Home | Patienten | Gesundheitssystem | International | GKV | Prävention | Epidemiologie | Websites | Meilensteine | Impressum

Sitemap erstellen RSS-Feed

RSS-Feed
abonnieren


Sämtliche Rubriken in "Patienten"


Gesundheitsversorgung: Analysen, Vergleiche

Arzneimittel, Medikamente

Einflussnahme der Pharma-Industrie

Arzneimittel-Information

Hausärztliche und ambulante Versorgung

Krankenhaus, stationäre Versorgung

Diagnosebezogene Fallgruppen DRG

Rehabilitation, Kuren

Kranken- und Altenpflege, ältere Patienten

Umfragen zur Pflege, Bevökerungsmeinungen

Schnittstellen, Integrierte Versorgung

Disease Management (DMP), Qualitätssicherung

Leitlinien, evidenzbasierte Medizin (EBM)

Verhaltenssteuerung (Arzt, Patient), Zuzahlungen, Praxisgebühr

Arztberuf, ärztl. Aus- und Fortbildung

IGeL Individuelle Gesundheitsleistungen

Alternative Medizin, Komplementärmedizin

Arzt-Patient-Kommunikation

Patienteninformation, Entscheidungshilfen (Decision Aids)

Shared Decision Making, Partizipative Entscheidungsfindung

Klinikführer, Ärztewegweiser

Internet, Callcenter, Beratungsstellen

Patienteninteressen

Patientensicherheit, Behandlungsfehler

Zwei-Klassen-Medizin

Versorgungsforschung: Übergreifende Studien

Versorgungsforschung: Diabetes, Bluthochdruck

Versorgungsforschung: Krebs

Versorgungsforschung: Psychische Erkrankungen

Versorgungsforschung: Geburt, Kaiserschnitt

Versorgungsforschung: Andere Erkrankungen

Sonstige Themen



Alle Artikel aus:
Patienten
Hausärztliche und ambulante Versorgung


GKV-Versicherte warten 15 Tage länger auf einen Dermatologen-/Neurologentermin als PKV-Versicherte

Artikel 2711 Zu den immer wieder kritisierten und debattierten Auswirkungen des international nahezu einzigartigen Nebeneinanders von gesetzlicher und privater Krankenversicherung in Deutschland, gehört, dass privat Versicherte insbesondere Termine bei Fachärzten mit wesentlich geringeren Wartezeiten erhalten als gesetzliche Versicherte.
Dies wurde in der Vergangenheit mehrfach durch standardisierte Befragungen von Versicherten beider Versicherungssysteme und Ärzt:innen bestätigt.

Die mit dieser Art von Erhebungsdesign verbundenen methodischen Limitationen (z.B. retrospektives Design, Unterrepräsentation Privatversicherte) motivierte eine Wissenschaftler:innengruppe der Universität Marburg und der Technischen Hochschule Nürnberg die Frage einer "[institutionellen Diskriminierung]" (zur Begriffswahl und ihrem theoretischen Hintergrund siehe Ausführliches im Beitrag) durch die Terminvergabe von Fachärzten mit einer anspruchsvolleren und erweiterten Methodik zu untersuchen.

Dabei handelt es sich um ein so genanntes [Mixed-Methods-Design]. Als erstes wurde in einem zweisemestrigen studentischen Forschungsprojekt eine Stichprobe von 410 Praxen der Fachgebiete Dermatologie und Neurologie in 41 Großstädten gezogen. Im April und Mai 2019 wurden dann diese Praxen von den Studierenden entlang eines einheitlichen Anrufprotokolls mit Angaben zum Krankheitsbild (kein akuter Notfall aber Untersuchungsbedarf) mit dem Ziel eines Termins zweimal angerufen. Einmal gaben sich die Anrufenden als gesetzlich und beim zweiten Mal als privat versicherte Personen aus. Vereinbarte Termine wurden nach wenigen Tagen wieder storniert.

Die Ergebnisse der 708 erfolgreichen Anrufversuche (zu den Gründen der Differenz zu den theoretisch möglichen 820 Anrufen siehe den Aufsatz) zeigen deutliche Unterschiede in den Wartezeiten:
• Gesetzlich Versicherte warten durchschnittlich 15 Tage länger auf einen Termin bei den beiden Facharztgruppen als privat Versicherte.
• Der Median der Wartezeit bei GKV-Versicherten beträgt 34, der von PKV-Versicherten 19 Tage.
• Die Wartezeit bei Dermatolog:innen ist signifikant kĂĽrzer (Median 23 Tage) als bei Neurolog:innen (Median 33 Tage).
• In Ostdeutschland warten Patient:innen signifikant länger auf einen Facharzttermin (Median 33, Westdeutschland 24 Tage).

An einer sich anschließenden qualitativen Fragebogenbefragung der angerufenen Praxen zu den Gründen ungleicher Wartezeiten und den Vorstellungen wie dies zu ändern wäre, antworteten von 378 kontaktierten Praxen nur 22. Die Ergebnisse müssen daher nach Ansicht der Autor:innen "vorsichtig interpretiert" werden.
Als Hauptursache werden diverse wirtschaftliche Nachteile bei der Behandlung von GKV-Versicherten genannt (bei PKV-Versicherten bessere Bezahlung und schnellerer Erhalt des Geldes).
Die am häufigsten genannte Änderungsforderung war die Abschaffung des GKV-Budgetierungssystems und die Wiedereinführung der Vergütung nach Einzelleistungen.

Der 23 Seiten umfassende Aufsatz Diskriminierung im deutschen Krankenversicherungssystem: Werden gesetzlich Versicherte bei der Terminvergabe von Fachärzten benachteiligt? von A. Breitenbach (Marburg) und M. Heinrich (Nürnberg) ist 2023 im "Social Science Open Access Repository" veröffentlicht worden und komplett erhältlich.

Bernard Braun, 17.10.23


Fortbildungspflicht für Ärzte: Umstritten, aber wirksam

Artikel 2557 Verpflichtende Fortbildungen für Mediziner gelten als wichtiger Beitrag zur Qualitätssicherung in der Krankenversorgung. Auch in Deutschland müssen beispielsweise niedergelassene ÄrztInnen innerhalb von fünf Jahren 250 Fortbildungspunkte nachweisen. Bei MedizinerInnen sind diese Pflichtveranstaltungen eher unbeliebt, viele betrachten sie als unnötig bzw. überflüssig und bezweifeln die Wirksamkeit derartiger Fortbildungsprogramme. Drei ExpertInnen vom American Board of Internal Medicine, der us-amerikanischen Fachgesellschaft für innere Medizin mit Sitz in Philadelphia, sind der Frage nachgegangen, ob verpflichtenden Fortbildungsprogramme für Mediziner messbare Wirkungen zeigen. Die Ergebnisse ihrer Analyse haben Jonathan Vandergrift, Bradley Gray und Weifeng Wenig nun unter dem Titel Do State Continuing Medical Education Requirements for Physicians Improve Clinical Knowledge? online vorab in der Zeitschrift Health Services Research erschienen.

Die Autoren konnten dabei die Ergebnisse eines natürlichen Experiments auswerten, das Rückschlüsse auf die Wirksamkeit der kontinuierlichen ärztlichen Fortbildung (continuing medical education - CME) erlaubt. Verschiedene Bundesstaaten der USA veränderten zeitlich versetzt die Anforderungen an die verpflichtende Fortbildung von ÄrztInnen. Dabei handelte es sich entweder um eine Erhöhung der jährlich zu absolvierenden Fortbildungsstunden oder um eine Verkürzung der Fristen, innerhalb derer eine bestimmte Punktzahl zu sammeln ist.

Anders als beispielsweise in Deutschland müssen ÄrztInnen in den USA nach dem Examen bzw. ihrer Approbation alle zehn Jahre ihre Berufsqualifikation in so genannten Maintenance-of-Certification (MOC) Prüfungen nachweisen, wenn sie ärztlich tätig bleiben wollen. Diese MOC-Programme liegen in der Zuständigkeit der zuständigen Fachgesellschaften, die damit die Eignung ihrer aktiven Mitglieder überprüfen und die Qualität der Versorgung sicherstellen wollen. Erfüllen MedizinerInnen die jeweiligen Anforderungen nicht, können sie ihre Berufszulassung verlieren. Neben der Aufrechterhaltung der medizinischen Approbation sollen die MOC-Prüfungen ÄrztInnen zu lebenslangem Lernen und einer kritischen Selbsteinschätzung bewegen, ihre klinischen Kenntnisse vertiefen und zur Verbesserung der Versorgungspraxis beitragen.

Bis zum Jahr 2015 waren die Prüfungen zur Aufrechterhaltung der Approbation dem Examen am Ende des Medizinstudiums sehr ähnlich und bedienten sich desselben Fragenpools. Unter Verwendung der Differenz-in-differenz-Methode untersuchten die Autoren nun, ob es regional und somit durch die jeweils geltenden Fortbildungsverpflichtungen bedingte Unterschiede zwischen den Ergebnissen des Abschlussexamens und der MOC-Prüfungen gab. Dabei konnten sie insgesamt 19.563 allgemein-internistisch tätige ÄrztInnen in ihre Studie einschließen, die zwischen 1996 und 2003 ihr medizinische Examen abgelegt und zwischen 2006 und 2013 an MOC-Prüfungen teilgenommen hatten.

Unter Berücksichtigung des möglichen Einflusses potenzieller Confounder wie bestimmter Eigenschaften der ÄrztInnen (Geschlecht, Berufserfahrung, Art der Praxis u. a.) und des Bezirks (z. B. Pro-Kopf-Einkommen) und anderer Indikatoren, die keiner erkennbaren zeitlichen Abhängigkeit unterworfen waren, ermittelten die AutorInnen durch lineare Regression ein um 0,119 (p < 0,001) verbessertes, standardisiertes MOC Prüfungs-Ergebnis in den Bundesstaaten, die zumeist durch Einführung zusätzlicher Vorgaben ihre CME-Anforderungen erhöht hatten, wo die ÄrztInnen also mehr CME-Punkte pro Jahr oder innerhalb von drei Jahren sammeln mussten. Die Verkürzung der Frist, innerhalb derer die vorgeschriebene Punktzahl zu erreichen war, hatte hingegen keine signifikanten Auswirkungen auf die Prüfungsergebnisse, denn sie korrelierten nur mit einer Verbesserung um 0.061 (p = 0,058). Insgesamt kommen die AutorInnen zu dem Ergebnis, dass die vergleichsweise strikten CME-Vorgaben der US-Bundesstaaten für MedizinerInnen sinnvoll sind und [stringentere Vorgaben zu einer Verbesserung qualitätsrelevanter klinischer Kenntnisse von KlinikerInnen beitragen können.

Dieses Ergebnis ist insbesondere vor dem Hintergrund der zunehmenden Debatte über Patientenbeteiligung und -verantwortung, shared decison making und letztlich auch über das "chosing-wisely-Konzept von großer Bedeutung. Die aktuelle Diskussion über eine stärkere Einbeziehung von PatientInnen als Ko-ProduzentInnen ihrer Gesundheit, als Mitentscheider im Zuge einer verbesserten Partizipation im Gesundheitswesen und als eigenverantwortliche Akteure drängt die Frage nach der Verantwortung des Gesundheitswesens in den Hintergrund. Es ist aber illusorisch, die Bringschuld des Versorgungssystems zu vernachlässigen und die erforderlichen Stellschrauben anzusetzen, damit dessen professionelle AkteurInnen nach bestem Wissen und Gewissen vorgehen. Einen Ansatz zur Verbesserungh der Versorgungsqualität unterstreicht nun die Studie von Jonathan Vandergrift und seinen KollegInnen.

Die Studie Do State Continuing Medical Education Requirements for Physicians Improve Clinical Knowledge ist zunächst als Online-Version in Health Services Research erschienen. Das Abstract steht kostenfrei zum Download zur Verfügung; AbonnentInnen können den vollständigen Artikel als PDF direkt herunterladen.

Jens Holst, 28.4.17


Wie verlässlich oder reliabel sind allgemeinärztliche ICD-10-Diagnosen - und zwar auch ohne die GKV-Beihilfe beim Up-Coding?

Artikel 2547 Das wenige Tage alte "Geständnis" des Vorstandsvorsitzenden der Techniker Krankenkasse, andere Kassen aber wahrscheinlich auch seine eigene hätten ambulant tätige Ärzte zum Teil sogar in vertraglicher Form dazu "animiert", noch gründlicher über die Art der Erkrankung ihrer Patienten nachzudenken und deren Ernst durch eine schwerere bzw. im Rahmen des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs besser für die Kasse wirtschaftlich günstigere Diagnose zum Ausdruck zu bringen, offenbarte, dass es sich bei der dabei genutzten "International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems/Internationalen statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD)" (aktuell 10. Revision) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) keineswegs um eine objektive, sondern um ein auch durch nicht gesundheitsbezogene Erwägungen beeinflussbares System handelt.

Wie stark durch dieses Up-Coding auch alle Statistiken über den Gesundheitszustand der Bevölkerung, die sich auf die ICD-Klassifikation stützen, verfälscht worden sind und werden, ist nicht zu quantifizieren, dass es einen "Morbi-RSA-Bias" gibt, ist aber sicher.
Im Zusammenhang mit ihrer aktuellen öffentlichen Präsenz sei aber daran erinnert, dass Morbiditätsdaten, die mit den ICD-10-Diagnosen gewonnen werden, auch ohne die Anstiftung zum Up-Coding wahrscheinlich verzerrt sind.

Dies zeigt eine m.W. nie wiederholte und bereits 2009 veröffentlichte Untersuchung der Reliabilität, also der Wiederholbarkeit gleicher Diagnosen bei gleichen Bedingungen durch eine oder verschiedene Personen.

Vorab zur Erinnerung: Die ICD-10-Klassifikation (die aktuelle Version für das Jahr 2016 findet man hier) erlaubt eine vorliegende gesundheitliche Störung als erstes in eine von 21 Hauptgruppen einzuordnen, die von bestimmte infektiöse und parasitäre Krankheiten über Krankheiten des Kreislaufsystems bis zu Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen reichen. Diese Zuordnung kann noch weiter verfeinert werden. So erhält ein Patient, der an Cholera leidet den dreistelligen Code A00 und ein anderer, der eine sonstige Salmonelleninfektion hat den Code A02. Diese Codierung kann noch durch eine vierte Stelle präzisiert werden. Bei Patienten mit einer sonstigen Salmonelleninfektion kann dann z.B. zwischen einer Salmonellenenteritis (A02.0) oder Salmonellensepsis (A02.1), also zwei vom Schweregrad deutlich unterschiedlichen Zustände nach einer Salmonelleninfektion und weiteren Unterformen unterschieden werden. Bei einigen Obergruppen gibt es auch noch eine 5. Stelle zu Komplikationsgraden und eine nicht WHO-offizielle Zusatzinformation über die Validität der Diagnose (z.B. Verdachtsdiagnose).

Eine Forschergruppe an der Universität Leipzig hatte in Kooperation mit der Sächsischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin für 8.877 zufällig ausgewählte ambulant-allgemeinärztlich behandelte Patienten von 209 (von 2.510 angesprochenen in Sachsen praktizierenden Allgemeinärzten!!) in den Jahren 1999/2000 eine Fülle von diagnoserelevanten Daten zusammentragen lassen und auf dieser Basis zwei berufserfahrene Ärzte die vierstellige Hauptdiagnose nach ICD-10 vergeben lassen. Je mehr deren Diagnosen übereinstimmten desto besser ist die Reliabilität der ICD-10-Diagnostik. Der Grad der Übereinstimmung oder eben auch Nichtübereinstimmung (so genannte "inter-rater reliability") wurde mit dem bewährten statistischen Kappa-Maß bestimmt.

Die Ergebnisse sahen so aus:

• Bei Patienten mit neu zu behandelnden Krankheiten war die Übereinstimmung der Zuordnungen zu Hauptgruppen in 12 von 19 Hauptgruppen (63,16%) mit ausreichender Fallzahl zufriedenstellend. In anderen Worten stimmten die Bewerter z.B. mindestens darin überein, dass es sich um eine Krankheit der Hauptgruppe infektiöse oder parasitäre Krankheiten handelt und nicht um eine andere.
• Bei der Vergabe von drei- oder vierstelligen Diagnosen, also einer Verfeinerung der Diagnosen, war die Übereinstimmung zwischen den beiden diagnostizierenden Ärzten in keiner Hauptgruppe zufriedenstellend. Die Diagnosen unterschieden sich also mehr oder weniger beträchtlich. Bei allen dreistelligen Diagnosen war die Übereinstimmung bei 36,01% zufriedenstellend, bei allen vierstelligen Diagnosen traf dies nur noch für 11,85% zu.
• Bei Patienten, die wegen chronischen Krankheiten dauerhaft behandelt wurden, war die Kodier-Reliabilität in 14 der dabei ausreichend besetzten 20 Hauptgruppen (65%) zufriedenstellend. Bei fast 43% aller dreistelligen Diagnosen gab es hohe Übereinstimmung und bei 18,02% der vierstelligen.

Selbst wenn man die methodischen Einschränkungen dieser Studie berücksichtigt, waren die im allgemeinärztlichen Bereich vergebenen Diagnosen allerhöchstens auf dem Niveau der Hauptgruppen reliabel, nicht oder lediglich bei 10% bis rund 40% aber bei den drei- und vierstelligen Diagnosen.
Da die im Lichte dieser Verhältnisse geforderte Vereinfachung des ICD-Katalogs (dies forderte auch der Sachverständigenrat für Gesundheit in einem seiner Jahresgutachten für die Allgemeinmedizin) und die Vorgabe klarer Kodierleitlinien nicht erfolgte, dürfte sich die Reliabilität bis heute nicht grundsätzlich verbessert haben. Ob und wie stark sich dies auch ohne die "Kodierpraxispflege" durch die GKV auf die Realität des Morbi-RSA mit seinen 80 relevanten Krankheiten auswirkt, wäre interessant zu untersuchen.

Die Hoffnung, die unbefriedigende Reliabilität der Krankheitenkodierung mit anderen einfacheren Klassifikationssystemen grundsätzlich zu verbessern, sollte aber nicht zu groß sein und nicht die Suche nach besseren Systemen verbauen. Dieselbe Forschergruppe hat nämlich 2012 die Ergebnisse einer auf derselben Datenbasis durchgeführten Studie veröffentlicht, die zur Klassifikation die "International Classification of Primary Care (ICPC-2)" benutzte. Die Schlussfolgerungen waren graduell besser, aber nicht grundsätzlich: "The reliability was good to excellent at the chapter level, at the component level the reliability was moderate though good in the components 1-symptoms and 7-diseases. At single code level the agreement was only fair to moderate in both chapters and components. One third to half of the used codes showed good inter-rater agreement."

Die Studie Three- and four-digit ICD-10 is not a reliable classification system in primary care von E. Wockenfuss et al. ist 2009 im "Scandinavian Journal of Primary Health Care" (27: 131-136) erschienen und komplett kostenlos erhältlich.

Auch die 2012 in der Zeitschrift "Swiss Medical Weekly" (142: w13621) veröffentlichte Studie Inter-rater reliability of the ICPC-2 in a German general practice setting von Th. Frese et al. ist komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 22.10.16


Todkranke und zu Hause palliativ versorgte Menschen haben keine Nachteile, eher Vorteile. Rücksicht auf Präferenzen möglich!

Artikel 2511 Fragt man gesunde wie schwer kranke Menschen an welchem Ort oder unter welchen Umständen sie sterben möchten, bevorzugen fast alle Befragten ihr häusliches Umfeld und eine dort erhältliche Pflege und Betreuung. Ein oft in diesem Zusammenhang vorgebrachter Einwand ist, dass in diesem Umfeld keine optimale Versorgung möglich wäre und die so versorgten Menschen früher und möglicherweise unter im Krankenhaus oder anderen nichthäuslichen Versorgungsorten vermeidbaren Schmerzen etc. sterben würden.

Dass nicht so sein muss und die geäußerten Präferenzen ernster genommen werden sollten, zeigen die Ergebnisse einer gerade veröffentlichten prospektiven multizentrischen Kohortenstudie über die Überlebenszeit von an unterschiedlichen Orten vor ihrem Tod versorgten Menschen.

Zwischen September 2012 und April 2014 wurde für 2.069 von 58 spezialisierten Anbietern von palliativer Leistungen versorgten Patienten die Überlebenszeit untersucht. 1.582 Personen erhielten die palliativen Leistungen in Kliniken oder anderen stationären Einrichtungen, 487 erhielten sie im häuslichen Umfeld. Im Untersuchungszeitraum starben insgesamt 1.607 der stationär und 462 der ambulant versorgten PatientInnen tatsächlich.

Das Ergebnis war eindeutig: Die Überlebenszeit der zu Hause palliativ versorgten todkranken PatientInnen war signifikant länger - wenige Tage, aber die sind eventuell extrem wichtig - als die der PatientInnen, die im Krankenhaus versorgt wurden und dort starben. Dabei blieb es auch nach der Adjustierung der Ergebnisse beider Gruppen nach einer Reihe von möglichen Einflussfaktoren oder Confounder, darunter soziodemografische Merkmale und klinische Charakteristika der PatientInnen.

Trotz aller selbst eingeräumten Begrenzungen ihrer Studie, kommt einer der Autoren zu dem für die eingangs zitierten Befürchtungen zu folgendem praktisch bedeutsamen Schluss: "Patients, families, and clinicians should be reassured that good home hospice care does not shorten patient life, and even may achieve longer survival."

Warum dies bei einer guten palliativen Versorgung in Deutschland völlig anders aussehen soll, ist nicht nachvollziehbar. Auf die genannten Befürchtungen sollte daher auch hierzulande zumindest bis zum Ergebnis einer vergleichbaren Studie in Deutschland verzichtet werden, und damit mehr die Präferenzen der PatientInnen beachtet werden.

Die Studie A multicenter cohort study on the survival time of cancer patients dying at home or in hospital: Does place matter? von Jun Hamano et al. ist in der Online-Ausgabe der Fachzeitschrift "Cancer" im März 2016 erschienen, von der das Abstract kostenlos verfügbar ist.

Bernard Braun, 30.3.16


Universitäre Medizinerausbildung in Deutschland: Exzellenz statt Bedarfsgerechtigkeit

Artikel 2454 Die medizinische Versorgung in ländlichen Gebieten stellt auch die Bundesrepublik Deutschland vor wachsende Herausforderungen und nimmt zunehmend Einfluss auf die gesundheitspolitische Debatte. Die Problematik einer dauerhaften Sicherstellung ausreichender Behandlungsmöglichkeiten für die geringer werdende, alternde Bevölkerung auf dem Land findet auch in der Presse ein wachsendes Echo, so beispielsweise in der ZEIT in dem Artikel mit dem anschaulichen Titel Ärztemangel: Notruf nach dem Landarzt!, wiederholt im SPIEGEL wie etwa in den Beiträgen Landarztmangel: Zu wenige weiße Kittel in der Provinz oder jüngst Patienten-Versorgung: Trotz Reformen weiter Ärztemangel auf dem Land, und natürlich auch im Deutschen Ärzteblatt, das dem Thema ein ganzes Dossier: Ärztemangel widmet.

