medizinischer Erkenntnisse bei Untersuchungen und Therapien sowie die Verschreibung von Medikamenten mit größerer Wirksamkeit und weniger Nebenwirkungen.
Gefragt wurde in der Studie, an der eine repräsentative Stichprobe von rund 1.500 Versicherten im Alter von 18-79 Jahren beteiligt war, bei welchen Versorgungsaspekten sie eine "Zwei-Klassen-Medizin" wahrnehmen. (vgl. Grafik) 90 Prozent aller Befragten nennen in diesem Zusammenhang Wartezeiten für einen Termin und 84 Prozent Wartezeiten in der Praxis. Aber auch in Bezug auf andere Aspekte sagt eine Mehrheit, dass Privatpatienten besser gestellt seien. Dies gilt für die Zeit, die sich Ärzte für Patienten nehmen, ebenso wie für die Berücksichtigung neuester medizinischer Erkenntnisse bei Untersuchungen und Therapien oder die Verschreibung von Medikamenten mit größerer Wirksamkeit und weniger Nebenwirkungen. Am seltensten wird Ärzten ein unterschiedliches Maß an Freundlichkeit unterstellt.
Fast ein Drittel der Befragten (32%) erkennt bei allen sieben abgefragten Aspekten eine Ungleichbehandlung, 72 Prozent sehen dies bei vier oder mehr Aspekten gegeben. Damit zeigt sich, die Bevölkerung nimmt nicht nur eine Ungleichbehandlung bei den oft als "Service- und Komfort- Merkmal" definierten Wartezeiten wahr. Diese Wahrnehmung erstreckt sich auch auf Aspekte, die die medizinische Versorgung selbst betreffen.
Es ist anzunehmen, dass durch die große Verbreitung der Denkfigur "In Deutschland gibt es eine Zwei-Klassen-Medizin" auch ganz unabhängig von persönlichen Erfahrungen erhebliche Vorbehalte und Vorurteile gegenüber dem Versorgungssystem entstanden sind - die sich vermutlich auch im Vertrauensverhältnis zu praktizierenden Ärzten niederschlagen. Die Wahrnehmung einer Zwei-Klassen- Medizin könnte sich auch in generalisierender Weise negativ auf das Gesamtvertrauen in unserem Gesundheitssystem auswirken. Die Aussage "Im Großen und Ganzen funktioniert unser Gesundheitswesen gut, nur kleinere Verbesserungen sind notwendig" findet bei knapp 60 Prozent derjenigen Zustimmung, die keinerlei Merkmale einer Ungleichbehandlung von Kassen- und Privatpatienten erkennen. Bei denjenigen, die durchgängig Zwei-Klassen-Strukturen erkennen, zeigt sich ein solches Grundvertrauen in das Gesundheitssystem nur noch bei jedem Vierten (26%).
Weitere Ergebnisse der Befragung:
• Die Aufgliederung des Gesundheitssystems in GKV und PKV ist in Europa eine deutsche Besonderheit. Tendenzen zur Aufhebung dieses zweigliedrigen Systems treffen nur in der Variante auf mehrheitliche Zustimmung, in der die Private Krankenversicherung aufgelöst wird. Die Forderung der FDP nach einer Umwandlung auch der GKV-Kassen in private Versicherungen wird selbst bei PKV-Versicherten nur von einer Minderheit (29%) unterstützt. Auch weniger radikale Modelle zur Veränderung stoßen auf wenig Gegenliebe bei den Versicherten. Dies gilt vor allem für die Modelle, die auf sehr unterschiedliche Art zwischen Elementen einer "Grundsicherung" und "Komfortleistungen" differenzieren.
• Jegliche Veränderung lehnen die Versicherten jedoch nicht ab. Einige Vorschläge stoßen auf sehr hohe Zustimmung: Zum Beispiel die schärfere Kontrolle der Notwendigkeit medizinischer Leistungen oder staatliche Zuschüsse für das Gesundheitssystem durch Einsparungen in anderen Bereichen.
• Von allen eindeutig abgelehnt werden allgemeine Leistungskürzungen, Leistungskürzungen für Ältere, eine Anhebung der Kassenbeiträge sowie eine stärkere private Finanzierung einzelner medizinischer Leistungen. Hier finden sich Zustimmungsquoten in der Höhe von nur 5 bis 23 Prozent.
• Drei Vorschläge finden mit Zustimmungsquoten zwischen 62 Prozent und 82 Prozent sehr breite Resonanz: Eine schärfere Kontrolle der Notwendigkeit medizinischer Leistungen (Wissenschaftler würden sagen: der Evidenz), staatliche Zuschüsse für das Gesundheitssystem und Leistungseinschränkungen bei Versicherten, die höhere Gesundheitsrisiken aufweisen.
Fazit der Wissenschaftler: "Der in unserer Befragung am positivsten bewertete Vorschlag: 'mehr Kontrollen, ob alle verordneten medizinischen Leistungen, Medikamente usw. auch tatsächlich nötig sind', sollte die Entscheidungsträger im Politikfeld Gesundheit aufhorchen lassen. Vielleicht sind die Rationalisierungsreserven doch noch nicht erschöpft? Wissenschaftliche Meta-Analysen und Cochrane-Reviews, die sich mit Teilaspekten der medizinischen Versorgung beschäftigen, sprechen jedenfalls dafür. Immer wieder ist hier, auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, Überversorgung festgestellt worden. Zum Beispiel beim Einsatz bildgebender Verfahren bei Rückenschmerzen, bei der Verschreibung von Antibiotika bei Erkältungen und Nasennebenhöhlenentzündungen, bei Knochendichtemessungen und vielem anderem mehr."
Die Studie ist hier im Volltext verfügbar: Gesundheitsmonitor 3/2009: GKV-Reformen im Urteil der Versicherten: Erst einmal Systemdefizite beheben!
Gerd Marstedt, 24.10.09