Vorschläge zur Lösung der ursächlichen ungleichen Verteilung der ÄrztInnen in Deutschland gibt es zu Hauf, die meisten beziehen sich auf Anreize zur Ansiedlung von ÄrztInnen auf dem Land und die Weiterbildung von AllgemeinmedizinerInnen. Dazu gehören die Ablehnung von Zulassungen bei der Nachbesetzung eines Vertragsarztsitzes in einem überversorgten Bereich, Entlastung von ÄrztInnen durch Delegation bestimmter Leistungen an qualifiziertes nicht-ärztliches Personal, Einbindung von Krankenhäusern in ambulante ärztliche Versorgung und die präventive Einrichtung von Strukturfonds zur Sicherstellung der Versorgung. Auch das derzeit beratene Versorgungsstärkungsgesetz soll explizit dazu beitragen, die Überversorgung mit Ärzten in der Stadt abzubauen und der Unterversorgung auf dem Land erfolgreich zu begegnen.

Im seinem Jahresgutachten 2014 hatte sich der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen ausführlich und detailliert mit dem Thema Bedarfsgerechte Versorgung &#61485; Perspektiven für ländliche Regionen und ausgewählte Leistungsbereiche befasst. Neben den genannten Vorschlägen beziehen sich seine Empfehlungen auch auf einen ansonsten wenig beachteten Bereich, die Ausbildung heranwachsender Medizinergenerationen. Dem Medizinstudium kommt eine entscheidendere Weichenstellung zu, als landläufig bekannt ist. Das Sachverständigengutachten empfiehlt daher: "Finanzielle Mittel zur Hochschulfinanzierung könnten zukünftig daran geknüpft werden, inwieweit die medizinischen Fakultäten erkennbar und nachhaltig die Ausbildung im Fach Allgemeinmedizin fördern. Medizinische Fakultäten könnten hier z. B. zielgerichtete Rekrutierungsstrategien, zentralere Positionierung der Allgemeinmedizin im Curriculum, Mentoring für am Fach Interessierte, freiwillige Landarzt-Tracks etc. nutzen."

Das klingt nachvollziehbar und machbar, stellt aber letztlich die Medizinerausbildung in Deutschland grundsätzlich in Frage. Die Lehre an medizinischen Hochschulen erfolgt vornehmlich in hochspezialisierten Versorgungseinrichtungen, die insgesamt nicht mehr als 1 % aller Gesundheitsprobleme behandeln und lässt förderliche Ansätze für eine Stärkung der Allgemein- und insbesondere der Landarztmedizin vermissen. Ein vielfach selbstreferenzieller Wissenschaftsbetrieb setzt primär auf technische, hochspezialisierte "Exzellenz", und Universitäten wetteifern um Drittmittel für ausgesuchte Grundlagen- und High-Tech-Forschung - der konkrete Versorgungsbedarf in der Region bzw. im jeweiligen Bundesland spielt kaum eine Rolle. So setzt beispielsweise die Medizinische Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg seit Jahren auf zwei ausgesuchte Schwerpunkte, nämlich Neurowissenschaften und Immunologie, wie sie in ihrer Festschrift 60 Jahre Hochschulmedizin Magdeburg (S. 59 + 114) hervorhebt. Diese Auswahl der Universität in der Hauptstadt eines der einkommens- und strukturschwächsten Bundesländer ist bemerkenswert. Gerade Sachsen-Anhalt steht vor großen Herausforderungen, die medizinische Versorgung in ländlichen und abgelegenen Landesteilen aufrechtzuerhalten. Nach Schätzungen der dortigen Kassenärztlichen Vereinigung sind bis 2025 mehr als 820 Hausarztsitze nachzubesetzen. Jedes Jahr wären also fast 90 neue FachärztInnen für Allgemeinmedizin erforderlich, um den Bedarf zu decken - zurzeit produziert das Land Sachsen-Anhalt aber nicht mehr als 16 bis maximal 30 AllgemeinärztInnen pro Jahr.

Exzellenzbestrebungen deutscher Hochschulen bestimmen die Medizinerausbildung bisher erheblich stärker als akuter Nachwuchs- oder Versorgungsbedarf. Dabei gab es immer wieder Stimmen, die vor einer einseitigen Orientierung der Exzellenzbestrebungen auf Reputation verheißende Forschung anstatt einer Förderung der Lehre gewarnt haben. Schon 2007 monierte der damalige Vorsitzende der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA) in seinem Artikel Exzellenz in der Hochschulmedizin durch die Einheit von Lehre und Forschung!, plötzlich sei überall von Exzellenz auch in der Lehre die Rede. In der Zeitschrift GMS Zeitschrift für Medizinische Ausbildung beklagt der damalige Vorsitzende "das Primat der Forschung an den Fakultäten hat die Lehre (und damit die Gemeinschaft der Professoren mit den Lernenden) zu Ballast werden lassen" (S. 2), und weist kritisch darauf hin, "dass Eliteuniversitäten und Exzellenzinitiativen ohne Einbeziehung der Lehre ausgerufen wurden" (S. 3).

Diese Erkenntnisse waren aber schon damals keineswegs neu. Bereits Mitte der 1990er Jahre beobachteten US-ForscherInnen in ihrer literaturbasierten Meta-Analyse von Einflussfaktoren für die Rekrutierung von AllgemeinmedizinerInnen, dass der Umfang der Forschungsförderung medizinischer Fakultäten durch die Bundesbehörde National Institutes of Health, die wissenschaftliche Studien im Bereich Medizin unterstützt, umgekehrt proportional zur Produktion von Allgemein- und FamilienmedizinerInnen sowie LandärztInnen war. In Ihrem als Volltext kostenfrei zugänglichen Artikel The Effects of Medical School Curricula, Faculty Role Models, and Biomedical Research Support on Choice of Generalist Physician Careers: A Review and Quality Assessment of the Literature gelangen Douglas Campos-Outcalt, Janet Senf, Arleen Watkins und Stan Bastacky zu der Empfehlung: "Federal agencies that fund medical education, directly or indirectly, could establish criteria for receipt of monies that include outcome measures and that reward schools demonstrating an active, institutional commitment to producing generalist physicians."

Nun unterstreicht eine soeben im Scandinavian Journal of Primary Health Care veröffentlichte Studie aus Deutschland erneut die Bedeutung gerade frühzeitiger Kontakte von Medizinstudierenden mit der Allgemeinmedizin für die spätere Entscheidung für eine Tätigkeit als Hausa(e)rztIn. In Anbetracht der zunehmenden Hausarztknappheit von untersuchten WissenschaftlerInnen der Universität Leipzig die Auswirkungen von praxisorientierte Allgemeinmedizin-Kursen in verschiedenen Phasen des Medizinstudiums auf die Berufswahl der AbsolventInnen. Im Rahmen ihrer Beobachtungsstudie mit 659 AbsolventInnen ermittelten Sie an Hand multivariater binärer logistischer Regression den Einfluss verschiedener Studienangebote auf eine spätere Berufstätigkeit in der Allgemeinmedizin und konnten dabei sechs unabhängige Variablen als Prädiktoren ausmachen: Alter, Hausarzterfahrungen in der Familie oder im Freundeskreis, Interesse an hausärztlicher Tätigkeit zum Studienbeginn, Präferenz einer späteren Arbeit in einer ländlichen oder kleinstädtischen Bereich, positive Einstellung zu einen breiten Patientenspektrum und zu langfristigen Arzt-PatientInnen-Beziehungen. Insgesamt zeigte sich bei weiblichen Berufsanfängerinnen eine größere Bereitschaft zu einer hausärztlichen Tätigkeit.

In Bezug auf den Lehrplan waren nach Adjustierung unabhängig voneinander verschiedene Kursangebote positiv mit einer späteren Tätigkeit in der Allgemeinmedizin assoziiert:
• Elektives spezifisches Hausarztpraktikum im vorklinischen Studienabschnitt: OR 2,6, 95 % CI 1,3-5,3),
• Vierwöchige Famulatur in einer Hausarztpraxis während des klinischen Studienabschnitts: OR 2,6, 95 % CI 1.3 - 5,0
• Viermonatige allgemeinärztliche Tätigkeit im Rahmen des Praktischen Jahres: OR 10,7, 95 % CI 4,3-26,7.

Insgesamt bestätigen die Leipziger WissenschaftlerInnen vorliegende Untersuchungsergebnisse, dass praxisorientierte allgemeinmedizinische Ausbildungsangebote sowohl in frühen als auch in späteren Phasen des Medizinstudiums die Zahl späterer HausärztInnen erhöhen können. Diese Befunde sind von Interesse für politische EntscheidungsträgerInnen und für medizinische Fakultäten sowie für die Gestaltung von Lehrplänen. Denn sie zeigen machbare und pragmatische Wege auf, wie sich bereits im Medizinstudium die Bereitschaft angehender ÄrztInnen steigern lässt, eine Tätigkeit in der hausärztlichen Versorgung aufzunehmen; entsprechende Hinweise gibt es auch für die frühzeitige Heranführung junger MedizinerInnen an die Versorgung auf dem Lande. Der Weg dorthin ist aber alles andere als konfliktfrei, erfordert er doch eine grundlegende Auseinandersetzung mit der herrschenden Prioritätensetzung der deutschen Hochschulmedizin, mit der dortigen Eminenzen und mit der Forschungsförderung.

Der Artikel von Tobias Deutsch, Stefan Lippmann, Thomas Frese und Hagen Sandholzer mit dem Titel Who wants to become a general practitioner? Student and curriculum factors associated with choosing a GP career - a multivariable analysis with particular consideration of practice-orientated GP courses steht kostenfrei als Volltext zum Download zur Verfügung.

Jens Holst, 6.4.15


Wie "fest" ist ein Festbetrag und wo liegen die Grenzen des Service-Outsourcens gesetzlicher Krankenkassen und Rentenversicherer?

Artikel 2401 Wer denkt, und "wer" sind durchaus auch Leistungsabteilungen gesetzlicher Krankenkassen, ein Festbetrag schließe absolut höhere Beträge aus bzw. erlaube es, sie komplett auf den versicherten Patienten abzuwälzen, kann sich täuschen und trägt dazu durch eigene Vernachlässigung gesetzlicher Pflichten auch noch selber bei.

Diese Position vertritt das Hessische Landessozialgericht (LSG) in einem Ende Juli 2014 gefällten letztinstanzlichen Urteil zur speziellen Hörgeräteversorgung eines schwerst hörbehinderten Menschen mit bemerkenswerten Argumenten zur Priorität des gesundheitlichen Bedarfs von Patienten und gegen systematische Servicemängel im Bereich der gesetzlichen Krankenkassen.
Streitgegenstand war, dass eine bei einer GKV-Kasse versicherte Person nach Kontakt mit einem HNO-Arzt und einem Hörgeräteakustiker ein Hörgerät erhielt, das rund 4.900 Euro kostete. Die Kasse weigerte sich unter Verweis auf den damaligen Festbetrag von 1.200 Euro, ihrem Versicherten den Differenzbetrag von rund 3.700 Euro zu erstatten.

Die entsprechende Klage des Versicherten wies das Sozialgericht in erster Instanz ab. Das LSG gab ihm dagegen Recht und begründete dies u.a. folgendermaßen:

• Zunächst räumt das LSG ein, dass die GKV-Kassen das Recht oder sogar die Pflicht haben, die Wirtschaftlichkeit der Versorgung zu prüfen: "Ausgeschlossen sind danach Ansprüche auf teure Hilfsmittel, wenn eine kostengünstigere Versorgung für den angestrebten Nachteilsausgleich funktionell ebenfalls geeignet ist; Mehrkosten sind andernfalls selbst zu tragen (§ 33 Abs. 1 Satz 5 SGB V)." Dabei muss sich aber die Krankenkasse, so das LSG weiter, am gesundheitlichen Bedarf des bei ihr versicherten Patienten orientieren: "Eingeschlossen in den Versorgungsauftrag der GKV ist eine kostenaufwändige Versorgung dagegen dann, wenn durch sie eine Verbesserung bedingt ist, die einen wesentlichen Gebrauchsvorteil gegenüber einer kostengünstigeren Alternative bietet. Das gilt bei Hilfsmitteln zum unmittelbaren Behinderungsausgleich für grundsätzlich jede Innovation, die dem Versicherten nach ärztlicher Einschätzung in seinem Alltagsleben deutliche Gebrauchsvorteile bietet." Dies sah das Gericht bei dem Kläger als gesichert an.
• "Soweit die Krankenkasse aus Gründen der Wirtschaftlichkeit die Sachleistung "Versorgung mit Hörhilfen" (§ 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V) auf der Grundlage einer Festbetragsregelung (§ 36 SGB V) zu erbringen hat, also unter Zuzahlungspflicht des Versicherten hinsichtlich des den Festbetrag übersteigenden Teils des Kaufpreises, erfüllt sie zwar im Regelfall ihre Leistungspflicht mit dem Festbetrag (§ 12 Abs. 2 SGB V). Dies ist grundsätzlich verfassungsgemäß, gilt jedoch in dieser Form nur, wenn eine sachgerechte Versorgung des Versicherten zu den festgesetzten Festbeträgen möglich ist. Der für ein Hilfsmittel festgesetzte Festbetrag begrenzt die Leistungspflicht der Krankenkasse nämlich dann nicht, wenn er für den Ausgleich der konkret vorliegenden Behinderung objektiv nicht ausreicht".
• Und schließlich weist das LSG zugunsten des Versicherten auf eine offensichtlich vorsätzliche Praxis fehlender Beratung in diesem Bereich der Hilfsmittelversorgung hin: "Den Grad der Schwerhörigkeit und die sich daraus ergebenden Anforderungen an die Leistungsfähigkeit und Funktionen der zum Behinderungsausgleich benötigten Hörgeräte hat die Beklagte indessen im Verwaltungsverfahren keiner eigenständigen Prüfung und Feststellung zugeführt. Sie hat weder durch die Heranziehung eigener fachkundiger Stellen und oder von Sachverständigen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) abklären lassen, welche Hörhilfen der Kläger benötigt. Dies ist bislang keine bloße fehlerhafte Vorgehensweise in einem Einzelfall, sondern durchgängige Praxis. Obwohl eine erhebliche Zahl von Versicherten vergleichbar nachhaltig im Hörvermögen beeinträchtigt ist wie der Kläger, halten die Krankenkassen und auch die weiter als Rehabilitationsträger in Betracht kommenden Rentenversicherungsträger bislang nicht die erforderlichen Beratungs- und Begutachtungsstrukturen vor, um eine den gesetzlichen Vorgaben entsprechende Ermittlung des Versorgungs- und Rehabilitationsbedarfes zu ermöglichen. Die Sozialleistungsträger bieten den hörgeschädigten Versicherten keinen Zugang zu unabhängigen Beratungs- und Begutachtungsstellen, die losgelöst von eigenen Gewinnerwartungen eine neutrale Untersuchung und Beratung - was eine ausgiebige Erprobung und Anpassung der in Betracht kommenden Hörgeräte beinhalten müsste - über die (unter Beachtung des Gebotes der Wirtschaftlichkeit im vorstehend erläuterten Sinne) bestmögliche Hörgeräteversorgung gewährleisten … . Das Bundessozialgericht hat sich im Zusammenhang mit der Hilfsmittelversorgung bei hörgeschädigten Versicherten zu der Feststellung veranlasst gesehen, dass sich die zuständigen Rehabilitationsträger ihrer leistungsrechtlichen Verantwortung durch sog. "Verträge zur Komplettversorgung" jedenfalls vielfach nahezu vollständig entziehen und dem Leistungserbringer quasi die Entscheidung darüber überlassen, ob dem Versicherten eine Teilhabeleistung (wenn auch unmittelbar zunächst nur zum Festbetrag) zu Teil wird. Es hat hervorgehoben, dass die betroffenen Träger damit weder ihrer Pflicht zur ordnungsgemäßen Einzelfallprüfung nach § 33 SGB V genügen noch die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit beachten (§ 12 Abs. 1 und § 70 Abs. 1 S. 2 SGB V; vgl. BSG, Urteil vom 24. Januar 2013, a.a.O., vgl. auch den dortigen Hinweis: Es mute zudem "abenteuerlich" an, dass die Rehabilitationsträger die Versorgung mit bestimmten Hilfsmitteln - hier: Hörgeräte - praktisch nicht mehr selbst vornehmen, sondern in die Hände der Leistungserbringer "outgesourced" haben). Ein entsprechendes "Outsourcing" hat für Fallgestaltungen der vorliegenden Art überdies zur Folge, dass sich die Versicherten mangels eigener Beratungs- und Untersuchungsstellen der Sozialleistungsträger zur bestmöglichen Hörgeräteversorgung auch bezüglich der Frage, inwieweit sich mit höherwertigen als den sog. Festbetragsgeräten greifbare bessere Hörerfolge erzielen lassen, in weiten Teilen auf das fachkundige (wenn auch nicht immer von vornherein uneigennützige) Urteil des beratenden Hörgeräteakustikers verlassen müssen."
• "Der Umstand, dass die Krankenkassen und andere Sozialleistungsträger entgegen § 4 Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) systematisch und somit letztlich im Rahmen eines sog. Systemversagens keine eigenständige Untersuchung und Beratung der Versicherten bei der Hörgeräteauswahl mit dem Ziel eines weitest möglichen Behinderungsausgleichs anbieten, kann die Gerichte nicht von ihrer Verpflichtung entbinden, eine effektive Durchsetzung der Hilfsmittelansprüche der Versicherten zu bewirken. Mit der Beauftragung der gewerblichen Hörgeräteakustiker haben insbesondere die Krankenkassen im Ergebnis zum Ausdruck gebracht, dass sie diesen die erforderliche Fachkunde und Beurteilungskompetenz in den Fragen der Hörgeräteversorgung zuerkennen und die Erwartung für berechtigt erachten, dass die Qualität der Beratung durch die Hörgeräteakustiker nicht durch eigenwirtschaftliche Interessen der herangezogenen Akustikerbetriebe ernsthaft beeinträchtigt wird. Die Krankenkassen haben sich somit von der Erwartung leiten lassen, die Heranziehung der gewerblichen Hörgeräteakustiker werde jedenfalls im Regelfall zu einer im Rahmen der sog. Festbetragsgeräte optimierten Versorgung führen. An dieser eigenen Einschätzung müssen sich die Krankenkassen und auch an ihrer Stelle nach § 14 SGB IX zuständige andere Leistungsträger festhalten lassen, soweit sie nicht im jeweiligen Einzelfall anderweitig verlässliche Feststellungen hinsichtlich des Rehabilitationsbedarfs gewährleisten."
• "Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor."

Angesichts dieses fast nicht mehr steigerbaren richterlichen Levitenlesens wird es spannend sein, ob, wie und wann sich die Kranken- und Rentenversicherungsträger damit auseinandersetzen und evtl. praktische Änderungen vornehmen.

Wer sich noch genauer für die zum Teil im obenstehenden Text gekürzten gesetzlichen Bestimmungen und Urteile interessiert, die für die Entscheidung des LSG maßgeblich waren, kann sich das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 04.09.14 - Az L 8 KR 352/11 komplett kostenlos durchlesen.

Bernard Braun, 20.9.14


Polypharmazie bei Allgemeinärzten: Ein Drittel der Arzneimittel hatte keinen Nutzen - CDU/CSU/SPD-Kompromiss: Kasse statt Klasse!!

Artikel 2308 Polypharmazie, d.h. die gleichzeitige Verordnung von mehr als 5 unterschiedlichen Arzneimitteln in einem definierten Zeitraum, ist wegen der nicht mehr bekannten oder überschaubaren Wechselwirkungen und den praktischen Schwierigkeiten, sie korrekt einzunehmen, ein generelles Versorgungsproblem (vgl. dazu "Viel hilft viel" - Folgenreicher Irrtum über den Nutzen von Arzneimitteln. Polypharmazie-Studie und Leitlinie Multimedikation). Dass dabei von niedergelassenen Allgemeinärzten auch noch bis zu einem Drittel dieser Medikamente ohne eine wissenschaftliche Evidenz für ihren Nutzen verordnet werden, ist der wesentliche Fund einer am 15. November 2013 veröffentlichten Vorabstudie des Instituts für Allgemeinmedizin und Familienmedizin der Universität Witten/Herdecke.

In dieser Studie wurde das Verordnungsgeschehen von 169 Patienten aus 22 allgemeinmedizinischen Praxen untersucht, denen im Durchschnitt täglich rund neun verschiedene Arzneimittel verordnet worden waren.

Die Ergebnisse sahen so aus:

• Im Durchschnitt gab es für 2,7 Arzneimittel pro Patient keine wissenschaftliche Begründung für den Nutzen der Verordnung.
• "Über 90% der Patienten wiesen mindestens eine unbegründete Arzneimittelverschreibung auf."
• Bei 56% der Patienten gab es Dosierungsfehler, relevante Interaktionen zwischen den Medikamenten traten bei 59% der Patienten auf und Medikamente, die bei alten Menschen nicht verordnet werden sollten erhielten trotzdem 37% der über 65jährigen.

Die Forschergruppe um Andreas Sönnichsen halten als ERklärung die Hausärzte für "überfordert" die Medikamente kritisch zu durchforsten, vor allem wenn Patienten mit "langen Medikationslisten aus der Klinik entlassen werden oder von verschiedenen Fachärzten zurückkommen: "Wie sollen sie entscheiden, welches Medikament wirklich erforderlich ist".

"In einer neuen europaweiten Studie des Instituts für Allgemeinmedizin der Universität Witten/Herdecke soll den Hausärzten nun geholfen werden. Unter Berücksichtigung von Diagnosen, Laborwerten und Begleiterkrankungen wird eine elektronische Entscheidungshilfe Vorschläge machen, welche Medikamente am ehesten entbehrlich oder gar schädlich sind."

Dem Wissensansatz dieser Studie ist Erfolg zu wünschen. Zu bedenken ist allerdings dass besseres und elektronisch verfügbares Wissen allein nicht verlässlich die Verordnung von unwirkksamen, nicht indizierten oder zu vielen Arzneimitteln verhindert (vgl. dazu die aktuellen Studien zur besonderen Dynamik der Arzneimittel-Verordnung: "Overrides of medication-related clinical decision support alerts in outpatients" und 'Too much, too late': mixed methods multi-channel video recording study of computerized decision support systems and GP prescribing).

In diesem Zusammenhang sei schließlich daran erinnert, dass in Deutschland gegen die Verordnung von zu vielen Arzneimitteln, die keinen nachweisbaren Nutzen haben, nicht nur eine bessere Arztinformation helfen könnte. Seit 2011 schrieb ein Gesetz zunächst für neue, aber tendenziell auch für Altbestand-Medikamente vor, diese Medikamente bei fehlendem Zusatznutzen nur zu einem niedrigeren Preis als dem, den sich die Hersteller gedacht hatten, auf den Markt kommen zu lassen. Dies nahm in Kauf, dass Hersteller wegen Unrentabilität auch komplett auf das Angebot verzichten könnten.

Wie notwendig eine harte Prüfung des Nutzens ist und wie groß qualitative Effekte sein könnten, zeigten die ersten zwei Praxis-Jahre des Gesetzes. Selbst als jedem Hersteller klar war, seine neuen Medikamente würden nach den Kriterien und Methoden des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) aus dem Jahr 2011 auf ihren Zusatznutzen geprüft und ihr erzielbarer Preis hinge davon, waren von den 50 Medikamenten mit 78 Anwendungsmöglichkeiten, die der Gemeinsame Bundesausschuss bis Ende September 2013 bewertete, 55% ohne Zusatznutzen und nur 12% hatten einen beträchtlichen Zusatznutzen.

Um so unsinniger ist daher allerdings das zwischen den CDU/CSU und SPD-KoalitionsunterhändlerInnen erzielte "Verhandlungsergebnis(se) Gesundheit - Pflege, Stand: 18.11.2013; 23:08 Uhr". Dort wird auf die bisherige qualitative Nutzenbewertung für die Unmassen von bereits zugelassenen Arzneimitteln zu Gunsten einiger finanzieller Vorteile für die GKV verzichtet: "Die mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz eingeführte Nutzenbewertung und die an schließende Verhandlung von Erstattungsbeträgen für innovative Arzneimittel ist ein entscheidender Schritt für eine qualitätsorientierte und wirtschaftliche Arzneimittelversorgung. Allerdings zeigen sich beim Aufruf des so genannten Bestandsmarktes eine Reihe rechtlicher, verfahrenstechnischer und praktischer Probleme. Daher werden wir den gesamten Bestandsmarktaufruf nach § 35a Abs. 6 SGB V beenden. Dies gilt auch für laufende Verfahren. Um das hier ursprünglich geplante Einsparvolumen doch zu erreichen, werden wir das Preismoratorium auf dem Niveau der Preise vom 1.8. 2009 nahtlos fortführen und den Herstellerrabatt auf verschreibungspflichtige Arzneimittel nach § 130a Abs. 1 SGB V ab dem Jahr 2014 von sechs auf sieben Prozent erhöhen." Man muss sich auf der Zunge zergehen lassen, dass hier ein von der immer als pharmanah kritisierten FDP und der CDU/CSU verabschiedetes Gesetz mit aktiver Unterstützung der SPD gekippt bzw. an einem elementaren Punkt entschärft wird.

Einen Überblick über die Witten-Herdecker Vorabstudie vermittelt eine Pressemitteilung der Universität.
Über das Ziel der Hauptstudie Medikationscheck per Software gibt ein Artikel in einer Branchenzeitschrift etwas Auskunft.

Bernard Braun, 25.11.13


Das auch noch wachsende Leid mit den Leitlinien am Beispiel der ambulanten Behandlung von Patienten mit Rückenschmerzen

Artikel 2291 Rückenschmerzen gehören weltweit zu den häufigsten Anlässen für einen ambulanten Arztbesuch. Sie sind auch eine Hauptursache für Arbeitsunfähigkeit, die Verschreibung von schmerzstillenden Mitteln oder Massagen, verschiedene Operationen im Bereich des Rückens und auch von Frühberentung. Wegen dieser gesundheitlichen und ökonomischen Folgen gibt es auch bereits seit vielen Jahren zahlreiche, oft evidenzbasierte Leitlinien für eine wirksame, möglichst schädigungsfreie und wirtschaftliche Behandlung von Rückenschmerz-Patienten.

Ob diese Leitlinien aber die Behandlungskonzepte und -methoden für diese Patientengruppe bestimmen glaubten us-amerikanische Gesundheitswissenschaftler nicht einfach, sondern untersuchten dies mit Daten der bundesweit repräsentativen "National Ambulatory Medical Care Survey" und des "National Hospital Ambulatory Medical Care Survey" aus den Jahren 1999/2000 und 2009/10. Die im Detail untersuchten 23.918 Arztbesuche mit einem Wirbelsäulenproblem repräsentieren geschätzte 440 Millionen Besuche mit schmerzhaften Rückenproblemen.

Die wesentlichen Ergebnisse der beiden Querschnittsuntersuchungen und ihres Vergleichs lauten:

• Während die Geschlechterzusammensetzung in der Untersuchungszeit mit 58% weiblichen Patienten gleich blieb, stieg das Durchschnittsalter signifikant von 49 auf 53 Jahre.
• Die Häufigkeit mit der je Arztbesuch nichtsteroidale entzündungshemmende Medikamente oder das schmerzstillende Acetaminophen verordnet wurden, eine von Leitlinien empfohlene Therapie, sank signifikant von 36,9% auf 24,5%.
• Im Gegensatz dazu stieg die Häufigkeit mit der narkotisierende Medikamente verordnet wurden, wovon Leitlinien abraten, signifikant von 19,3% auf 29,1% an.
• Die Häufigkeit der Überweisung in eine physikalische Therapie - von Leitlinien empfohlen - blieb mit knapp 20% gleich, die zu anderen Ärzten - von Leitlinien nicht empfohlen oder toleriert - stieg ebenfalls signifikant von 6.8% auf 14%.
• Bei den bildgebenden Verfahren - Indikatoren für die Nichtübereinstimmung mit Leitlinien - stagnierte die Häufigkeit von Röntgenaufnahmen bei rund 17%, während die Anzahl der Computer-Tomogramme und Magnetresonanz-Aufnahmen signifikant von 7,2% auf 11,3% stieg.

Sämtliche Trends zeigten sich auch nach einer Unterscheidung von Kurz- und Langzeitbehandlung und Besuchen bei Allgemein- und anderen Fachärzten sowie nach einer Adjustierung nach Alter, Geschlecht, Ethnie, Dauer der Symptome, Region und weiteren Merkmalen.
Trotz zahlreicher publizierter Behandlungsleitlinien nahm die Nichtorientierung an ihnen beim Management und der Behandlung von Rückenschmer-Patienten in rund 10 Jahren zu - trotz der potenziellen Kostenersparnisse und der besseren Behandlungsqualität bei der Orientierung an den Leitlinien.

Ein Kommentator des Aufsatzes fügt der Analyse das Ergebnis einer eigenen Recherche von 183 spezifischen Rückenschmerz-Leitlinien hinzu und erwähnt die von Gesundheitspolitikexperten in den USA geäußerte Frist von durchschnittlich 17 Jahren, die eine Leitlinie oder Erkenntnisse aus randomisierten kontrollierten Studien brauchen, um vollständig im Behandlungsalltag angekommen zu sein. Als wesentliche Gründe nennt der Kommentator fehlendes Wissen, und eine Fülle von leitlinien-adversen Einstellungen und Verhaltensweisen von Ärzten.

Unter seinen Vorschlägen, diesen Zustand zu verbessern, bewertet er als die größte Herausforderung "the vast multitude of individual professional, govermental, payer, employer, and consumer groups that promote self-proclaimed intellectual property-based ownership of interventions … that guarantee the best outcomes for back pain but without formal and rigorous quality of evidence evaluations, such as through systematic reviews." Sein Vorschlag all diese Anbieter mögen sich zusammensetzen und eine gemeinsame Basis für Empfehlungen schaffen, ist sicherlich sinnvoll, vernachlässigt aber, dass viele dieser Anbieter genau an solchen ergebnisoffenen Verständigungsprozessen vor allem aus ökonomischen Gründen kein Interesse haben. Richtig ist schließlich sein bereits in der Überschrift angedeutete Hinweis, das an der Nichtorientierung an Leitlinien auch entsprechende Erwartungen oder Forderungen von Patienten z.B. an bildgebenden Untersuchungen beteiligt sind.

Der Aufsatz Worsening Trends in the Management and Treatment of Back Pain von John N. Mafi et al. ist im September 2013 in der Fachzeitschrift "JAMA Internal Medicine" (173(17): 1573-1581) erschienen. Das Abstract ist kostenlos erhältlich.

Der Kommentar Why don't phycisians (and patients) consistently follow clinical practice guidelines? von Donald Casey ist in derselben Ausgabe der Zeitschrift (S. 1581-1583) erschienen - Abstract kostenlos.

Bernard Braun, 15.10.13


Weniger ist mehr, was man aber erst nach einiger Zeit bemerkt: Ein Beispiel aus der Behandlung von psychisch Kranken

Artikel 2263 "Durchtherapieren", alle unerwünschten Krankheitsphänomene oder -faktoren kriegerisch ("the war on …") "ausrotten" oder "viel hilft viel" sind Einstellungen, Strategien und Erwartungen bei Ärzten, sonstigen Therapeuten sowie Patienten, die möglichst lange bzw. "gründliche" Behandlungen sinnvoll erscheinen lassen und fördern.

Dass eine lange Behandlungszeit auch eine Art Fehlversorgung und einen gesundheitlichen Nachteil darstellen kann oder eine kürzere langfristig einen höheren Nutzen für Erkrankte hat, zeigen jetzt die Ergebnisse einer niederländischen Studie über den heutigen Gesundheitszustand von Personen, die in einer randomisierten kontrollierten Studie in den Jahren 2001 und 2002 wegen einer ersten psychotischen Episode mit Antipsychotika behandelt wurden.

Leitliniengetreu wurde ein Teil der 129 StudienteilnehmerInnen mindestens ein Jahr oder gar bis zu zwei Jahre behandelt. Für den anderen Teil dauerte die medikamentöse Behandlung wesentlich kürzer.
Bei dem jetzt erfolgten 7-Jahre-Follow up zeigte sich bei den Patienten, deren Dosis früh reduziert wurde oder deren medikamentöse Behandlung diskontinuierlich erfolgte oder auch früh abgebrochen wurde, eine signifikant höhere Besserungsrate war als bei den "durchtherapierten" Patienten. Während der Anteil mit höherer Besserungsrate unter den Patienten, die bis zu zwei Jahre durchtherapiert wurden 17,6% betrug, lag er bei den wesentlich kürzer therapierten Personen bei 40,4%.

Selbst wenn die Dauer- oder Langzeittherapie einige kurzfristige Vorteile hat, belegen die Studienergebnisse die Wahrscheinlichkeit , dass nach 7 Jahren beide "original treatment strategy" so oder so einen "profound effect" auf die Besserungsraten haben. Für den Langzeiterfolg einer Versorgung mit Antipsychotika ist u.a. der Anteil von Patienten maßgeblich, der eine möglichst kurze Frühtherapie erhalten hatte. Ob und wie dieser Zusammenhang besteht und ab wann der Nutzen einer kurzen Therapiezeit richtig zum Tragen kommt, wollen die Wissenschaftler in weiteren Studien klären.

Die AutorInnen empfehlen aufgrund ihrer Ergebnisse schließlich, für die Untersuchung des Nutzens von Arzneimitteln und Therapien in der Versorgung psychisch Kranker mindestens Langzeitstudien mit einer Laufzeit von 7 Jahren oder länger durchzuführen.

Der Studienaufsatz Recovery in Remitted First-Episode Psychosis at 7 Years of Follow-up of an Early Dose Reduction/Discontinuation or Maintenance Treatment Strategy. Long-term Follow-up of a 2-Year Randomized Clinical Trial von Lex Wunderink et al. ist am 3. Juli 2013 online first in der Fachzeitschrift JAMA Psychiatry. (2013: 19) erschienen. Das Abstract ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 13.8.13


"Renaissance der Allgemeinmedizin"? Ja, aber nicht nach dem Motto "weiter wie bisher" und "mehr Geld ins System"!

Artikel 2238 Die aktuelle Debatte um die Lage und Zukunft der Allgemeinmedizin oder der hausärztlichen Versorgung werden vor allem durch oft empiriefreie Katastrophen-Szenarien über das Absterben oder lemmingehafte Auswandern von Ärzten, durch Überlegungen zu ausgeklügelten finanziellen Anreizen für Studierende und Praktiker oder durch technische Visionen ohne ausreichend belegten Nutzen (z.B. Telemedizin, E-health) beherrscht. Zu den wesentlichen praktischen Folgen dieser Art der Thematisierung eines Ärzte- oder Hausärztemangels gehört bisher nur, dass insbesondere ländliche Krankenhäuser und Apotheker und wahrscheinlich bald auch andere Gesundheitsberufe ähnliche Nachwuchskrisen entdecken und ebenfalls zusätzliche Gratifikationen anmelden.

Was stattdessen notwendig und vermutlich auch wirklich hilfreich ist, trägt ein im Januar 2013 abgeschlossenes Gutachten des Bremer Gesundheitswissenschaftlers und Mediziners Norbert Schmacke zusammen. Gestützt auf eine umfassende Analyse der internationalen und nationalen Literatur sowie eine Reihe von Interviews mit in- und ausländischen ExpertInnen sowie seine langjährigen Erfahrungen im Gesundheitswesen (z.B. im Bereich des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, beim AOK-Bundesverband und im Gemeinsamen Bundesausschuss) enthält das Gutachten zahlreiche konzeptionelle und praktische "Potenziale", die es im Diskurs über die Zukunft der Allgemeinmedizin mit Vorrang zu nutzen oder zu stärken gilt.

Dabei sind u.a. folgende Aspekte wichtig:

• Vor der Thematisierung jedweden Mangels sollte "die Reflexion von Grundannahmen und Wissensbeständen" erfolgen, "die in das Verständnis der sehr unterschiedlich wahrgenommenen Verteilungsprobleme einfließen."
• Schmacke weist zum einen auf "Wissens- resp. Forschungsdefizite (hin), die bislang dafür verantwortlich sind, dass ein strategisches Planen in Sachen "ärztlicher Bedarf" in hohem Maß auf Vermutungen angewiesen ist." Dies ist vor allem deshalb folgenreich und möglicherweise völlig desorientierend, weil sich damit die Debatte und Praxis der Bedarfsplanung vorrangig auf "vorgefundene Verteilungsmuster" stützt, das bisherige System als gegeben und noch schlimmer als "bewährt" hingenommen oder bezeichnet wird.
• Wer wirklich an substantiellen Fortschritten für Ärzte und Patienten interessiert sei, müsse die Debatte mit "wünschenswerte(n) Ziele(n) der Versorgung und deren Erreichbarkeit" verknüpfen und als einen "nachhaltig intelligenten Suchprozess" organisieren.
• Dafür wäre aber das "massive Investitionsdefizit in versorgungsrelevante Forschung" abzubauen, die sich z.B. um Untersuchungen zur "angemesseneren Positionierung von Allgemeinmedizin in der Versorgungskette" oder die "Einflussfaktoren auf ärztliche Karrieren" kümmern müsse.
• Ferner gelte es nach erprobten internationalen Programmen "allgemeinmedizinische Karrieren … durch gezielte Rekrutierung und partielle finanzielle Unterstützung von motivierten Studierenden zu fördern", den "frühe(n) Kontakt von Medizinstudierenden mit der Allgemeinpraxis" und verlässliche "Weiterbildungsverbünde" zu fördern.
• In allen diesen Aktivitäten und Maßnahmen geht es neben vielen technischen Details auch darum, der Allgemeinmedizin eine "akademische Heimat" zu schaffen, die sich allein im Kontext der bisherigen medizinischen Fakultäten nicht finden lassen wird." Dafür gilt es nach Ansicht Schmackes die "immateriellen Anreize stärker zu gewichten" und einen "Stolz" aufzubauen, "der darin gründet, das eigene "Handwerkszeug" zu kennen und Nutzen stiftend einsetzen zu können". Dazu könnte oder müsste es aber erforderlich sein "von einem dogmatischen Ziel einer allerorten zeitnaher Erreichbarkeit der Generalisten (Allgemeinmedizin, Pädiatrie, Gynäkologie) im bisherigen Verständnis Abschied zu nehmen."
• Vor der Lösung des aus internationaler Praxisperspektive gut zu bewältigenden "als "Hausarztmangel" beschriebene(n) Problem(s) einer ungleichen Verteilung medizinischer Ressourcen in Deutschland" hält Schmacke aber einen "Perspektivwechsel" für erforderlich: "Je länger das Denken dem Gewohnten und dem Status Quo verhaftet bleibt, desto schwerer werden sich erforderliche Kurskorrekturen realisieren lassen. Eine wichtige, breit zu diskutierende Aufgabe ist es, die Qualität und die Effizienz der Versorgung präziser und kleinräumiger als heute ermitteln zu können, um die Steuerung des Gesundheitswesens weniger auf den gesunden Menschenverstand und den Interessenausgleich der professionellen Akteure als auf nachvollziehbare Fakten und die gesundheitlichen Bedürfnisse der Kranken zu stützen."

Man darf gespannt sein, ob, wann und wie der Auftraggeber des Gutachtens, der GKV-Spitzenverband und damit die Gemeinschaft aller Gesetzlichen Krankenkassen, als erstes sein gewohntes Denken und Handeln aufgibt und im Rahmen der Gemeinsame Selbstverwaltung einen Perspektivwechsel propagiert. Zu wünschen wäre dies nach der jahrzehntelangen Status quo-Fixierung der Gesetzlichen Krankenkassen und ihrer Verbände, der Ignoranz von internationalen Reformmodellen (z.B. der "medical home"-Strukturen der Allgemeinärzte in den USA) oder dem oft phantasielosen Liegenlassen zahlreicher gesetzlicher Reformideen (z.B. zur integrierten Versorgung) allemal. Mit dem Gutachten verfügen die GKV und alle anderen Akteure über ein umfassendes Starthilfe-Paket.

Zu den "anderen Akteuren" gehören natürlich die Pflichtvereinigungen der niedergelassenen, also auch der Allgemeinärzte, die Kassenärztlichen Vereinigungen und ihre Verbände. Gegen oder ohne diese dürften die von Schmacke aufgezeigten "Chancen für eine Renaissance der Allgemeinmedizin" und der Versuch "die genannten Förderansätze in einem breiter werdenden gesellschaftlichen Konsens an Gewicht gewinnen" zu lassen weder heute noch in absehbarer Zeit Wirklichkeit werden.
Welche Denk- und Handlungsbarrieren von den KVen überwunden werden müssten, lässt sich zuletzt an dem von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung am 1. März 2013 veröffentlichten Papier Position zur Sicherstellung der ambulanten Gesundheitsversorgung ermessen. Diese schlägt dort vorrangig eine Vielzahl von organisatorischen Maßnahmen und finanziellen Umsteuerungen vor, nur nicht eine inhaltliche Renaissance der Allgemeinmedizin. Nach der berechtigten Kritik an dem trotz Wegfalls der Praxisgebühr wachsenden bürokratischen Aufwand zu Lasten der patientenbezogenen Arbeitszeit steht im Mittelpunkt dieses Positionspapiers ein Konstrukt von drei Wahltarifen, die unterschiedliche Mischungen von Sachleistung, Kostenerstattung, Selbstbeteiligung an Facharztbehandlungen darstellen und neben den sozialen Härten und Fehlsteuerungen von Kostenerstattung vor allem einen enormen zusätzlichen bürokratischen Aufwand erfordern.

Das 105-seitige Gutachten Die Zukunft der Allgemeinmedizin in Deutschland. Potenziale für eine angemessene Versorgung von Norbert Schmacke ist im Februar 2013 als Band 11 in der Schriftenreihe des "Instituts für Public Health und Pflegeforschung (IPP)" der Universität Bremen veröffentlicht und komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 11.3.13


Qualitätsmanagement und Hygiene in Arztpraxen. Ergebnisse einer "nicht inzentivierten" Ärztebefragung

Artikel 2122 Nicht nur für Krankenhäuser, sondern auch für die Praxen niedergelassener Ärzte mit ihren mehreren hundert Millionen Patient-Arztkontakten ist u.a. mit dem § 135a SGB V ("Vertragsärzte … sind … verpflichtet … einrichtungsintern ein Qualitätsmanagement einzuführen und weiterzuentwickeln.") Qualitätsmanagement (QM) und -sicherung gesetzlich vorgeschrieben. Dass dort auf eine ausreichende Hygiene geachtet wird, ist eigentlich auch ohne das SGB V bereits auf der Basis der hippokratischen Ethik (primum nihil nocere) nicht anders zu erwarten.

Die Ergebnisse der gerade veröffentlichten Umfrage "Qualitätsmanagement, Patientensicherheit und Hygiene in der ärztlichen Praxis 2012" der Stiftung Gesundheit bei niedergelassenen Ärzten vermitteln einige interessante Einblicke in die Wirklichkeit.

Interessant und lehrreich sind bereits die Angaben zur Anzahl der befragten und antwortenden Ärzte: Danach haben von den 9.532 online angeschriebenen für die Gesamtheit der ambulant tätigen Ärzte repräsentativen Ärzten und Zahnärzten 290 (Antwortquote: 3,04 Prozent) aussagekräftige Antworten geliefert. Diesen wahrlich nicht gewaltigen Rücklauf rechtfertigen die AutorInnen der Studie mit Argumenten, die für die Ärzteschaft in jeder Hinsicht unschmeichelhaft sind: "Damit liegt der Rücklauf im zu erwartenden Rahmen für eine nicht inzentivierte, unangekündigte Online-Befragung ohne telefonisches Nachfassen."

Die QM- und Hygienewirklichkeit dieser 290 ÄrztInnen sieht dann so aus:

• Auch wenn niedergelassene Ärzte laut Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) seit 2010 die Planungs- und Umsetzungsphase für QM in ihren Praxen abgeschlossen haben müssen, die niedergelassenen Zahnärzte sogar schon seit 2009, geben noch immer 5,9 % der Ärzte und Zahnärzte an, sich bislang für kein QM-System entschieden zu haben. 12,1 % der Mediziner können aber auf Nachfrage nicht den Namen des von ihnen gewählten Systems angeben.
• Mehr als fünf Prozent der antwortenden Praxisbetreiber bescheinigen sich selbst ein schlechtes Hygiene-Niveau und konstatieren auch erhebliche Defizite in der wichtigsten Einzelmaßnahme (Händewaschen). 24,1 % geben ein nur mittelmäßiges Hygieneniveau in ihrer Praxis an und 22,9 % halten das Niveau der Hände-Desinfektion ebenfalls für mittelmäßig. "Insgesamt sehen also jeweils knapp 30 % deutliches Verbesserungspotenzial. Und während sich immerhin mehr als 50 Prozent ein sehr hohes Niveau bei der Hände-Desinfektion bescheinigen, sind es bei der Hygiene insgesamt weniger als 45 Prozent."
• Jede sechste Praxis hat schon einmal einen Hygieneberater in Anspruch genommen.
• "Betracht man die Gruppe derjenigen Praxen separat, die ein nicht optimales Hygieneniveau haben so wird erwartungsgemäß ein höherer Bedarf an Weiterbildung und spezifischen Initiativen gesehen, doch ist der Unterschied nicht sehr ausgeprägt. Auch in dieser Gruppe sehen 42 % keinen Handlungsbedarf - nicht-optimale Hygiene wird hier offenbar als ein verzeihliches Problem gesehen."
• "Bei der Frage, wer das Thema Hygiene bei den niedergelassenen Ärzten und Zahnärzten koordinieren und voranbringen sollte, liegt die Selbstverwaltung ganz vorn: Die Hälfte aller Nennungen entfielen auf die (Zahn-)Ärztekammern als Koordinator und Treiber. KVen, Fachgesellschaften und das Robert-Koch-Institut stehen mit jeweils etwa 30 % der Antworten an zweiter Stelle (Mehrfachnennungen waren möglich). Dagegen liegen diejenigen Institutionen, die eigentlich eine wichtige Rolle spielen sollten, nämlich die Landesgesundheitsämter, mit 16 % abgeschlagen an dritter Stelle."

Auch wenn die VerfasserInnen der Studie die kritischen Ergebnisse ihrer Umfrage als Zeichen des Vertrauens der Ärzte in die "Marke Stiftung Gesundheit" interpretieren, stellt sich doch die Frage nach ihrer Validität und Verallgemeinerbarkeit. Überträgt man Erfahrungen, dass solche Befragungen eher von denjenigen Personen beantwortet werden, die ihre Situation positiv bewerten, könnte die QM- und Hygienewirklichkeit in den ambulanten Praxen eher schlechter aussehen. Wer also ohne Zuhilfenahme von Incentives, sprich Geld und kostentreibendem enormen Kommunikationsaufwand mehr Ärzte zu einer Antwort bewegen kann, sollte diese inhaltlich wichtige Studie replizieren.

Die 32-seitige Studie "Qualitätsmanagement, Patientensicherheit und Hygiene in der ärztlichen Praxis 2012. Eine deutschlandweite Befragung niedergelassener Ärztinnen und Ärzte" von Konrad Obermann, Stefanie Woerns und Peter Müller gibt es komplett kostenlos.

Bernard Braun, 6.5.12


Ärztliche "Überweisungen" von bewegungsarmen Personen in Bewegungsprogramme sind fast wirkungslos

Artikel 2116 Die in Deutschland vorgedachte oder bevorstehende Einführung eines speziellen "Rezepts" mit dem niedergelassene Ärzte bewegungsarmen und übergewichtigen Patienten körperliche Aktivitäten "verordnen" können, ist mit der Hoffnung verbunden, dass damit mehr Wirkung erzielt werden kann als mit gar keiner speziellen Behandlung oder dem einfachen ärztlichen Ratschlag, sich doch mal mehr zu bewegen.

Die Ergebnisse eines systematischen Reviews und einer Metaanalyse von acht randomisierten kontrollierten Studien mit 5.190 TeilnehmerInnen dämpfen allerdings die Erwartungen gewaltig. In diesen Studien wurden die Effekte gezielter Beratung und "Überweisungen" zu professionellen Anbietern von Programmen zur Förderung der körperlichen Aktivität (überwiegend 10 bis 12 Wochen in der Freizeit laufende Programme) auf die Dauer der körperlichen Bewegung, die körperliche Fitness, das Übergewicht, den Blutdruck und ähnliche Körperwerte, das psychische Wohlbefinden ("well-being") oder die gesundheitsbezogene Lebensqualität bei überwiegend sitzend Arbeitenden untersucht.

Bei der Dauer von wenigstens mäßig intensiven körperlichen Aktivitäten von mindestens 90-150 Minuten pro Woche zeigte sich zunächst 6 und 12 Monate nach Beginn entsprechender Studien eine im Vergleich zu den wie gewohnt behandelten Personen um 16% höhere Chance für die überwiesenen Personen diese Marke zu erreichen. Nachdem aber bei den überwiesenen Personen der nicht geringe Anteil der Abbrecher mit berücksichtigt wurde, gab es keine signifikanten Unterschiede mehr. Dies gilt insgesamt auch für die körperliche Fitness und die genannten Körperwerte. Die Studien, welche die Wirkungen der "Bewegungsübungen auf Rezept" auf Ängste oder depressive Zustände untersuchten, zeigen kein einheitliches Bild. Die Heterogenität der Ergebnisse zu den Wirkungen auf die Lebensqualität war so groß, dass keine Metaanalyse durchgeführt werden konnte.
Beim Vergleich der Effekte von "Bewegung auf Rezept" mit einem aus motivierender Beratung und Trainer-Bewegungsprogramm bestehendem alternativen Angebot für körperliche Aktivitäten fanden die britischen Metaanalytiker bei keinem der ausgewählten Indikatoren signifikante Unterschiede. Dies gilt auch dann, wenn zusätzlich zur Überweisung noch verhaltensverändernde Angebote in Anspruch genommen werden.

Dass mit dem Thema "Bewegung auf Rezept" auch sachkundiger und seriöser als in Deutschland umgegangen werden kann, zeigt das Beispiel des britischen "National Health Service (NHS)". Dort hat das "National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE)", eine Art "Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)", dem NHS empfohlen, diese Leistung wegen der unzulänglichen Evidenz nicht oder lediglich probehalber innerhalb einer quantitativ begrenzten kontrollierten Nutzenstudie einzuführen.

Im Vergleich mit dem von den Reviewern als nahezu wirkungslos bewerteten einfachen ärztlichen Ratschlag empfiehlt der Verfasser eines Editorials den Allgemeinärzten trotzdem, den Patienten mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko gezielt Bewegungsprogramme zu empfehlen und sie dort hin zu überweisen - wohlwissend, dass der erwartbare Nutzen gering ist. In jedem Fall empfiehlt es sich aber selbst dann, wenn man diesem Rat folgt, die vorhandenen Ressourcen hauptsächlich für die Entwicklung wirkungsvollerer Interventionen als für die "Bewegung auf Rezept" zu nutzen.

Von der Studie gibt es entweder das Abstract oder auch den gesamten Text kostenlos: Pavey TG et al. (2011): Effect of exercise referral schemes in primary care on physical activity and improving health outcomes: Systematic review and meta-analysis. BMJ 2011 Nov 6; 343:d6462.

Vom Editorial Promoting physical activity in primary care. von Williams NH. (BMJ 2011 Nov 6; 343:d6615) gibt es kostenlos lediglich das Abstract.

Bernard Braun, 18.4.12


Aufgewärmtes zur Praxisgebühr: Unbelehrbar, unbe-irr-bar oder einfach nur irre?

Artikel 2114 In einer kürzlich vorgelegten Stellungnahme mit dem Titel Die Praxisgebühr reformieren - andere Zuzahlungen überdenken versucht die Deutsche Gesellschaft für Gesundheitsökonomie, sich in die aktuelle Debatte über die Praxisgebühr im deutschen Gesundheitswesen einzumischen. Darin fordert der 2008 gegründete Fachverband eine grundsätzliche Umstellung der finanziellen Selbstbeteiligung in der ambulanten Versorgung: In auffälliger Übereinstimmung mit den Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände - siehe hierzu beispielsweise die Meldung Arbeitgeber fordern fünf Euro pro Arztbesuch im Spiegel vom 4. Juni 2010 - schlägt die DGGÖ nun eine Praxisgebühr von fünf Euro pro Arztbesuch vor.

Gerade hatte die gesellschaftliche und politische Diskussion über die ungeliebte Praxisgebühr, die Rot-Grün 2004 im Rahmen des GKV-Modernisierungsgesetzes auf Druck der CDU/CSU-Fraktion eingeführt hatte, kritischer denn je Patientenzuzahlungen im Gesundheitswesen ins Visier genommen. Es herrscht parteiübergreifender Konsens, dass sie keinerlei Steuerungswirkung entfaltet hatte. Für die einen war das ebenso wenig zu erwarten wie bei anderen Zuzahlungsformen, für andere lag das an der Fehlkonstruktion der einmal vierteljährlich anfallenden Gebühr. Im Mittelpunkt der Debatte standen zuletzt unübersehbar die mehr als zwei Milliarden Euro, die über die Praxisgebühr bei Ärzten und Zahnärzten in das Gesundheitswesen fließen, und die Frage der Praxisgebühr reduzierte sich praktisch ausschließlich auf diesen Einnahmeposten und mögliche Auswirkungen einer Abschaffung auf die Finanzierung der GKV.

Nun treten deutsche Gesundheitsökonomen mal wieder mit einem alten Hut auf den Plan und versuchen, die Debatte in eine Ecke zu bewegen, die sie längst hinter sich gelassen hatte. In der Logik ihrer eigenen Profession, aber weitgehend losgelöst vom realen Leben und vor allem von der weltweiten empirischen Evidenz verlangen sie nun eine Rückbesinnung auf vermeintliche Steuerungswirkungen von Zuzahlungen. Wie die Ärztezeitung in ihrem Beitrag Praxisgebühr für jeden Arztbesuch berichtet, soll die Einführung einer Gebühr für jeden einzelnen Arztkontakt die in Deutschland als überdurchschnittlich geltende Zahl der Arztbesuche um 50 Millionen pro Jahr verringern.

Wie die Ökonomen diese Zahl ermittelt haben, sei einmal dahin gestellt. Sie gehört fraglos in den Bereich kalkulatorische Spekulation, die Angehörige dieser Disziplin so gerne in ihren Modellrechnungen anstellen, die trotz aller mathematischer Komplexität grundsätzlich an der Ceteris-paribus-Annahme scheitern müssen, die besagt, alle anderen Bedingungen änderten sich während des modellierten Ereignisses nicht. Eine solche Annahme in einem komplexen System wie dem Gesundheitswesen, in das zusätzlich auch vielfach andere Faktoren aus Wirtschaft, Gesellschaft und Politik hineinwirken, ist günstigstenfalls naiv, im Zusammenhang mit gesundheitspolitischen Ratschlägen aber höchst gefährlich.

Unbeirrbar halten etliche deutsche Gesundheitsökonomen an dem Glauben fest, "Zuzahlungen (können), sofern sie sinnvoll ausgestaltet sind, eine wichtige Funktion erfüllen, indem sie das Kostenbewusstsein der Versicherten stärken und ihnen einen Anreiz geben, auf unnötige oder wenig wirksame Leistungen zu verzichten". Diese Annahme entspringt unverkennbar aus der (mikro-)ökonomischen Markttheorie, die hierzulande wirtschaftswissenschaftliche Lehrbücher und -stühle dominiert. Sie betrachtet das Gesundheitswesen in erster Linie als einen Markt, an dem es Anbieter und Nachfrager gibt und letztere nach jeweils eigenen Präferenzen als Konsumenten über die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen entscheiden. Wie realitätsfern diese Vorstellung des autonomen Patienten ist, veranschaulicht nicht erst das oft bemühte Symbol des ohnmächtigen Menschen, der in seinem akuten Zustand so über die Auswahl seiner Behandlung entscheidet wie Käufer auf anderen Märkten. Der Forderung nach einer Praxisgebühr pro Arztbesuch liegt eine viel grundsätzlichere Annahme zugrunde, die eindrücklich die weit verbreitete déformation professionelle von Ökonomen widerspiegelt und nichts mit dem realen Leben zu tun hat. Eine Aussage wie "Zuzahlungen sollten nicht einfach die Krankenkassen entlasten, sondern das Verhalten der Versicherten in Richtung Sparsamkeit steuern", unterstellt, die Bürger konsumierten Gesundheitsleistungen genau so wie andere Güter. Der Verweis auf den Lustgewinn durch langes Warten in überfüllten Wartezimmern, durch Blutentnahmen, schmerzhafte Zahnbehandlungen und Operationen macht klar, wie unsinnig diese allseits verbreitete Annahme ist.

Zwar ist unbestreitbar, dass finanzielle Selbstbeteiligungen die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen messbar verringern und dieser Effekt mit der Höhe der Zuzahlungen korreliert. Dieser Effekt ist aber in aller Regel zeitlich begrenzt - die abgeschwächte Wirkung der deutschen Praxisgebühr nach zwei Jahren ist nämlich keineswegs ihrer Konstruktion zuzuschreiben, sondern ein typisches mittelfristiges Phänomen bei Eigenbeteiligungen. Bisher gibt es keinen ernst zu nehmenden Beleg für die Annahme, die neu gestaltete 5-Euro-Gebühr würde auf Ewigkeiten, also nachhaltig die Zahl der Arztkontakte verringern.

Was aber in Analogie zu weltweit tausenden anderen Beobachtungen und Experimenten mit Sicherheit zu erwarten ist, sind ein Rückgang der Arztkontakte bei Menschen, für die regelmäßige medizinische Kontrollen und Therapieanpassungen lebensnotwenig sind sowie eine Verschlechterung des Gesundheitszustands chronisch kranker Menschen, insbesondere solcher mit geringem Einkommen. Zusätzlich ist eine Vielzahl von Ausweicheffekten zu erwarten, die nicht nur die ökonomische Ceteris-paribus-Annahme ad absurdum führen, sondern das Gesundheitswesen erheblich teurer zu stehen kommen können; in erster Linie sind vermehrte stationäre Einweisungen zu erwarten, was weniger durch die ebenfalls geforderte Abschaffung der Krankenhauszuzahlung als durch ein DRG-bedingter Expansionsbedürfnis der Betreiber stationärer Einrichtungen zurückzuführen sein dürfte. Aber das Anbieterverhalten, das für die Gesundheitsausgaben um ein Vielfaches entscheidender ist als die "Steuerung" der Patienten, kommt in der DGGÖ-Stellungnahme vorsichtshalber gar nicht erst vor, ŕ propos ceteris paribus ....

Zwei Aspekte der Stellungnahme sind besonders peinlich. Offenbar ist es bisher nicht zu den Ökonomieprofessoren durchgedrungen, dass die Unterscheidung zwischen sinnvollen und überflüssigen Gesundheitsleistungen realitätsfern und praxisuntauglich ist. Eine ex-ante-Unterscheidung in "gerechtfertigte" und "unvernünftige" bzw. überflüssige Inanspruchnahme mag aus mikroökonomisch-theoretischer Sicht verlockend sein, geht aber an der Situation im Gesundheitswesen völlig vorbei. Vielfach weiß selbst der Fachmann erst nach eingehenden Untersuchungen, ob ihn ein Patient "berechtigterweise" in Anspruch genommen hat oder sein Besuch "überflüssig" war. Patienten sind mit dieser Entscheidung grundsätzlich überfordert, solange sie nicht selber ausreichende theoretische und praktische Kenntnisse der Humanmedizin erworben haben.

Nur als naiv kann man die Einschätzung der DGGÖ bewerten, die Praxisgebühr in Deutschland sei wegen der Deckelung auf 2 % und bei chronisch Kranken auf 1 % nicht unsozial. Feste Praxisgebühren sind und bleiben unverrückbar regressiv, belasten also Menschen mit geringem Verdienst relativ gesehen stärker als Bezieher höherer Einkommen. Diese Erkenntnis sollte man bei Gesundheitsökonomen als bekannt voraussetzen - die Frage ist folglich nur, ob man es als sozial ansieht, dass 400-Euro-Jobber nach dem DGGÖ-Vorschlag 1,25 und Arbeitnehmer an der Beitragsbemessungsgrenze von zurzeit 3.825 EUR nur 0,13 % ihres Einkommens für einen Arztbesuch ausgeben müssen. Mit dem Solidarprinzip steht diese sozial ungleiche Belastung auf jeden Fall nicht im Einklang.

Nachweislich schlägt sich - wie in einem früheren Forumsbeitrag nachzulesen war - die Belastung durch finanzielle Selbstbeteiligungen in Deutschland bei überschuldeten Haushalten nieder. So stellten Wissenschaftler aus Mainz und Nürnberg bereits 2010 fest, Zuzahlungen für Arztbesuche und Medikamente "reduzierten Inanspruchnahme und damit zu einer Benachteiligung in der medizinischen Versorgung führen von Geringverdienern. Von dem lesenswerten Artikel Überschuldung und Zuzahlungen im deutschen Gesundheitssystem - Benachteiligung bei Ausgabenarmut ist allerdings nur das Abstract kostenfrei erhältlich.

Die Forderung nach wissenschaftlicher Begleitforschung für die gewünschte Praxisgebühr pro Arztbesuch ist selbstverständlich zu begrüßen, auch wenn er kaum verhohlen den Versuch einer anbieterinduzierten Nachfragesteigerung bedeutet. Hier ist allerdings größte Vorsicht geboten: Eine seriöse Begleitforschung über Effekte von Zuzahlungen muss weit über die Ansätze hinausgehen, die Gesundheitsökonomen gemeinhin anwenden. Beiträge wie Optimal deductibles for outpatient services in der DGGÖ-Vereinszeitschrift European Journal of Health Economics - ein früherer Forumsbeitrag analysiert den ausgesprochen beschränkten Untersuchungsansatz ausführlicher.

Der Vollständigkeit halber muss man natürlich auch erwähnen, dass keineswegs alle deutschen Gesundheitsökonomen hinter der DGGÖ-Stellungnahme stehen. Das macht zum Beispiel der Leiter des Wissenschaftlichen Instituts der AOK, Klaus Jacobs, in dem Beitrag "Die Debatte um die Praxisgebühr geht an der Versorgungswirklichkeit vorbei" klar, der in der AOK-Medienservice-Ausgabe von April 2012 verschiedene Aspekte anführt, warum Patientenzuzahlungen für Arztbesuche der falsche Weg sind. In der Mai-Ausgabe von Gesundheit und Gesellschaft, dem AOK-Forum für Politik, Praxis und Wissenschaft, führt Klaus Jacobs in seinem Beitrag Ungebührlicher Zankapfel noch einmal wesentliche Kritikpunkte an der Stellungnahme der DGGÖ auf den Punkt.

An dieser Stelle sei auch angemerkt, dass die DGGÖ-Stellungnahme zur Praxisgebühr wichtige Botschaften und Ziele der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ignoriert und sogar konterkariert. Das ist insofern bemerkenswert, als die Bezeichnung Deutsche Gesellschaft für Gesundheitsökonomie einen gewissen Bezug zu der einzigen international anerkannten, Normen setzenden Fachbehörde der Vereinten Nationen im Bereich Gesundheit erwarten ließe. Aber der DGGÖ-Vorschlag widerspricht zum einen den WHO-Empfehlungen zur universellen Absicherung im Krankheitsfall, die auch auf die Verringerung der unmittelbaren finanziellen Belastung durch Gesundheitsausgaben abzielt. Zum anderen übergeht sie non-challant relevante und vielfach empirisch belegte Erkenntnisse über den großen Einfluss sozialer Determinanten auf die Gesundheit der Menschen, nachlesbar auf der WHO-Seite zu Social determinants of health: Als nicht einkommensabhängige finanzielle Abgaben belasten Zuzahlungen im Krankheitsfall ärmere Menschen stärker als besser gestellte, halten sie öfter von der Inanspruchnahme ab und verstärken die ohnehin bestehende soziale Benachteiligung, anstatt zu ihrem Abbau beizutragen. Diese Zusammenhänge zu erkennen, sollte man eigentlich von Gesundheitsökonomen erwarten dürfen.

Die Stellungnahme der DGGÖ Die Praxisgebühr reformieren - andere Zuzahlungen überdenken vom 11. April.

Jens Holst, 12.4.12


Hausärzte in Brandenburg: Gesetzliche "Gesundheitsuntersuchung" nicht sinnvoll, außer mit IGeL-Zusatzleistungen

Artikel 1996 Seitdem im Jahr 1989 mit dem § 25 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches jeder Versicherte in einer gesetzlichen Krankenkasse den Anspruch erhielt, nach Vollendung des 35. Lebensjahres jedes 2. Jahr eine "ärztliche Gesundheitsuntersuchung zur Früherkennung von Krankheiten, insbesondere zur Früherkennung von Herz-Kreislauf- und Nierenerkrankungen sowie der Zuckerkrankheit" durchführen zu lassen, ist diese auch als "Check Up 35" propagierte Leistung umstritten. Der Streit und Zweifel am Sinn der Leistung entzündete sich vor allem an der sich stabil zwischen 20% und allerhöchstens 50% bewegenden Inanspruchnahme, der mangelnden Spezifität und Sensitivität der Check Up-Untersuchungen, die häufig wegen Mängel durch weitere Untersuchungen geklärt werden müssen und der häufigen therapeutischen Folgenlosigkeit von Screeningergebnissen. Trotzdem gab es weder von Krankenkassen- noch von Seiten der Ärzteschaft offene und konsequente Forderungen, diese Leistung in dieser Form wieder abzuschaffen. Bei den Ärzten mag dafür die extrabudgetäre Vergütung der Leistungen eine gewisse Rolle spielen.

Ob und wie kritisch Ärzte die Wirksamkeit der Leistung sehen, wurde jetzt das erste Mal mittels eines Fragebogens ermittelt, der im Frühjahr 2009 an eine repräsentative Stichprobe von 748 im Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburgs tätigen Hausärzte verschickt und von 274 oder 37% von ihnen auch ausgefüllt wurde.

Die wichtigsten Ergebnisse:

• Die Befragten hatten genügend Erfahrung mit der Gesundheitsuntersuchung. Sie führten sie im Median 40mal pro Quartal durch.
• Nur 4% boten die Untersuchung in der zwischen Krankenkassen und Ärzteschaft vereinbarten Standardform durch. Die restlichen 96% verknüpften das Standardprogramm mit weiteren Untersuchungen zur Früherkennung, die nur bei 49% der Ärzte zu keinerlei finanziellen Belastungen der Patienten führen. Am häufigsten wurde die Kreatinin-Bestimmung durchgeführt. Weit über zwei Drittel der Hausärzte führen aber auch "praktisch immer" oder in der Mehrzahl der Fälle ein kleines Blutbild, diverse Cholesterinwerteuntersuchungen oder Ruhe-EKGs durch. Dies ist insoweit bemerkenswert, weil der damalige Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (eine Art Vorläufer des seit 2004 für solche Fragen zuständigen "Gemeinsamen Bundesausschusses") einige dieser und andere Leistungen bereits 1999 als nicht hinreichend wissenschaftlich begründet aus dem Untersuchungskatalog der Gesundheitsuntersuchung gestrichgen hat.
• Die Beurteilung der Leistung ist zwiespältig: In ihrer derzeit offiziell vorgesehenen Form halten sie 52% der Befragten für "nicht sinnvoll" oder "eher nicht sinnvoll". Zum Teil anders sieht es aus, wenn die Ärzte sagen sollen, welchen Nutzen die Untersuchung in Detailangeboten hat: Fast 90% beurteilen dann den Nutzen für die Beratung über individuelle Risikofaktoren für "hoch" oder "eher hoch". Ähnlich hoch wird der Nutzen für die Erkennung von Risikofaktoren bewertet. Wenn es um die Entlastung von Gesundheitssorgen oder um die Auseinandersetzung mit psychosozialen Problemen, sehen aber nur noch rund 50% und weniger der Hausärzte einen Nutzen der Gesundheitsuntersuchung. Teilweise wird daher nur das zusätzliche Angebot, d.h. ein Angebot für das der Check Up nur der Aufhänger ist, als nützlich bewertet.

Was dies nun für die künftige Versorgung bedeutet, bleibt bei den AutorInnen der Studie diplomatisch in der Schwebe. Die unter den brandenburgischen Hausärzten weit verbreitete Neigung, die Gesundheitsuntersuchung zum Anlass zu nehmen, um zum Teil zweifelhafte aber in vielen Fällen für die NutzerInnen kostspielige individuelle Gesundheitsleistungen zu verkaufen, führt lediglich zu dem Vorhalt, es bleibe "unklar, inwieweit die präventive Wertigkeit dieser Untersuchungen von den durchführenden Hausärzten reflektiert wird." Dass das Problem aber damit gelöst wird, dass der vermutete "Qualifizierungsbedarf über Möglichkeiten und Grenzen von Früherkennungsmaßnahmen" befriedigt wird, erscheint nach allem was man über die Wirksamkeit der existierenden Qualifizierungsmaßnahmen weiß zu kurz und/oder in die falsche Richtung gegriffen.

Vermutlich werden aber von allen Beteiligten unter Verweis auf die geringe oder verzerrte (Nichtteilnahme der Ärzte, die überhaupt kein Check Up anbieten) Beteiligung von Hausärzten und die Nichtrepräsentativität der Brandenburger Hausärzte die Ergebnisse so lange in Frage gestellt bis auf praktische Schlussfolgerungen guten Gewissens verzichtet werden kann.

Der Aufsatz "Die Gesundheitsuntersuchung: Welchen Nutzen sehen Brandenburger Hausärzte?" von Sebastian Regus et al. ist in der aktuellen Ausgabe der "Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen" (Volume 105, Issue 6, 2011: 421-426) erschienen. Kostenlos ist leider nur das Abstract erhältlich.

Bernard Braun, 2.9.11


Wenig Wissen über Radiologen, mehr Kontakte gewünscht aber hochzufrieden - "Blindes Arzt-Vertrauen" oder "health illiteracy"?

Artikel 1954 75% der dazu befragten 1.001 Bürgern waren schon einmal Patient bei einem Radiologen, nur 18% hatten Angst vor Strahlung bei einer radiologischen Untersuchung, 94% halten die Radiologie für wichtig oder sehr wichtig und 70% waren mit ihrem Radiologen zufrieden oder gar sehr zufrieden - aber nur 37% derselben Personen wussten auf Befragen, dass Radiologen Röntgenaufnahmen erstellen und noch viel weniger von ihnen wussten, was diese Fachärzte sonst noch leisten. 66% aller Befragten gaben aber unabhängig davon an, sie hätten ein hohes oder sehr hohes Interesse an medizinischen Themen.

Dies sind die paradoxen Ergebnisse einer von der Deutschen Röntgengesellschaft in Auftrag gegebenen, im Herbst 2010 durchgeführten und jetzt veröffentlichten repräsentativen telefonischen Bevölkerungsumfrage.

Auch weitere Teilergebnisse der Befragung lassen eher Verwunderung und Zweifel über die insgesamt hohe Zufriedenheit zurück als klare Erkenntnisse: So wünschen sich 69% der Befragten beispielsweise eine bessere Aufklärung hinsichtlich der Risiken der Untersuchung und 67% wünschen sich dies auch hinsichtlich des Nutzens der Untersuchung. 83 % gaben an, dass ihnen beim Besuch des Radiologen, als einem Facharzt mit "Technik-Image" das Arzt-Patienten- Gespräch wichtig sei. Nur 39 % der Befragten, die schon einmal beim Radiologen waren, gaben aber an, dass dieser den Befund mit ihnen besprochen hätte. Diese Besprechungen erfolgten dagegen bei 47% der privat Versicherten.

Ähnlich hin- und hergerissen wirken die Befragten auch beim Thema Nukearmedizin und Strahlentherapie: Einerseits ist die Strahlentherapie in hohem Maße akzeptiert. 75 % und mehr der Befragten halten die Strahlentherapie für eine wichtige Behandlungsoption bei Krebserkrankungen, 74 % halten den Einsatz der Strahlentherapie für die Heilung vieler Tumoren für unverzichtbar. Trotzdem würden 37 % der Befragten einem Freund/Familienangehörigen eine medizinisch indizierte Strahlentherapie nur mit Bedenken empfehlen und lediglich 35 % würden keine Bedenken äußern. Woran dies liegen könnte zeigen die Antworten auf die Frage, welche Gefühle bei der Nutzung von Strahlung in der Medizin überwiegen würden. 51 % der Befragten sagten, dass der therapeutische Nutzen überwiegen würde; 42 % gaben aber an, dass die Angst vor Nebenwirkung oder Spätfolgen der Strahlentherapie überwiegen würde.

Hier bestätigt sich zum Teil die in den Befragungen des "Gesundheitsmonitors" der Bertelsmann Stiftung in früheren Befragungswellen zum Vertrauen in die Ärzte und zu einer Reihe ihrer Eigenschaften und Tätigkeiten wiederholt identifizierte eigenartige Diskrepanz zwischen hohem Vertrauen in "den" Arzt und erheblich vermindertem Vertrauen in nahezu alle Tätigkeiten derselben Ärzte.

Neu und unerwartet ist, dass derartig wenige Personen mit dem selbst berichteten Interesse an und der Erfahrung mit dem medizinischen Bereich so wenig spezifische Kenntnisse haben, was denn der "Radiologe" zu dem sie ihr Hausarzt überweist, eigentlich konkret macht. Wenn die Erklärung nicht eine rein sprachliches Unverständnis der Fachbezeichnung Radiologe, also ein Befragungsfehler ist, gibt es in der Befragung auch einige Hinweise, was für PatientInnen jenseits von genauen Kenntnissen über die Tätigkeit des Arztes und seiner Aufklärungsleistungen bei Beurteilungen von Ärzten wichtig ist: Die schmerzlose Untersuchung durch Apparate und natürlich fachkundiges Personal!

Weitere Untersuchungen müssten klären, auf welcher kognitiven, emotionalen und verhaltensmäßigen Grundlage Patienten sich bei der Suche und Bewertung von Ärzten bewegen und ob die Annahmen über die dominant rational bestimmte subjektive Basis stimmen, von der die immer zahlreicher werdenden Informations- und Entscheidungshilfe-Angebote Patienten "abholen" wollen.
Fachgesellschaftliche Quintessenzen der Art, dass "die Radiologie (die strahlenden Fächer) als ärztliche Disziplinen wahrgenommen und hoch geschätzt (werden) oder dass "die Apparatemedizin positiv belegt" ist und "als sinnvoll erachtet" wird, machen es sich zu einfach.

Sowohl die Kurzfassung der Präsentation als auch die etwas längere Langfassung gibt es kostenlos. Auf 110 Seiten eines ebenfalls kostenlos erhältlichen Tabellenbandes findet der Interessierte noch eine Fülle von detaillierteren Informationen zum Thema und Ansatzpunkte für die weitere Beschäftigung mit dem Thema.

Zur weiteren Irritation über scheinbar gesicherte Wissensbestände zur ambulanten Versorgung tragen einige Daten auch noch bei: So geben die Befragten ähnlich wie in einigen anderen Befragungsstudien als Anzahl aller Arztbesuche in den letzten Monaten 6 und nicht die immer wieder aus Routinedaten einer einzigen Krankenkasse ausgezählten, geschätzten und heftig kommunizierten 18 Besuche.

Bernard Braun, 3.6.11


USA: Tele-Videokonferenzen mit Fachärzten ermöglichen auch die Behandlung schwieriger Erkrankungen durch Hausärzte auf dem Lande!

Artikel 1953 Zu einem der viel versprechenden Instrumente des Telemonitoring als einem Standbein der verheißungsvoll auftretenden Telemedizin gehören indikationsspezifische Audio- oder Videokonferenzen zwischen Allgemeinärzten und den in ländlichen Gegenden meist weit entfernten Spezialisten. Gerade für die weltweit überall mindestens mit Fachärzten unterversorgten ländlichen Gegenden versprechen diese Techniken eine bessere, preisgünstige oder überhaupt eine Versorgung. Ob aber PatientInnen davon wirklich einen gesundheitlichen Nutzen haben, muss methodisch verlässlich nachgewiesen und nicht nur den Herstellern der Technik oder Gesundheitspolitikern, die vor dem Problem der ungleichen Versorgungschancen auf dem Lande stehen, geglaubt werden.

Für die Versorgung von PatientInnen, die in den überwiegend ländlichen Regionen des US-Bundesstaates New Mexico an Hepatitis C erkrankt waren und eine sehr komplexe und mit ernsten Nebenwirkungsrisiken verbundene Behandlung brauchen, ist der Nutzennachweis nun in einer kontrollierten Studie gelungen.

In einer prospektiven Kohortenstudie wurde eine Gruppe von 146 PatientInnen, die wegen ihrer Hepatitis-Infektion im Klinikum der Universität von New Mexiko behandelt wurde mit einer Gruppe von 261 in ländlichen Gegenden wohnenden und von einem Allgemeinarzt behandelten PatientInnen verglichen. Die insgesamt 407 PatientInnen waren vor der Studie nicht wegen ihrer Infektion in ärztlicher Behandlung gewesen. Die Allgemeinärzte auf dem Lande waren Nutzer eines so genannten "Extension for Community Healthcare Outcomes (ECHO) model", das im Kern eine Videokonferenztechnologie ist, mit deren Hilfe die Allgemeinärzte sich von weit entfernten Spezialisten u.a. in einer Art regelmäßiger Fallkonferenz oder Qualitätszirkel qualifizieren, trainieren, beraten und unterstützen lassen, schwierige oder komplexe Erkrankungen ohne Facharzt vor Ort zu behandeln.
Der primäre Endpunkt und Indikator für die Ergebnisqualität der Behandlung war der so genannte "sustained virologic response (SVR)". Dieser Indikator bedeutet, dass sechs Monate nach Beendigung der Behandlung kein Hepatitis C-Virus mehr im Blut gefunden wird. Trotz der Möglichkeit, dass einige Viren lediglich unterdrückt sind, d.h. auch wieder akute Probleme auslösen können, gilt ein rascher SVR als das Zeichen für hohe Behandlungsqualität.

Die Ergebnisse in den beiden PatientInnengruppen sahen so aus:

• 57,5% der Erkrankten, die in der Universitätsklinik behandelt wurden hatten einen SVR.
• Dieses gute Behandlungsergebnis fand sich auch bei 58,2% der ECHO-PatientInnen, wobei der kleine Unterschied von 0,7 Prozentpunkten rein zufällig war.
• Auch bei einer Untergruppe der Erkrankten (Genotyp 1-Infektion) betrug die Rate des SVR bei den PatientInnen des Uni-Klinikums 45,8% und das der durch ihren telemedizinisch unterstützten Hausarzt behandelten Personen 49,7%. Der Unterschied zu Gunsten der ECHO-PatientInnen war ebenfalls nicht signifikant.
• Ernste unerwünschte Effekte traten bei 13,7% der Klinik-PatientInnen und 6,9% bei den Hausarzt- und ECHO-PatientInnen auf. Dieser statistisch signifikante Unterschied (p=0,02) führte bei 8,9% der Uni-Klinik-PatientInnen und 4.2% der ECHO-PatientInnen zum vorzeitigen Abbruch der Behandlung.

Die auf Videokonferenzen gestützte Behandlung von Hepatitis C-PatientInnen in spezialärztlich unterversorgten Gebieten hat sich damit eindeutig als wirksame Möglichkeit erwiesen, derartig Erkrankte auf qualitativ hohem Niveau zu behandeln. Daran halten die WissenschaftlerInnen der Studie auch trotz einiger Grenzen ihrer Studie fest. Dazu zählt, dass die Studie etwas zu klein war und weder die TeilnehmerInnen noch die behandelnden Ärzte aus ethischen Gründen randomisiert waren. Ebenfalls aus ethischen Gründen und der Sorge vor den schweren Nebenwirkungen der Therapie entschieden sich die WissenschaftlerInnen gegen eine Kontrollgruppe von Landärzten, welche die Behandlung auch ohne externe Unterstützung anbieten hätten müssen.

Von dem Aufsatz "Outcomes of Treatment for Hepatitis C Virus Infection by Primary Care Providers" von Sanjeev Arora et al., der am 1. Juni 2011 im "New England Journal of Medicine" erschienen ist, gibt es kostenlos lediglich das Abstract.

Bernard Braun, 2.6.11


"Optimale" feste Selbstbeteiligungenn der ambulanten Versorgung - Nicht der Stein der Weisen!

Artikel 1929 Ein kürzlich im European Journal of Health Economics veröffentlichter Artikel untersucht den Effekt von so genannten Selbstbehalten - also den Ausgabenanteilen, die Versicherungsunternehmen selbst behalten, weil sie Versicherte jedes Jahr erst einmal aus eigener Tasche aufwänden müssen, bevor ihre private Kasse einspringt. Die Auswertung beruht auf den Daten der Wahrscheinlichkeitstafeln der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. Die BaFin erfasst jährlich die anschaulich als Kopfschäden bezeichneten Leistungsausgaben der Privaten Krankenversicherung (PKV) nach Alter, Geschlecht und Art der Leistung und gruppiert sie nach jährlichen Selbstbeteiligungen.
Die Berechnungen des Berliner Versicherungsmathematikers Karl Michael Ortmann von der Beuth Hochschule für Technik auf Grundlage der PKV-Daten weisen darauf hin, dass "optimale" absolute jährliche Festzuzahlungen oder Jahresfranchisen für ambulante Leistungen im gleichen Zeitraum die Inanspruchnahme und damit die Leistungsausgaben für die ambulante Versorgung insgesamt um bis zu 35 % verringern können. Optimal ist dabei in einem utilitaristischen Sinne als Summe des "Selbstbehalts" und Inanspruchnahme versicherter Leistungen im Sinne maximaler Kostenersparnis errechnet.
Auf den ersten Blick wirkt das Ergebnis tatsächlich bestechend: Mit Hilfe derartiger "optimaler" Selbstbeteiligungen lässt sich demnach mehr als ein Drittel der ambulanten Versorgungsausgaben einsparen. Im Fazit des Autors ist ein uneingeschränkter Glaube an segensbringende Wirkungen von Patientenzuzahlungen unübersehbar: "Sharing risk can establish a win-win situation for both parties. If both the insurer and the insured participate in paying claims the total financial burden may be reduced since everyone is interested in keeping costs at a minimum."

Allerdings schränkt der Autor selber das von ihm ermittelte phantastisch anmutende Einsparpotenzial gleich selber um fast die Hälfte ein, denn er habe ja leider aufgrund der Datenlage keine Unterteilung nach Inanspruchnahmeverhalten vornehmen können. Die so genannte Selbstselektion der Käufer von Gesundheitsleistungen führe dazu, dass Menschen mit höherer Nachrage geringere Selbstbeteiligungen bevorzugen. Im Klartext: Chronisch Kranke können eigentlich kaum ein Interesse an festen jährlichen Selbstbeteiligungen haben, da sie diese prinzipiell regelmäßig aufbringen müssen und schwerlich die Chance haben, hier zu sparen. Genau das ist aber ein Kernproblem der gesamten Zuzahlungs- und Moral-Hazard-Debatte, wie selbst deren Förderer Mark Pauly spät, aber dennoch eingestehen musste: Das Moral-Hazard-Theorem liefert bisher absolut keine Antwort auf das Problem kostspieligerer Versicherter - die bekanntlich 80 % der Gesundheitsausgaben verursachen.

Da Zuzahlungen offenbar zu den chronisch-rezidivierenden Themen der gesundheitspolitischen Debatte gehören, waren Selbstbeteiligungen schon immer wieder Thema im Forum Gesundheitspolitik. An dieser Stelle sei insbesondere auf die eher grundsätzlichen Beiträge zur Zuzahlungsproblematik hingewiesen, beispielsweise Was Sie schon immer über Zuzahlungen wissen wollten ..., Der unerschütterliche Glaube an Kostendämpfung durch Zuzahlungen, Womit können Therapietreue und Wirtschaftlichkeit verbessert werden?: "Weniger Zuzahlungen verbessern die Therapietreue!" oder Alte und neueste Ergebnisse der Forschung über erwünschte und unerwünschte Wirkungen von Zuzahlungen im Gesundheitsbereich.

Bemerkenswert bei dem Artikel von Ortmann die Nonchallance, mit der er als Versicherungsmathematiker über grundsätzliche Unterschiede zwischen der "Nachfrage auf dem Gesundheitsmarkt" und der nach "normalen Gütern" hinweg geht. So als wäre die Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen nicht viel stärker vom gesundheitlichen oder medizinischen Bedarf bestimmt als vom Bedürfnis befriedigendem Konsumverhalten. Die wissenschaftliche Diskussion über optimierte Zuzahlungsbedingungen bezieht seit etlichen Jahren Wirksamkeitskriterien in die Betrachtung ein, so genanten value-based benefit plans versuchen, de evidenzbasierten medizinischen Bedarfskriterien durch gestaffelte Zuzahlungen in Abhängigkeit von der nachgewiesenen Wirksamkeit einer Therapie, aber auch von der Nutzung von Generika oder Markenpräparaten, zu berücksichtigen. Auch hierzu berichteten wir im Forum Gesundheitspolitik bereits mehrfach, z.B. in dem Beitrag Zuzahlungen im Krankheitsfall: Versorgungsforschung widerlegt zunehmend kostendämpfendes Potenzial. Der Artikel über die vermeintlich Segen bringendem Effekte von festen jährlichen Selbstbeteiligungen in der Peer-Review-Zeitschrift EJHE, das sich immerhin eines Impact-Faktors von 1,337 rühmt, hinkt deutlich hinter dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Debatte her und liefert allein daher kaum hilfreiche Hinweise für die gesundheitspolitische Debatte.

Auch andere grundlegende und für das modellierte Ergebnis wesentliche Selektionsbedingungen lässt Karl Michael Ortmann außer Acht. So beschränkt sich seine Betrachtung auf PKV-Versicherte, als auf mehrheitlich besser Verdienende oder zumindest in vergleichsweise stabilen Arbeitsverhältnissen beschäftigte BürgerInnen dieses Landes. Die Frage, ob und wie weniger privilegierte Personen, wie sie n der ((Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) anzutreffen sind, die teils nicht unerheblichen jährlichen Eigenbeteiligungen überhaupt aufbringen sollen. Für etwa vier Millionen Hartz-IV-EmpfängerInnen und rund sieben Millionen Niedriglohnempfänger in diesem Land wären die vorgeschlagenen Selbstbeteiligungsoptionen alles andere als optimal, sondern würden einen erheblichen Eingriff in die Haushaltskasse darstellen.

Überaus bedenklich ist die ausschließliche Betrachtung der Auswirkungen von "optimalen Zuzahlungen" für die ambulante Versorgung auf ambulante Leistungen. Dass der Autor dies nicht einmal als Einschränkung und potenzielles Problem seiner Analyse benennt, lässt nur den Schluss zu, dass er die aktuelle Evidenzlage in der Versorgungsforschung nicht kennt oder nicht zur Kenntnis nimmt. Die Zuzahlungsforschung weist immer wieder Auswirkungen von Selbstbeteiligungen für Medikamente, diagnostische und andere ambulante Leistungen auf andere Leistungsausgabensparten sowie außerhalb des Gesundheitswesens nach. Eine überwältigende Fülle von Forschungsergebnissen einschließlich etlicher Meta-Analyse weist darauf hin, dass nicht jede eingesparte Gesundheitsleistung gut ist, sondern häufig Komplikationen und damit komplexere und kostspieligere Leistungen nach sich ziehen, Verlagerungen in andere Bereiche wie stationäre Heimunterbringungen verursachen und wirtschaftliche Einbußen durch Produktionsausfälle bewirken können. Die beschränkte Betrachtung eingesparter ambulanter Leistungen wird dem Stand der wissenschaftlichen Debatte über das Thema Zuzahlungen im Krankheitsfall nicht ansatzweise gerecht.

Überhaupt liegt dieser Artikel voll im Trend der ökonomischen Annäherung an das Thema Zuzahlungen im Gesundheitswesen. So betrachtet dieser Artikel wie selbstverständlich das berühmte moral hazard als unumstößliche Gegebenheit obwohl es bisher weder klare, messbare Kriterien noch empirisch belastbare Hinweise auf seine Existenz oder gar seine Bedeutung gäbe. Und natürlich folgt auch dieser Artikel der unter Ökonomen anhaltend verbreiteten Auffassung, das zwischen 1971 und 1982 in den USA durchgeführte so genannte RAND Krankenversicherungsexperiment sei weiterhin die "prominenteste Studie auf dem Gebiet der Zuzahlungen im Krankheitsfall. Daran sind aber mittlerweile vielfache und begründete Zweifel aufgetaucht, folgte das RAND-Experiment doch einem sehr engen Fokus und lässt relevante Effekte völlig außer Acht, wie beispielsweise die Canadian Health Services Research Foundation (CHSRF) in ihren Myth busters aufzeigt. Das Zweifel an der Aussagekraft des RAND-Experiemnents schon länger bekannt sind, zeigt auch der Beitrag mit dem knackigen Titel Lies, Damned Lies, and Health Care Zombies: Discredited Ideas That Will Not Die von GesundheitswissenschaftlerInnen der Universität British Columbia aus dem Jahr 1998.

Von dem Beitrag Optimal deductibles for outpatient services steht Nicht-AbonentInnen nur das Abstract kostenfrei zur Verfügung.

Jens Holst, 13.4.11


Wie realistisch ist die Prognose von 950.000 im Jahr 2030 fehlenden ärztlichen und nichtärztlichen Fachkräften?

Artikel 1862 Die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage bei ambulant und stationär tätigen ÄrztInnen wird von derzeit 17.300 bis 2030 auf 165.400 fehlende Mediziner anwachsen. Im Jahr 2030 droht damit jede dritte Arztstelle in Krankenhäusern unbesetzt zu sein. Im ambulanten Bereich wird dann die Hälfte der für die Versorgung benötigten Ärzte fehlen. Noch dramatischer sieht es im Pflegebereich aus: Die Anzahl von heute in stationären Einrichtungen fehlenden 8.400 Krankenschwestern, Pfleger und Hebammen wird bis 2030 auf mehr als 350.000 anwachsen. Damit wäre jede zweite nicht-ärztliche Stelle bis zum Jahr 2030 in deutschen Krankenhäusern unbesetzt. Insgesamt droht in der Gesundheitsversorgung in zwanzig Jahren eine Personal-lücke von 950.000 ärztlichen und nicht ärztlichen Fachkräften.

Dies jedenfalls sind die schlagzeilenträchtigen Ergebnisse einer von der Unternehmensberatungsfirma PricewaterhouseCoopers (PwC) in Auftrag gegebenen und vor wenigen Tagen veröffentlichten 80-seitigen Studie von Wissenschaftlern des Wirtschaftsforschungsinstituts WiFOR. Sie werteten dazu u.a. mehr als zwanzig Millionen Datensätze zu Arbeitsmarkt, Altersstruktur und Ausbildungsentwicklung der ärztlichen und nicht-ärztlichen Fachkräfte im Gesundheitswesen aus.

Für die weitere Debatte über die Dringlichkeit und das Gewicht des prognostizierten Fachkräftebedarfs spielen vor allem die Annahmen über die Nachfrage, die dieses Angebot erfordert, eine wichtige Rolle. Dies trifft auch auf die vorgestellten Lösungsvorschläge zu.

Die Autoren beginnen ihren insgesamt allerdings sehr knapp gehaltenen Versuch, den Personalbedarf abzuleiten, mit dem Hinweis, dass "in der Literatur … hauptsächlich demografische, ökonomische, soziale und kul-turelle Einflussfaktoren auf die Arbeitsnachfrage im Gesundheitswesen genannt (werden)" und konstatieren, dass "die Prognose der Nachfrage … alle genannten quantitativen und qualitativen Faktoren berücksichtigen (sollte), um ein möglichst aussagekräftiges Ergebnis zu erzielen." Sie folgen diesem Programm aber dann aus praktischen Gründen nicht: "Da dies aber kaum möglich ist, müssen bei der Prognose in einem oder mehreren Bereichen Vereinfachungen vorgenommen werden. Dies sichert die Praktikabilität der Durchführung der Analyse." Stattdessen sehen sie "die Veränderungen der Altersstruktur und der Morbidität der Bevölkerung als zentrale Punkte für die Prognose der Nachfrage nach Fachkräften an" und leiten aus dem Zusammenhang von älter und kränker werdenden Bevölkerung eine "deutlich umfangreicheren Inanspruchnahme von Behandlungen und somit einem erhöhten Ärztebedarf" ab. Zusätzlich zu dieser linear fortgeschriebenen Bedeutung der demografiebedingten Nachfrage für eine rasch größer werdende Nachfrage nach ärztlichen und nichtärztlichen Fachkräften in der ambulanten und stationären Versorgung, spielt auch noch der Ersatzbedarf für die heute Beschäftigten eine große Rolle für die Anzahl fehlender Fachkräfte.

Ein grundlegender Mangel der Studie und damit der Verlässlichkeit ihrer Mangelprognosen ist, dass sie sich bei der Nachfrage nach gesundheitlichen Leistungen und damit nach entsprechendem Personal weitgehend auf die Plausibilität von Ursache-Wirkungs-Ketten wie "älter-kränker-behandlungsbedürftiger" und die lineare Fortsetzung bisheriger Entwicklungen verlässt.
Zumindest hätten die Verfasser die bereits 2008 vom Statistischen Bundesamt in seiner Prognose des künftigen Behandlungsbedarfs gewählte Unterscheidung von zwei möglichen Entwicklungstrends übernehmen können. Die amtlichen Statistiker berücksichtigten in ihrer Prognose zunächst die Existenz zweier Hypothesen über den Zusammenhang von Altern und Morbidität: Die so genannte Expansions- oder Medikalisierungshypothese (plakativ: Längerleben=länger in Krankheit leben) und die Kompressionshypothese (plakativ: Längerleben=länger in Gesundheit leben und Zusammenballung der Morbidität am Lebensende).
Je nachdem welcher theoretischen Annahme gefolgt wird, ergaben sich beträchtliche Unterschiede bei den Szenarios über die künftigen Bedarfe und "Lasten": Folgt man dem Expansions- oder Status-Quo-Szenario nimmt bei sinkender Bevölkerungsanzahl die Anzahl der Krankenhausfälle von 17 Millionen im Jahr 2005 stetig auf 19 Millionen im Jahr 2030 zu. Folgt man dagen dem Kompressions- oder Szenario mit sinkenden Behandlungsquoten, steigt die Anzahl der Krankenhausfälle 2030 lediglich auf 17,9 Millionen Fälle und sinkt sogar zwischen 2020 und 2030 leicht. Der Prognoseunterschied beläuft sich also 2030 auf über eine Million Fälle. Dass diese oder auch eine vom Statistischen Bundesamt für wahrscheinlich gehaltene kleinere Nachfragedifferenz auch ein geringeres Angebot an Fachkräften erfordert ist offensichtlich, fällt aber in der PwC-Studie spurlos unter den Tisch.

Auch ohne dass man dem Szenario der PwC-Studie folgt, sind die in ihr vorgeschlagenen Gegenmittel überlegenswert und nützlich. Dies gilt generell für den Hinweis, Lösungen erforderten das Drehen an vielen Stellschrauben.

Und speziell etwa für die Vorschläge,
• die Beschäftigten in der Gesundheitsversorgung besser zu bezahlen oder ihre Arbeitsbedingungen nachhaltig zu verbessern (z.B. durch andere Arbeitszeitregelungen),
• die trotz der jahrzehntelangen Debatte und vieler normativer Verbesserungen faktisch weitgehend immer noch bestehende Un- oder Schwerdurchlässigkeit zwischen dem ambulanten und stationären Bereich durchgehend zu überwinden und
• insbesondere in ländlichen Gegenden verstärkt Medizinische Versorgungszentren (MVZ) zu gründen.

Nachdem bereits heute vor allem die Nachfrage nach qualifiziertem Pflegepersonal bei weitem das Angebot übertrifft, ist der Hinweis, das künftige Fachpersonal nur durch die Anwerbung ausländischer Fachkräfte zur Verfügung haben zu können sicherlich richtig. Dies gilt aber ebenso für den Hinweis, dass es künftig einen weltweiten Wettbewerb um diese Be-schäftigten geben wird.

Auch die für den künftigen Versorgungs- und Personalbedarf relevante Frage, ob die von den Prognostikern linear fortgeschriebene Versorgungsangebots-Palette überhaupt oder wenn ja, in Gesundheitseinrichtungen und durch die dort tätigen zum Teil hochqualifizierten Arbeitskräften erbracht werden muss, stellen sich die Gutachter gar nicht. So handelt es sich bei einem erheblichen Teil der ambulant und stationär erbrachten Leistungen um Über- und Fehlversorgung, also nutzlose oder sogar überwiegend schadenstiftende Angebote. Ebenso kann in Zweifel gezogen werden, dass anders als in vielen vergleichbaren Ländern in Deutschland rund 95 % der Kinder im Krankenhaus geboren werden müssen (u.a. weil in Deutschland rund 75 % aller Schwangeren zu "Risikoschwangeren" deklariert werden) oder rund 75 % aller Sterbenden zum Teil gegen ihren erklärten Willen im Krankenhaus sterben (u.a. wegen des fehlenden Angebots ambulanter palliativmedizinischer Versorgung oder der geringen Anzahl von Hospizen) und dort auch noch häufig am Rande des ethisch Vertretbaren aufwändig medizinisch und pflegerisch behandelt werden.

Die Studie "Gesundheitswesen Fachkräftemangel. Stationärer und ambulanter Bereich bis zum Jahr 2030" herausgegeben von der PricewaterhouseCoopers AG Wirtschaftsprufungsgesellschaft und verfasst von Dennis A. Ostwald, Tobias Ehrhard, Friedrich Bruntsch, Harald Schmidt und Corinna Friedl ist komplett kostenlos erhältlich.

Die von den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder 2008 herausgegebene Untersuchung "Demografischer Wandel in Deutschland Heft 2: Auswirkungen auf Krankenhausbehandlungen und Pflegebedürftige im Bund und in den Ländern" ist ebenfalls kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 25.10.10


Therapien mit Antibiotika: Meta-Analyse von 24 Studien stellt erneut massive Risiken der Resistenzbildung fest

Artikel 1827 Die Verschreibung von Antibiotika bei Atemwegs-Erkrankungen oder anderen, ganz überwiegend nicht bakteriell verursachten Krankheiten ist wohl ein besonders prägnantes Beispiel für die im Gesundheitswesen immer noch verbreiteten Wege medizinischer Über- und Fehlversorgung. Die Verschreibung von Antibiotika hat zwar bei vielen Patienten eine emotional beruhigende Wirkung. Dies führt aber bei Infektionskrankheiten durch Viren zu keiner schnelleren Rekonvaleszenz und birgt das Risiko, dass damit Krankheitserreger zunehmend gegen Antibiotika resistent werden.

Eine jetzt in der renommierten Fachzeitschrift "British Medical Journal" veröffentlichte Literaturübersicht, in der Ergebnisse aus 24 Studien mit 15.505 Erwachsenen und 12.103 Kindern berücksichtigt wurden, zeigte sich erneut, dass eine eindeutige Verbindung besteht zwischen der Verschreibung von Antibiotika und der Entwicklung einer Resistenz gegen eben diese Antibiotika. Schlichter gesagt: Antibiotika versagen bei der zweiten oder dritten Verschreibung oftmals. Der beobachtete Effekt, die Arzneimittel-Resistenz, war in den Studien einen Monat nach der Therapie am stärksten ausgeprägt, nahm im Verlauf der Zeit auch ab, hielt aber bis zu 12 Monate an.

Bereits mehrfach wurde im Forum Gesundheitspolitik berichtet
• über die überaus häufige Verbreitung medizinisch nutzloser Antibiotikaverordnungen (Altes und Neues von der gefährlichen Dauer-Fehlversorgung von Erwachsenen und Kindern mit Antibiotika, Mehrheitlich Über- und Fehlversorgung mit Antibiotika durch Hausärzte bei Nasennebenhöhlenentzündungen),
• über den fehlenden Nutzen und die Risiken (Die Verschreibung von Antibiotika bei Husten variiert erheblich in Europa - und bewirkt nirgends eine schnellere Rekonvaleszenz, Früher aber nicht notwendiger Einsatz von Antibiotika bei Kindern - Kein Nutzen der Antibiotikaprophylaxe bei Harnwegsinfekten)
• oder auch über Hintergründe und ärztliche Motive dieser Fehlversorgung (Der Kunde ist König: Kinderärzte verschreiben öfter Antibiotika, wenn sie vermuten, dass die Eltern dies von ihnen erwarten, Antibiotika-Niedrigverbrauchsregion Ostdeutschland: Woran liegt es?).

Die jetzt veröffentlichte Meta-Analyse bezog lediglich solche Studien ein, in denen ein Zusammenhang untersucht worden war zwischen Antibiotika-Verschreibungen in der ambulanten medizinischen Grundversorgung einerseits und der Resistenzentwicklung beim einzelnen Patienten andererseits. Fünf der einbezogenen Studien waren randomisierte Kontrollstudien (mit zufälliger Zuweisung der Teilnehmer zu einer Interventions- oder auch Kontrollgruppe), 19 waren Beobachtungsstudien (17 davon retrospektiv erhoben). Die meisten Studien betrafen entweder Patienten mit Harnwegs-Infektionen (N=8) oder Atemwegs-Infektionen (N=9).

Das Forschungsteam aus Bristol und Oxford kam dann zu folgenden zentralen Befunden bei der erneuten Auswertung der Studien:
• Der Effekt, die Resistenz, war am stärksten einen Monat nach der Therapie, nahm im Laufe der Zeit ab, war teilweise aber auch noch einem Jahr noch zu beobachten.
• Die Risiken einer Resistenzbildung waren im Durchschnitt zwei Monate nach der Einnahme 2,5mal so hoch (Odds-Ratio) und nach 12 Monaten noch 1,3mal so hoch.
• Eine methodisch sehr fundierte Langzeit-Studie zeigte einen sehr markanten zeitlichen Effekt: Das Risiko der Resistenz fiel von 12,5 nach einer Woche auf 6,1 nach einem Monat und 2,2 nach 6 Monaten.
• Es gibt einen Zusammenhang zwischen der verordneten Menge an Antibiotika und der Einnahmedauer und dem Resistenz-Risiko. Ebenso wirken sich zeitlich gestaffelte mehrfache Verordnungen aus.
• Es gab keine einheitlichen Befunde, was die Art der Antibiotika bzw. den Wirkstoff anbetrifft. Auch wenn die Zahl der hierzu vorliegenden Studien recht klein ist, kann man vermuten, dass es keine grossen Unterschiede zwischen den einzelnen Klassen von Antibiotika gibt.

In der zusammenfassenden Bilanz und Interpretation der Daten formulieren die Wissenschaftler auch einige Empfehlungen. Da in einigen Studien ein Zusammenhang deutlich wurde zwischen Einnahmedauer eines Medikaments und Resistenzbildung, empfehlen sie eine möglichst kurze Dauer der Behandlung mit Antibiotika ("… the fewest number of antibiotic courses should be prescribed for the shortest period possible"). Patienten, die im vergangenen Jahr eine oder mehrere Behandlungen mit Antibiotika erhielten, sollten bei einer erneut notwendigen weiteren Therapie ein anderes Antibiotikum verschrieben bekommen.

Die Studie ist kostenlos im Volltext verfügbar: Céire Costelloe et al: Effect of antibiotic prescribing in primary care on antimicrobial resistance in individual patients: systematic review and meta-analysis (BMJ 2010;340:c2096, doi:10.1136/bmj.c2096)

Gerd Marstedt, 27.6.10


9 Jahre ambulante Versorgung und Gesundheitspolitik aus Versichertensicht: "Gesundheitsmonitor"-Daten frei zugänglich!

Artikel 1805 Hat sich die Bewertung der Zukunft der sozialen Krankenversicherung im Laufe der letzten 9 Jahre verändert und wirkten sich die großen Gesundheitsreformgesetze daraif aus? Gibt es Ost-West-Unterschiede, wenn es darum geht, ob die Solidarausgleiche im GKV-System für gerecht gehalten werden? Wo informieren sich Angehörige unterer sozialen Geschichten vorrangig über gesundheitsbezogene Angelegenheiten? Wie schnell verbreitet sich Informationen zum Inhalt der Gesundheitsreformen in der Bevölkerung und gibt es Gruppen, bei denen davon nichts ankommt?

Wer nach bevölkerungsrepräsentativen Antworten auf diese oder eine Vielzahl ähnlicher Fragen sucht, die etwas mit der Inanspruchnahme ambulanter Versorgung im Gesundheitssystem, der Zukunft des sozialen Krankenversicherungssystem und der Bewertung von Reformoptionen im Gesundheitssystem zu tun haben, und wer dann noch wissen will, ob sich an den Antworten und Bewertungen in den letzten Jahren etwas verändert hat, findet seit Jahren in den jährlichen Buchausgaben des "Gesundheitsmonitors" der Bertelsmann Stiftung und den regelmäßig veröffentlichten "Newsletter"-Ausgaben eine Menge theoretisch aufbereitete und empirisch fundierte Antworten.
Die einmalige Wissensquelle sind die Ergebnisse einer seit dem November 2001 halbjährlich stattfindende Befragung einer bevölkerungsrepräsentativen Gruppe von rund 1.500 Personen. Die vorläufig letzte sechzehnte Welle fand im Frühjahr 2009 statt. Die Fragebögen werden von Beginn an u.a. von Sozialforschern des Zentrums für Sozialpolitik (ZeS) der Universität Bremen entwickelt, enthalten einen inhaltlich identischen Teil über die Inanspruchnahme der ambulanten Versorgung, eine Fülle von soziodemografischen Angaben und inhaltlich variable Teile zu jeweils aktuellen Fragestellungen.

Trotz der zahlreichen Veröffentlichungen gibt es nicht wenige Fragen, die niemals oder nur relativ einfach ausgewertet worden sind oder deren Auswertung im Zeitverlauf nur partiell erfolgte. Wer dies für seine aktuellen wissenschaftlichen Arbeiten oder gesundheitspolitische Debatten nachholen will, ältere Auswertungen selbst nachvollziehen, anders gewichtet oder zeitlich ergänzen will oder für eigene primären Forschungsarbeiten nach repräsentativen Referenzgrößen sucht, der kann dies nun - Sachkunde vorausgesetzt - mit Hilfe der als "public use file" zugänglichen Daten aller Befragungswellen des "Gesundheitsmonitors" nachholen.

Dazu liegen die Umfragedaten für jede der 16 Befragungswellen für die sozialwissenschaftlichen Statistikprogramme SPSS und SAS vor. Die Daten der einzelnen Wellen sind unter Angabe der Feldzeit zusammen mit den jeweiligen Datensatzbeschreibungen nach Jahren sortiert. Zusätzlich liegen die Daten für Fragen, die mehrfach gestellt wurden, also Zeitreihen-Analysen erlauben, als Zeitreihendatensatz vor.
Zusätzlich stehen nicht nur sämtliche Originalfragebögen zur Verfügung, sondern es gibt auch einen groben Überblick über alle abgefragten Themenfelder sowie Erläuterungen zur Bildung des Sozialschichtindex und methodische Hintergrundinformationen zur Stichprobenbildung, Erhebungsmethode (Access Panel) und einigen Qualitätsaspekten der Ergebnisse, die auch zum gründlichen Studium heruntergeladen werden können. Lohnenswert ist sicherlich auch ein Blick in die Details zur Handhabung. Dort finden sich unter anderem Angaben zu unterstützten Programmversionen sowie ein Hinweis auf den Gewichtungsfaktor, der für bestimmte Auswertungsprozeduren eingeschaltet werden muss.

Da weder für die letzten Jahre eine inhaltlich vergleichbare Wissensquelle vorliegt noch Initiativen bekannt sind, solche oder ähnliche Daten auch künftig zu generieren, sollte der "public use file" noch genutzt werden solange seine Inhalte "warm" sind und damit neben dem konkreten wissenschaftlichen oder politischen Nutzen auch der Nutzen einer Fortsetzung illustriert werden.

Alle Daten-Dateien und die genannten Erläuterungen des "Gesundheitsmonitor-Public use file" sind online kostenlos zugänglich.

Bernard Braun, 19.5.10


Santé ŕ la francaise: Croissants, petit rouge, savoir de vivre. Aber in welchem Gesundheitssystem? Beispiel ambulante Versorgung

Artikel 1803 Geht es in Deutschland um Gesundheitssysteme, an denen sich die Gesundheitspolitiker ein Beispiel nehmen sollten, gehören die Niederlande oder die Schweiz und wenn "wir" unter gar keinen Umständen ein System übernehmen wollen, die USA oder Großbritannien seit Jahrzehnten zu den "guten" oder "schlechten" Vorbildern.

Wie sind aber eigentlich die BürgerInnen Frankreichs, immerhin dem größten Nachbarland der Bundesrepublik Deutschland, krankenversichert? Wird auch in Frankreich der Großteil der gesundheitlichen Versorgung von niedergelassenen Allgemein-und Fachärzten getragen? Was passiert mit pflegebedürftigen demenzkranken FranzösInnen? Erfolgt die Finanzierung des Gesundheitssystems durch Beiträge, Gesundheitsprämien oder aus dem Steuersäckel? All dies ist hierzulande nicht nur aber auch wegen der trotz jahrzehntelanger deutsch-französischer Verständigung mageren Sprachkenntnisse auf beiden Seiten des Rheins unbekannt. Es bewegt sich im Bereich von "Halbbildung" oder wird nur dann punktuell etwas näher beleuchtet, wenn in Frankreich während einer sommerlichen Hitzeperiode zahlreiche ältere BürgerInnen schwer erkranken oder sterben. Gegen diese Wissensmängel tut bislang auch das "forum-gesundheitswissenschaft" praktisch nichts.

Dies soll langsam etwas besser werden und zwar durch eine Mischung von aktuellen Überblicksartikeln zu wichtigen Aspekten des französischen Gesundheitssystems, die von in Frankreich lebenden und mit dessen Gesundheitssystem vertrauten AutorInnen in deutscher Sprache geschrieben werden und daneben durch Expertisen und Studien in französischer aber auch englischer Sprache erfolgen.

Beginnen wollen wir mit einem deutschsprachigen Beitrag der französischen Ärztin Ursula Descamps über das aktuelle, d.h. erst im Jahr 2009 gründlich reformierte System der ambulanten gesundheitlichen Versorgung in Frankreich. Der Beitrag gibt einen kurzen aber sehr differenzierten Überblick über die

• Arten von ambulanten Leistungserbringern,
• die Organisationsformen für freiberufliche Leistungserbringer,
• den Zugang zur Versorgung,
• die Honorarstruktur,
• die Modalitäten der Kostenübernahme,
• die Niederlassung und Zulassung der Leistungserbringer,
• die Organisation der Leistungserbringer, Regulation und Vertragsgestaltung im ambulanten Bereich und
• die Demografie der Leistungserbringer.

Die Darstellung wird durch zwei Tabellen über die Entwicklung der ambulanten Leistungserbringer und der ambulanten Fachärzte abgeschlossen.

Der 11 Seiten umfassende aktuelle Beitrag über "Die ambulante Versorgungssituation in Frankreich" von Ursula Descamps ist hier frei erhältlich.
Wer sich zusätzlich einen ersten allerdings leider an wichtigen Punkten veralteten Gesamtüberblick über das französische Gesundheitssystem verschaffen will, kann dies mit dem Landes-Band der "Health Systems in Transition (HiT)"-Reihe des WHO-Projektes "European Observatory on Health Systems and Policies" mit Stand 2003 ebenfalls kostenlos machen.

Bernard Braun, 16.5.10


US-Studie: Haben Arztpraxen zu wenig Patienten für gute Qualitätssicherung der Behandlung einer Vielzahl von Erkrankungen?

Artikel 1760 Der § 135a SGB V verpflichtet ausdrücklich Vertragsärzte, medizinische Versorgungszentren, zugelassene Krankenhäuser und Erbringer von Vorsorgeleistungen oder Rehabilitationsmaßnahmen dazu, ihre Leistungen nach dem "jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse ... und in der fachlich gebotenen Qualität" zu erbringen.
Sie sollen sich dazu an "einrichtungsübergreifenden Maßnahmen der Qualitätssicherung ... beteiligen, die insbesondere zum Ziel haben, die Ergebnisqualität zu verbessern und einrichtungsintern ein Qualitätsmanagement" einführen. So weit, so gut und sicherlich ein gewaltiger Fortschritt gegenüber der Vergangenheit.

Die Frage, wie z.B. Einzelarztpraxen dies praktisch schaffen und ob sie überhaupt von ihren Strukturbedingungen in der Lage sind, dem hohen Anspruch genügen zu können, ist nach der Veröffentlichung einer Studie, welche die Möglichkeit us-amerikanischer niedergelassener Ärzte, die dortigen Anforderungen an Qualitätssicherung zu erfüllen, untersuchte, eine absolut berechtigte.

Die US-Forscher fanden nämlich nach der Analyse der Anzahl von Patienten mit ausgewählten Behandlungsanlässen oder Diagnosen und dem damit in Allgemein-/Hausarztpraxen und -zentren verbundenen Aufwand folgendes für die Qualitätssicherungsrealität heraus:

• Will man der Qualitätssicherung im Medicaresystem der USA statistisch zuverlässige, d.h. mindestens 10% betragende Unterschiede in Kosten und Behandlungsqualität zugrundelegen, und dies z.B. bei der Mammographierate von Frauen im Alter zwischen 66 und 69 Jahren, der Bestimmung des HbA(1c)-Wertes bei 66-75-jährigen Diabetikern, der Rate vermeidbarer Hospitalisierung und der Rate der stationären Wiederaufnahme nach Entlassung bei kongestiver Herzinsuffizienz., müssen die Praxen eine beträchtliche Anzahl von Patienten mit der jeweiligen Erkrankung behandeln.
• Die Versorgungszentren und Arztpraxen der Primärversorgung behandelten im jährlichen Mittel insgesamt 260 Medicare-Patienten 25 Mammographie-Patientinnen, 30 Diabetespatienten mit Hämoglobin A(1c)-Bestimmung und 0 Patienten mit Hospitalisierung wegen kongestiver Herzinsuffizienz.
• Bei der Mammographierate und der Hämoglobin A(1c)-Bestimmung lag der Anteil von Praxen mit ausreichender Patientenfallzahl bei Praxen mit weniger als 11 Primärärzten unter 10% und erst bei Praxiszentren mit mehr als 50 Ärzten bei 100%. Keine der Praxen der Primärversorgung hatte genügend Patienten, um 10%-ige Qualitätsunterschiede hinsichtlich vermeidbarer Hospitalisierung oder Wiederaufnahme bei kongestiver Herzinsuffizienz innerhalb von 30 Tagen zu erfassen.
• Viele Einzelarztpraxen und auch relativ viele kleine bis mittlere primärärztliche Versorgungszentren haben also eine ausreichende große Patientenfallzahlen, um die übliche Bestimmung von Behandlungsqualität und Kosteneffizienz mit 10%-igen Unterschiede bei Medicare-Patienten mit kostenfreier Behandlung verlässlich durchführen zu können. Damit fehlt ihnen aber ein wichtiges Datum für Qualitätssicherung oder -management bei vielen ihrer Patienten, das sie auch durch eine Absenkung der quantitativen Anforderungen an die Patientenzahl unter die 10-Prozentmarke nicht generieren können.

Wie fast immer, gibt es für den Bereich der ambulanten ärztlichen Behandlung in Deutschland (noch) keine vergleichbare Untersuchung und daher auch keine spezifischen Daten. Wie mehrere Analysen der letzten Jahre zeigten, konzentriert sich das Krankheitsgeschehen der meisten Patienten von Allgemeinärzten zwar auf relativ wenig Diagnosen. Dahinter verbergen sich aber vor allem in der durchschnittlichen Einzelarztpraxis (2005 waren noch 63% aller Praxen Einzelpraxen, was mittlerweile weniger sein dürften) eine je nach Diagnose absolut rasch kleiner werdende Anzahl von Personen, die eine Qualitätsüberprüfung auf dem US-Niveau der 10%-Unterschiede auch unmöglich machen:

• In der DETECT-Studie von 2007 war die häufigste Diagnose der Bluthochdruck, der bei 35,5% der TeilnehmerInnen an einer Basisuntersuchung diagnostiziert wurde. Auf den weiteren Häufigkeitsrängen landeten erhöhte Bluttfertwerte (29,5%), Übergewichtigkeit/Adipositas (32,9%) oder die koronare Herzkrankeit (12,1%). Depressionen waren mit 10,6% schon seltener und völlig selten war in einer ambulanten Praxis der Schlaganfall (1,7%).
• Im Praxenpanel des "Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland" (ZI-ADT-Panel) der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, das für eine ausgewählte Anzahl von 58 Allgemeinarztpraxen (darunter 49 Einzelpraxen) im KV-Bezirk Nordrhein das Diagnosenspektrum dokumentiert, sah dies im I.Quartal 2008 bei 71.915 PatientInnen so aus: Auf Platz 1 stand auch die essentielle (primäre) Hypertonie (30,9% der PatientInnen), gefolgt von Störungen d. Lipoproteinstoffwechs. u.sonst.Lipidämien (22,9%), Rückenschmerzen (14,3%), Sonstigen nichttoxische Struma (9,8%), der chronischen ischämischen Herzkrankheit (9,8%), dem nicht primär insulinabhäng. Diabet. mell.[Typ-2-Diab.] (9,3%), der Adipositas (8,1%), der akut.Infektion.mehrer.od.n.n.bez.Lokalis.d.ob.Atemwege (7,9%), der sonst. Krankh. v. Wirbelsäule/Rücken, and.nicht klass. (7,1%) und der Gastritis und Duodenitis (6,9%). Auf Platz 25 befand sich dann die Herzinsuffizienz (4,3%) und auf dem letzten Platz 29 somatoforme Störungen (Störungen, die sich eindeutig auf körperliche Störungen zurückführen lassen wie z.B. Erschöpfung,Müdigkeit und bestimmte Schmerzen), die bei 3,8% der PatientInnen von Allgemeinärzten/Hausärzten auftraten. Berücksichtigt man, dass das ZI (siehe dazu den faktenreichen Vortrag eines ZI-Mitarbeiters auf der 54. Gmds-Jahrestagung 2009) eine durchschnittliche Anzahl von 2.045 Patienten pro Praxis (Mehrfachzählungen möglich) im gesamten Jahr 2008 angibt, haben die meisten Praxen bei den meisten Krankheiten zu wenig Patienten für eine methodisch hochwertige Qualitätskontrolle und -sicherung.

Damit besteht trotz der guten normativen Ausgangssituation im deutschen Gesundheitssystem die Gefahr, dass sich Qualitätsmanagement weiter und überwiegend in Untersuchungen zur Struktur- und bestenfalls Prozessqualität erschöpft und mit dem Anbringen von Zertifikaten und Plaketten endet.
Die Ergebnisqualität als wichtigster Indikator für Qualität bliebe dabei - nur jetzt wegen nicht ausreichender Fälle bzw. Patienten - im Dunkeln. Wenn sich dies bewahrheitet, muss sich der Gesetzgeber und die gemeinsame Selbstverwaltung von Krankenkassen und Ärzten rasch einfallen lassen, ob dies mit den einrichtungsübergreifendenb Maßnahmen doch machbar ist oder was sonst noch passieren müsste, um die zitierten Normen und Ziele umsetzen zu können.

Zu der US-Studie "Relationship of primary care physicians' patient caseload with measurement of quality and cost performance" von Nyweide DJ, Weeks WB, Gottlieb DJ, Casalino LP und Fisher ES, die im "Journal of American Medical Association (JAMA)" am 9. Dezember 2009 (302(22):2444-50) erschienen ist, gibt es kostenlos nur ein Abstract.

Einige Auszüge zum Diagnosenspektrum aus dem Buch "Detect: Ergebnisse einer klinisch-epidemiologischen Querschnitts- und Verlaufsstudie mit 55.000 Patienten in 3.000" von Wittchen H.U. und Pieper L. gibt es kostenlos im Internet zum Lesen.

Einige Daten aus dem ZI-ADT-Panel I. Quartal 2008 des Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gibt es kostenlos.

Bernard Braun, 16.3.10


Zuzahlungen und Praxisgebühr führen zur eingeschränkten Inanspruchnahme auch medizinisch notwendiger Leistungen bei Überschuldeten

Artikel 1749 Anders als in internationalen Studien gab es bisher in Deutschland keinen empirischen Hinweis, dass die seit Jahrzehnten für mittlerweile 75 % der GKV-Leistungen existierenden Zuzahlungen oder die jüngere Praxisgebühr dauerhaft zu unerwünschten Unter- und folgeschweren Fehl-Inanspruchnahmen gesundheitlicher Leistungen insbesondere bei sozial Schwachen führen.

Dies stellt sich seit der jüngsten Untersuchung der Reaktion überschuldeter Personen aus Rheinland-Pfalz auf die Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen mit Zuzahlungen deutlich anders dar.

Die ForscherInnen aus Mainz und Erlangen-Nürnberg beschäftigen sich seit einiger Zeit mit der stetig ansteigenden Gruppe überschuldeter Privathaushalte, die derzeit auf 3,13 Millionen geschätzt werden. Ob und wie die 666 TeilnehmerInnen im Alter von 18 bis 79 Jahren an dieser 2006/2007 in Rheinland Pfalz durchgeführten Studie aufgrund ihrer eindeutig feststehenden finanziellen Not nicht zum Arzt gingen oder verschriebene Medikamente nicht in der Apotheke abholten, wurde hier erstmalig untersucht.

Die Ergebnisse sahen so aus:

• 65,2% der TeilnehmerInnen der Studie gab an, in den letzten 12 Monaten aus Geldmangel vom Arzt verschriebene Medikamente nicht gekauft zu haben und
• 60,8 % unterließen aufgrund ihrer Schuldensituation und der 10-Euro-Selbstbeteiligung einen Arztbesuch.
• Multivariat betrachtet haben Jüngere, Personen mit Kindern, Personen im Privatinsolvenzverfahren, mit vorhandenen gesundheitlichen Beschwerden und mit einer geringeren Aufmerksamkeit gegenüber der eigenen Gesundheit ein signifikant höheres Risiko einer reduzierten Inanspruchnahme medizinischer Leistungen.

Das hier nachgewiesene Risiko für zumindest aktuell und faktisch zu den unteren sozialen Schichten gehörenden Personen, ist u.a. deshalb ein Problem, weil diese Personen meist höhere Krankheitsprävalenzen haben und bei ihnen "die Verminderung der Inanspruchnahme von Arztbesuchen kontraproduktiv zur Gesundheitspflege und Behandlung von Erkrankungen sein (kann)."
Insgesamt stützen die Ergebnisse der Studie, die These, dass auch notwendige medizinische Behandlungen von überschuldeten Privatpersonen unterlassen werden könnten."

Das häufig an dieser Stelle in die Debatte geworfene Argument, die betreffenden Personen könnten die existierenden gesetzlichen Härtefallbefreiungen nutzen und gar keine oder nur geringe Zuzahlungen zahlen, läuft auch hier faktisch überwiegend ins Leere. Ähnlich wie bei früheren Überprüfungen der Befreiungswirklichkeit (z.B. hatten in einer AOK-Stichprobe im Jahr 2000 60% berechtigte Versicherte mangels Information keine Befreiung beantragt), wurde auch von den TeilnehmerInnen dieser Studie die Befreiungsmöglichkeit "nicht umfassend in Anspruch genommen, was vorrangig auf den mangelnden Bekanntheitsgrad, das Rückerstattungsprinzip und das bürokratische Antragsverfahren zurückzuführen sein kann."

Unabhängig von der Forderung mehr über die Wirkungen von Zuzahlungen und Befreiungsregelungen zu erforschen und dazu auch Studien durchzuführen, welche anders als Querschnittsstudien einen zeitlichen Zusammenhang von Einflussfaktor und Zielgröße nachzuweisen erlauben, sollten nach Ansicht der Autoren "aus sozialmedizinischer Sicht Zuzahlungen für Armutsgruppen und insbesondere für solche mit chronischen Erkrankungen und Beschwerden in Deutschland gestrichen werden."

Leider ist von dem interessanten und möglicherweise wegweisenden Aufsatz "Überschuldung und Zuzahlungen im deutschen Gesundheitssystem - Benachteiligung bei Ausgabenarmut" von Münster, Rüger, Ochsmann, Alsmann und Letzel in der Zeitschrift "Gesundheitswesen" (2010; 72: 67-76) kostenlos nur ein Abstract erhältlich.
Warum die Verlage der meisten deutschen Fachzeitschriften, hier der Thieme Verlag, nicht langsam dem Vorbild noch renommierterer Journals folgen und mehr Aufsätze zu Open Access-Beiträgen erklären, ist unverständlich, da ja auch die hier wesentlich liberaleren Verlage Gewinninteressen haben und realisieren.

Bernard Braun, 2.3.10


Wozu diente die Altersgrenze für Vertrags(zahn)ärzte und warum ist ein EuGH-Urteil zu einem alten SGB V-Paragraphen interessant?

Artikel 1714 Dass ein Gericht, und dazu noch der Europäische Gerichtshof (EuGH), nicht immer die Frage beantwortet, die ihm von einem "vorlegenden" nationalen Gericht gestellt wird und EU-Richtlinien durchaus auch über nationalen Gesetze und obersten Gerichtsurteilen stehen können, zeigt ein Urteil des EuGH vom 12.1.2010 zum Thema Höchstalter für Vertrags(zahn)ärzte, also Ärzten, die zur Behandlung der 90% gesetzlich Krankenversicherten zugelassen sind.

In der Bundesrepublik Deutschland hat das Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 21. Dezember 1992 (GSG 1993) eine auf Vertragsärzte anzuwendende Höchstaltersgrenze eingeführt, die seit dem 14. November 2003 in § 95 Abs. 7 Satz 3 des Fünften Buchs des Sozialgesetzbuchs zu finden war. Der § 95 Abs. 7 Satz 3 SGB V sah vor, dass ab 1. Januar 1999 die Zulassung zur Ausübung der Tätigkeit eines Vertragsarztes mit Ablauf des Kalendervierteljahrs endet, in dem der Vertragsarzt das 68. Lebensjahr vollendet. Dies war gesetzlich geregelt auch auf Vertragszahnärzte anzuwenden.
Wichtig: Im SGB V wurde diese Vorschrift für die Zeit nach dem 30. September 2008 abgeschafft, d.h. die "Zulassung endet mit dem Tod, mit dem Wirksamwerden eines Verzichts oder mit dem Wegzug des Berechtigten aus dem Bezirk seines Kassenarztsitzes" (§ 95 Absatz 7 Satz 1 SGB V in der gültigen Fassung).

Für den deutschen Gesetzgeber und das Bundesverfassungsgericht waren für die alte Regelung sowohl der Schutz des Patienten vor den gesundheitlichen Risiken einer altersbedingten eingeschränkten Leistungsfähigkeit von Ärzten als auch das Berufseintrittsinteresse des Ärztenachwuchses maßgeblich.

So hatte der Gesetzgeber zur Begründung der entsprechenden Regelung im SGB V vermerkt: "Die Entwicklung der Vertragsarztzahl stellt eine wesentliche Ursache für überhöhte Ausgabenzuwächse in der gesetzlichen Krankenversicherung dar. Angesichts einer ständig steigenden Zahl von Vertragsärzten besteht die Notwendigkeit, die Anzahl der Vertragsärzte zu begrenzen. Die Überversorgung kann nicht nur durch Zulassungsbeschränkungen und damit zu Lasten der jungen Ärztegeneration eingedämmt werden. Hierzu ist auch die Einführung einer obligatorischen Altersgrenze für Vertragsärzte erforderlich."

Das Bundesverfassungsgericht hatte in einem Urteil vom 7. August 2007 die Altersgrenze durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, die Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung vor den Gefährdungen durch ältere, nicht mehr voll leistungsfähigen Vertragszahnärzte zu schützen. Das Bundesverfassungsgericht hat dabei - so die Zusammenfassung im EuGH-Urteil - an einer 1998 entwickelten Auffassung festgehalten und entschieden, der Gesetzgeber sei angesichts des ihm eingeräumten Gestaltungsspielraums nicht verpflichtet, eine individuelle Prüfung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit jedes Vertragsarztes, der das 68. Lebensjahr vollendet habe, vorzusehen. Er habe vielmehr auf der Grundlage von Erfahrungswerten eine generalisierende Regelung erlassen dürfen. Das Bundesverfassungsgericht hat es auch als unerheblich angesehen, dass der Gesundheitsschutz der Versicherten nicht in der Gesetzesbegründung erwähnt werde, und habe daran erinnert, dass es bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Regelung alle Gesichtspunkte berücksichtige und durch diese Begründung nicht eingeschränkt sei.

Gegen diese Bestimmung des deutschen Sozialrechts und das Rechtsverständnis des Bundesverfassungsgerichts hatte sich eine Zahnärztin vor dem Sozialgericht gewehrt und auf der individuellen Prüfung ihrer Leistungsfähigkeit mit dem Ziel bestanden, auch künftig Kassenpatienten behandeln zu dürfen. Sie begründete dies u.a. mit der EU-Richtlinie 2000/78/EG, die eine Diskriminierung aus Altersgründen verbietet.

Das Sozialgericht wollte oder konnte dies nicht selber abschließend beurteilen und legte den Fall zur Entscheidung dem Europäischen Gerichtshof vor. Seine Kernfrage lautete: "Kann die gesetzliche Regelung einer Höchstaltersgrenze für die Zulassung zur Berufsausübung (hier: für die Tätigkeit als Vertragszahnärztin) im Sinne des Art. 6 der eine objektive und angemessene Maßnahme zum Schutz eines legitimen Zieles (hier: der Gesundheit der gesetzlich krankenversicherten Patienten) und ein zur Erreichung dieses Zieles angemessenes und erforderliches Mittel sein1, wenn sie ausschließlich aus einer auf "allgemeine Lebenserfahrung" gestützten Annahme eines ab einem bestimmten Lebensalter eintretenden generellen Leistungsabfalls hergeleitet wird, ohne dass dabei dem individuellen Leistungsvermögen des konkret Betroffenen in irgendeiner Weise Rechnung getragen werden kann?"

Der EuGH verkündete nun ein klares Urteil und nutzte die Gelegenheit, um einige auch für die Zukunft interessanten Rechtsvorstellungen zu äußern:
• Es hielt die Klage und sein Urteil trotz der bereits genannten geänderten rechtlichen Lage für zulässig und hat sich dabei, wie gleich klar wird, etwas gedacht.
• Generell berührt ein Höchstalter "die Bedingungen für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie sowie die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen im Sinne ihres Art. 3 Abs. 1 Buchst. c."
• Nach den Antidiskriminierungs- und Gleichbehandlungsbestimmungen der EU liegt "eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne von Abs. 1 vor, wenn eine Person … eine weniger günstige Behandlung erfährt als eine andere Person, die sich in einer vergleichbaren Situation befindet". Dies bedeutet für deutsche Vertragsärzte nach Ansicht des EuGH, dass die "Anwendung einer Bestimmung wie § 95 Abs. 7 Satz 3 SGB V … dazu (führt), dass Personen, hier Vertragszahnärzte, deshalb eine weniger günstige Behandlung erfahren als andere Personen, die den gleichen Beruf ausüben, weil sie älter sind als 68 Jahre. Mit einer solchen Bestimmung wird eine Ungleichbehandlung wegen des Alters im Sinne der Richtlinie eingeführt." Gemeint ist hier die Möglichkeit, dass auch Ärzte, die älter als 68 Jahre sind, Patienten privat behandeln dürfen.
• Ausdrücklich erinnert der EuGH zunächst daran, "dass … die Mitgliedstaaten die Zuständigkeit für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit und insbesondere für den Erlass von Vorschriften zur Organisation und Erbringung von Dienstleistungen im Gesundheitswesen und der medizinischen Versorgung behalten. Bei der Ausübung dieser Zuständigkeit haben die Mitgliedstaaten zwar das Gemeinschaftsrecht zu wahren, doch ist bei der Prüfung, ob das genannte Gebot beachtet worden ist, zu berücksichtigen, dass der Mitgliedstaat bestimmen kann, auf welchem Niveau er den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten will und wie dieses Niveau erreicht werden kann. Da sich dieses Niveau von einem Mitgliedstaat zum anderen unterscheiden kann, ist den Mitgliedstaaten ein Wertungsspielraum zuzuerkennen."

Trotzdem nimmt der EuGH dann aber die ausführlich dargelegte lückenhafte und inkonsistente Begründung des Höchstalters für Ärzte durch den deutschen Gesetzgeber zum Anlass, dieses als unvereinbar mit den EU-Bestimmungen abzulehnen:

• Er legt Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie so aus, "dass er einer nationalen Maßnahme wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, mit der für die Ausübung des Berufs des Vertragszahnarztes eine Höchstaltersgrenze, im vorliegenden Fall 68 Jahre, festgelegt wird, entgegensteht, wenn diese Maßnahme nur das Ziel hat, die Gesundheit der Patienten vor dem Nachlassen der Leistungsfähigkeit von Vertragszahnärzten, die dieses Alter überschritten haben, zu schützen, da diese Altersgrenze nicht für Zahnärzte außerhalb des Vertragszahnarztsystems gilt".
• Der Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie ist dahingehend "auszulegen …, dass er einer solchen Maßnahme nicht entgegensteht, wenn diese die Verteilung der Berufschancen zwischen den Generationen innerhalb der Berufsgruppe der Vertragszahnärzte zum Ziel hat und wenn sie unter Berücksichtigung der Situation auf dem betreffenden Arbeitsmarkt zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich ist."
Welche Ziele mit der konkreten alten Regelung des Höchstalters verfolgt würden und ob daher der klagenden Zahnärztin Recht gegeben werden müsse oder nicht, sei aber "Sache des vorlegenden Gerichts". Dieses müsse feststellen," welches Ziel mit der Maßnahme zur Festlegung dieser Altersgrenze verfolgt wird, indem es den Grund für ihre Aufrechterhaltung ermittelt."

Angesichts der seit 2008 gestrichenen Höchstalterbestimmung könnte man zum Schluss kommen, sich eigentlich gar nicht praktisch mit dem Urteil befassen zu müssen und sich wichtigeren Dingen zuwenden zu können. Dies könnte vorschnell sein, weil das Urteil und seine Begründung Aussagen enthalten, die aus gesundheitspolitischer wie -wissenschaftlicher Sicht nachdenklich stimmen und künftig praktisch werden könnten: Es geht sowohl um die im Urteil des EuGH explizit nachrangige Relevanz ("nur (!) das Ziel hat, die Gesundheit der Patienten … zu schützen") der Patientengesundheit und die Bereitschaft des Gerichts unklare, ambivalente und unvollständige nationale Bestimmungen zu nutzen, um sich sehr konkret in Bedingungen nationaler Gesundheits- und Sozialsysteme einzumischen.
Wenn man beispielsweise sieht, wie sich immer mehr gesetzliche Krankenkassen wie Wirtschaftsunternehmen verhalten oder sich bei der Diskussion der Höhe ihrer Vorstandsgehälter unverblümt mit DAX- und damit Aktienunternehmen mit ihren auf dem freien Markt zu erwirtschaftenden Umsätzen vergleichen (so gerade die neue Vorstandsvorsitzende der Barmer GEK, Birgit Fischer) darf sich niemand wundern, wenn die EU-Wettbewerbskommissare das ernst nehmen und nationale Schutzzäune wie der der gesetzlichen Krankenkassen als "Körperschaft öffentlichen Rechts" demnächst auch für mit der europäischen Unternehmensordnung unvereinbar erklärt werden.
Vor dieser Tendenz des selbstverschuldeten Verlusts traditioneller Profile und Stärken der GKV im europäischen Kontext hat der Regensburger Sozialrechtler Kingreen bereits vor Jahren gewarnt.
Bleibt zum Schluss noch die Frage, warum die alte Höchstalterregelung abgeschafft wurde, sofern der deutsche Gesetzgeber das Schutzinteresse der Patienten selber ernst nimmt? Der Hinweis der Bundesregierungsvertreter, man habe da "etwas überprüfen wollen", wirkt so lange unglaubwürdig wie es keine veröffentlichte Analyse der Behandlungsergebnisse jüngerer und älterer Ärzte unter kontrollierten Bedingungen gibt. Vielleicht ging es aber auch - so auch Andeutungen des EuGH - durchweg nur um wirtschaftliche Interessen der Ärzte oder der GKV und nicht wirklich um die Gesundheit von Patienten!?

Das "Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs vom 12. Januar 2010 "Richtlinie 2000/78/EG - Art. 2 Abs. 5 und Art. 6 Abs. 1 - Verbot der Diskriminierung wegen des Alters - Nationale Bestimmung, die das Höchstalter für die Ausübung des Berufs eines Vertragszahnarztes auf 68 Jahre festlegt - Verfolgtes Ziel - Begriff 'für den Gesundheitsschutz erforderliche Maßnahme' - Kohärenz - Geeignetheit und Angemessenheit der Maßnahme" ist komplett im Internet zugänglich und selbst für Nichtjuristen über weite Strecken hinweg spannend zu lesen.

Bernard Braun, 19.1.10


Evidente, situations- und patientenbezogene "point-of-care"-Empfehlungen für Hausärzte verbessern Sekundärprävention nicht.

Artikel 1712 Für das weltweit existierende Problem der fehlenden, zu geringen oder um Jahre verzögerten Orientierung von Ärzten an wissenschaftlichen Behandlungs-Leitlinien gibt es eine Vielfalt von Erklärungsversuchen. Rasch erfolgversprechende oder wirksame Lösungsstrategien gibt es dagegen nur wenige. Die Erklärungsversuche, es liege an dem für ärztliche Praktiker zu großen Umfang vieler Leitlinien, diese wären situativ nicht präsent, bezögen sich viel zu wenig auf den individuellen Patienten und dessen Situation erfordere oft spontane Behandlungsschritte ohne Leitlinienabsicherung, sind zum Teil plausibel und nachzuvollziehen, aber empirisch kaum überprüft worden.

Dieser Zustand ist nun in zwei Städten der kanadischen Provinz Alberta, Edmonton und Calgary, mit einer randomisierten kontrollierten Studie über die Umsetzung von nachgewiesenermaßen wirksamen Sekundärpräventionsmaßnahmen durch niedergelassene Allgemeinärzte beendet worden. Zuvor war schon klar gewesen, dass sekundärpräventive Aktivitäten zu wenig eingesetzt werden und suboptimale gesundheitliche Ergebnisse und damit Nachteile für Patienten die Folge sind.

480 Erwachsene, die in insgesamt 252 Praxen wegen einer chronischen arteriellen Herzerkrankung in Behandlung waren, wurden für diese Studie in drei Gruppen aufgeteilt: Eine Kontrollgruppe, die wie bisher behandelt wurde. Eine Gruppe für deren Behandlung ihre Ärzte anlässlich der wahlweisen ersten Herzkatheterisierung einen allgemeinen Hinweis auf ein Bündel evidenter sekundärpräventiver Maßnahmen erhielten. Schließlich eine dritte Gruppe deren Primär-Ärzte dieselben Hinweise per Fax mit dem Unterschied erhielten, dass die Empfehlungen von einem örtlichen medizinisch-ärztlichen Meinungsführers oder Meinungsführerin unterschrieben waren. Inhalt des Faxes waren nicht nur die spezifischen Leitlinienempfehlungen, die Patienten mit Statinen in ausreichender, d.h. wirksamer Dosis zu behandeln samt expliziter und kompakter Darstellung ihrer Evidenz, sondern auch eine patientenbezogene Darstellung des Zustandes seiner Koronararterien.

Die Behandlungssituation dieser Patientengruppen sah so aus:

• Ein wider Erwarten hoher Anteil von 66% erhielt bereits Statine verordnet.
• Die meisten PatientInnen erhielten aber eine zu niedrige Dosis, d.h. im Durchschnitt eine Dosis, die einem Drittel der von der Leitlinie empfohlenen Dosis entsprach.
• Ihr LDL-Cholesterinspiegel, der als Risikofaktor gilt, war durchweg erhöht und lag durchschnittlich bei 3.09 mmol/L.

Sechs Monate nach der Kathederuntersuchung und der empfohlenen Intervention und Erinnerung zum als optimal angesehenen "point-of-care", sah die sekundärpräventiv empfohlene Behandlung mit Statinen so aus:

• In der Kontrollgruppe erhielten überraschenderweise 50% der Patienten, die vorher keine Statine verordnet bekommen hatten, sie jetzt.
• In der Gruppe von Patienten, deren Ärzte unsigniert Behandlungsempfehlungen erhalten hatten, hatte sich das Statin-Management bei 54% verbessert (Odds Ratio=1,18; nicht signifikant p=0,52).
• Die Ärzte, die Empfehlungen von einer fachlichen Autorität erhalten hatten, orientierten die Behandlung bei 60% der vorher nicht oder unzulänglich behandelten Patienten an diesen Leitlinienempfehlungen (Odds Ratio=1,51; nicht bzw. nur schwach signifikant p=0,09).
• Es gab also in allen drei Patientengruppen sekundärpräventive Verbesserungen, die aber mit Ausnahme einiger Subgruppen (z.B. bei Patienten, die nach der Untersuchung einen Facharzt als Behandler bevorzugten) so eng beieinander lagen, dass kein statistisch signifikanter Unterschied gefunden werden konnte. Bei den Unterschieden könnte es sich also um reine Zufälle handeln. Und eine Verbesserung der Behandlung erfolgte unabhängig davon, ob die Ärzte auf Leitlinienempfehlungen hingewiesen worden waren oder nicht.
Zwischen rund 25% und 40% der Patienten erhielten daher auch nach der gesamten INtervention nicht die evidente sekundärpräventive Behandlung.
• Die durchschnittlichen LDL-Cholesterinlevels der auf die drei Gruppen aufgeteilten Herzkranken unterschieden sich nur wenig.

Selbst der Versuch die eingangs genannten Gründe für die schlechte Nutzung von Leitlinienempfehlungen zu beseitigen oder einzuschränken, also situative, patientenbezogene, knappe und mit dem Überzeugungsgewicht einer örtlichen Behandlungsautorität ausgestattete Fax-Informationen zur Verfügung zu stellen, verbessert den Einsatz sekundärpräventiver Mittel bei Herzerkrankten durch ihre Allgemeinärzte gegenüber der Kontrollgruppe nicht oder nicht ausreichend.
Auch wenn damit erneut eine Hoffnung auf eine relativ unaufwändig zu initialisierende bessere Versorgung zerstoben ist, sollten künftige ForscherInnen sich intensiv mit den Motiven und Gründen der Ärzte aller Interventionsgruppen auseinandersetzen und möglicherweise zusätzlich notwendige Inhalte und Formen der Therapieverbesserung mit entwickeln.

Die 8 Seiten des elektronisch vorab publizierten Studienberichts "The Enhancing Secondary Prevention in Coronary Artery Disease trial von McAlister FA, Fradette M, Majumdar SR, et al. in der kanadischen Fachzeitschrift CMAJ (2009 Dec 8;181(12):897-904), sind komplett und kostenlos zugänglich.

Bernard Braun, 17.1.10


Selbstzahlerleistungen - Studie aus Kiel zeigt: fragwürdige Angebote sind weit verbreitet

Artikel 1594 Bei einem Arztbesuch in den letzten 12 Monaten haben 20,5% der gesetzlich krankenversicherten Patienten eine erwünschte Leistung nicht erhalten, 41,7% erhielten vom Arzt das Angebot für eine selbst zu zahlende Leistung, eine versagte Leistung wurde in 43,3% der Fälle sofort oder später als IGeL angeboten.

Dies sind Ergebnisse der Befragung einer repräsentativen Stichprobe Lübecker von Bürgern und Bürgerinnen der Städte Lübeck und Freiburg, die von Sozialmedizinern der Universität zu Lübeck durchgeführt wurde.

Als individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) werden medizinische Leistungen bezeichnet, die die von den gesetzlichen Krankenkassen nicht finanziert werden und die daher von Patienten selbst bezahlt werden müssen. Wir berichteten mehrfach, u.a. IGeL-Markt wächst weiter an. Neben einigen sinnvollen Leistungen, wie Reiseimpfungen und Gesundheitszeugnissen, handelt es sich um Untersuchungen und Behandlungen, die wegen fehlendem Nutzennachweis nicht von der GKV übernommen werden.
Die meisten Patienten haben bereits Erfahrungen mit IGeL gemacht, insgesamt 53,2%, in den letzten 12 Monaten 41,7%. Erfahrungen mit Leistungsbegrenzungen geben 26,2% der Patienten an, in den letzten 12 Monaten 20,5%.

Der Anteil der Besucher, die ein Angebot für eine IGeL erhielten, lautet:
•Augenarzt 61,7%
•Gynäkologe 45,9%
•Urologe 24,2%
•Orthopäde 23,9%
•Hausarzt 14,5%.

Zu den häufig angebotenen Leistungen zählen Augeninnendruckmessung, Ultraschall, Krebsfrüherkennung, Laboruntersuchungen, alternative Heilmethoden, Knochendichtemessung sowie Vitaminspritzen und "Aufbauspritzen".

Als Leistungsbegrenzung wurden in dieser Studie Leistungen oder Verordnungen definiert, die Patienten von einem Arzt nicht erhalten hatten, obwohl sie sie subjektiv benötigt hätten. Versagte Leistungen betrafen im wesentlichen Heilmittel und Medikamente, seltener Rehabilitationsleistungen und Hilfsmittel. Orthopäden, Allgemeinmediziner, Augenärzte und Internisten versagen am häufigsten Leistungen. Als Begründung geben sie zumeist an, die würde die Kosten nicht mehr übernehmen (53,8%) bzw. das Budget sei erschöpft (27,3%). Verständnis für die Erklärung des Arztes brachten nur 25% der Patienten auf. In 43,3% boten die Ärzte die versagte Leistung als selbst zu bezahlende Leistung an, zumeist noch im selben Gespräch.

Diese sorgfältig konzipierte Studie bestätigt die weite Verbreitung von Selbstzahlerleistungen, wie sie bereits aus den Studien des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen bekannt ist. Ärzte bieten vor allem Leistungen an, die einen präventiven Anstrich jedoch keinen belegten Nutzen und somit ein negatives Verhältnis von Nutzen und Schaden haben. Neu ist das Wissen um die Gleichzeitigkeit von Leistungsversagung und Angebot als Selbstzahlerleistung sowie das fehlende Vertrauen in die Erklärungen des Arztes. Aus der WidO-Untersuchung ist bekannt, dass immerhin jeder dritte Befragte angibt, das Angebot von selbst zu zahlenden Leistungen verschlechtere das Verhältnis zum Arzt. Diese Studie hatte auch gezeigt, dass Ärzte die Selbstzahlerleistungen vorzugsweise ihren zahlungskräftigen Patienten anbieten.

Die ärztlichen Körperschaften haben die Problematik von IGeL durchaus erkannt. Eine gemeinsame Patientenbroschüre von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung, gemeinsam erstellt mit dem Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin, gibt dem Patienten zumindest die Möglichkeit, die richtigen Fragen zu stellen, wenn es um IGeL geht. Beantwortet der IGeL-anbietende Arzt die Fragen wahrheitsgemäß, dürften nicht viele vom Patienten als lohnend erachtete Leistungen übrig bleiben.

Richter S, Rehder H, Raspe H. Individuelle Gesundheitsleistungen und Leistungsbegrenzungen: Erfahrungen GKV-Versicherter in Arztpraxen. Deutsches Ärzteblatt, 26.6.2009

SELBST ZAHLEN? Individuelle Gesundheits-Leistungen (IGeL) - ein Ratgeber für Patientinnen und Patienten. März 2009. Herausgegeben von Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V. (Hrsg.).

David Klemperer, 1.7.09


Erste Zeugnisse für Gemeindeschwester AGnES: Modellprojekt bekommt gute Noten von Ärzten und Patienten

Artikel 1588 AGnES (Arzt-entlastende, Gemeinde-nahe, E-Health-gestützte, Systemische Intervention) ist ein Modellprojekt, das in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt durchgeführt wurde, um Engpässen in der hausärztlichen Versorgung zu begegnen. Im AGnES-Modellprojekt wird der Hausarzt von einer speziell ausgebildeten Krankenschwester (Telegesundheitsschwester, Gemeindeschwester) unterstützt, die durch neue Kommunikationstechniken mit dem Hausarzt in Verbindung steht und ihn so von der zeitraubenden Tätigkeit der Hausbesuche teilweise entlasten kann. Die Projekte wurden jetzt in einer ersten Bilanz durch Befragung von Ärzten und Patienten überprüft, wobei sich ein sehr hohes Maß an positiven Bewertungen ergab.

Demografischer Wandel und steigende Lebenserwartung von Patienten einerseits sowie Schwierigkeiten bei der Wiederbesetzung von Arztpraxen in ländlichen Regionen waren zentrale Gründe für die Einführung der Modellprojekte, bei denen speziell ausgebildete Krankenschwestern einen Teil der ärztlichen Tätigkeiten übernahmen und den Arzt so von Routine-Arbeiten entlasteten. Insgesamt wurden etwa 300 unterschiedliche Tätigkeiten delegiert. Dazu gehörten (1) die Erhebung diagnostischer Parameter (z. B. Blutdruck- und Blutzuckerwerte, Puls, Gewicht, Peakflow, Temperatur, EKG) (Anteil etwa 50%), (2) die standardisierte Beurteilung des Gesundheitszustandes, Dokumentation von Symptomen und medizinisch relevanten Ereignissen, eine Beratung etwa zur Flüssigkeitsaufnahme, Ernährung, zum Umgang mit Heil- und Hilfsmitteln (Anteil etwa 35%) und (3) auch einfache medizinische Tätigkeiten (z. B. Blutentnahmen, Injektionen und Wund- und Dekubitusbehandlungen, Verbandswechsel) (Anteil etwa 15%).

Die Modellprojekte unterscheiden sich insofern, als die AGnES-Mitarbeiterinnen je nach Projekt in Voll- oder Teilzeit arbeiten und unterschiedlich angebunden sind, an einer Einzel- oder Gemeinschaftspraxis, einem medizinischen Versorgungszentrum oder einem lokalen Hausärzteverbund. Eine wesentliche Neuerung besteht darin, dass Krankenschwestern statt des Arztes Hausbesuche durchführen können, weil technische Verbindungen zwischen dem Arzt, dem Auto der Pflegeschwester sowie bei langzeitüberwachten Patienten durch WLAN eingerichtet sind. Die Schwester kann dadurch unabhängig von ihrem Standort mit dem Arzt kommunizieren oder ihm Daten wie Blutdruck, EKG übermitteln. Ferner können bei Patienten, Telecare-Geräte installiert werden, die eine dauerhafte ärztliche Überwachung ermöglichen.

Bis Oktober 2008 hatten in den vier neuen Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt mehr als 1.500 Patientinnen und Patienten an einem der Modellprojekte nach dem AGnES-Konzept teilgenommen. Die zeitlich befristeten Projekte wurden durch das Institut für Community Medicine der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald konzipiert, durchgeführt und wissenschaftlich ausgewertet. Die teilnehmenden Patientinnen und Patienten waren zum größten Teil multimorbide (durchschnittlich 6 Diagnosen pro Patient), waren gar nicht oder nur eingeschränkt mobil und hatten ein Durchschnittsalter von 79 Jahren. Insgesamt wurden 10.112 Hausbesuche durchgeführt.

In einer Befragung zeigten sich dann eindeutig positive Bewertungen des Projekts;
• 92% der Hausärzte/innen bewerteten die Qualität der neuen medizinischen Betreuung als vergleichbar mit einer üblichen hausärztlichen Vorgehensweise
• 90% der Hausärzte/innen gaben an, dass sich das AGnES-Konzept entlastend auf ihre Tätigkeiten auswirkt
• 88% der Hausärzte/innen meinten, dass sich der Einsatz der AGnES-Fachkräfte positiv auf die Mitwirkungsbereitschaft der Patienten/innen (Compliance, Adherence) auswirkt
• 99% der Patienten/innen sagten, dass die AGnES-Fachkräfte kompetente Ansprechpartnerinnen für Gesundheitsfragen sind und
• 94% der Patienten/innen können sich vorstellen, dass die Hausärztin/der Hausarzt Hausbesuche nur noch bei dringendem medizinischem Bedarf durchführt und eine AGnES-Fachkraft die restlichen Hausbesuche übernimmt.

Diese überaus positive erste Bilanz scheint die sehr ablehnende Haltung von Ärzteverbänden nachhaltig zu widerlegen. So hieß es in einer Presseinformation der Landesärztekammer Brandenburg vom 20. November 2007:
"Projekt "Gemeindeschwester" muss überarbeitet werden
Die Landesärztekammer Brandenburg (LÄKB) fordert eine inhaltliche Neuausrichtung des Modellprojektes 'Gemeindeschwester'. In einer Resolution betont die Kammerversammlung, dass das Projekt nur eine Chance auf Realisierung hat, wenn es mit der Ärzteschaft und nicht gegen sie entwickelt wird. (...) In der öffentlichen Diskussion stellen die Delegierten zunehmend eine unrealistische, idealisierte und antiquierte Vorstellung von dem neu einzuführenden Berufsbild einer 'Gemeindeschwester' fest. Der verklärte Blick auf alte DDR-Bilder riskiert eine Fehlentwicklung, so der Standpunkt der Kammerversammlung. (...) Die Schaffung einer
'Dritten Säule' durch akademisierte Heilhilfsberufe ist unnötig.
Verantwortlichkeiten werden zersplittert, Kosten in
die Höhe getrieben und die Bürokratie erhöht, erklärte
Dr. Udo Wolter, Präsident der LÄKB, stellvertretend für die
Kammerversammlung."

• Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Familie des Landes Brandenburg: Vorstellung der Modellprojekte nach dem AGnES-Konzept in den Ländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt
• Mehrere Dateien zum Symposium "Hausarztunterstützende Konzepte und Strukturen - Die Modellprojekte nach dem AGnES-Konzept" (17. Oktober 2008 in Berlin)
• Wissenschaftliche Bilanz des Teilprojekts auf Rügen, Abstract und PDF-Download: Neeltje van den Berg et al: GP-support by means of AGnES-practice assistants and the use of telecare devices in a sparsely populated region in Northern Germany - proof of concept (BMC Family Practice 2009, 10:44doi:10.1186/1471-2296-10-44)

Gerd Marstedt, 23.6.09


Wie zahlreich sind und welchen Nutzen haben die "Medizinischen Versorgungszentren (MVZ)"? Antworten des KBV-MVZ-Survey 2008

Artikel 1566 Seit dem 01.01.2004 besteht mit dem Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GMG) die Möglichkeit, Medizinische Versorgungszentren (MVZ) zu gründen. Das Vertragsarztrechts-Änderungs-Gesetz (VÄndG) hat die Rahmenbedingungen für MVZ ab dem 01.01.2007 modifiziert und auch erweitert.

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hat die Entwicklung der MVZ-Gründungen seitdem mit Publikationen begleitet. Fortlaufend quartalsweise erscheint die MVZ-Statistik, welche die strukturellen Eckdaten erhebt. Im Jahr 2005 wurde erstmals ein so genannter MVZ-Survey, d.h. eine repräsentative Befragung über die Motive und Perspektiven der MVZ-Gründer durchgeführt. Im Jahr 2006 wurde der kostenlos in einer Kurzfassung von der KBV erhältliche MVZ-Leitfaden als praktische Hilfe für interessierte Gründer herausgegeben.

Nach den aktuellsten Daten der KBV gab es im 4. Quartal 2008 1.206 zugelassene MVZ mit 5.536 darin tätigen Ärzten, von denen wiederum 4.270 im Anstellungsverhältnis arbeiteten. Pro MVZ waren damit durchschnittlich 4,6 Ärzte tätig. 54,1% aller MVZ waren in Trägerschaft von Vertragsärzten und 37,4% in Trägerschaft eines Krankenhauses. Die am häufigsten beteiligten Facharztgruppen waren Hausärzte und Internisten.

Am 25. Mai 2009 veröffentlichte die KBV die Ergebnisse des zweiten Surveys, des MVZ-Survey 2008. Im Sommer 2008 hatte die KBV 1.023 MVZ angeschrieben. Es antworteten 286, das entspricht einer Rücklaufquote von 28 %. Bezüglich der Gründer (Vertragsärzte oder Krankenhäuser), Rechtsform, Arbeitsgröße, Zulassungsdauer und regionalen Verteilung war die Stichprobe repräsentativ.

Danach sah es bei den MVZ im ersten Halbjahr 2008 so aus:

• Die Zahl der Neugründungen hat sich mittlerweile auf einem niedrigen Niveau von rund 70 pro Quartal eingependelt, was aber trotzdem indiziert, dass sich die Versorgungsform MVZ etabliert hat.
• Im Vergleich zu den Praxen führen sie jedoch immer noch ein Nischendasein. So gab es im dritten Quartal 2008 1.152 MVZ gegenüber 80.000 zugelassenen Praxen.
• Die meisten MVZ gab es im ersten Halbjahr 2008 in Bayern, Berlin und Niedersachsen. In urbanen Zentren gibt es mehr MVZ als in ländlichen Gegenden (55 % städtische MVZ). Daraus ergeben sich laut Andreas Köhler, dem Vorstandsvorsitzenden der KBV zwei unterschiedliche Funktionen von MVZ's: "In Ballungsräumen können MVZ eine gute Ergänzung zur ambulanten Versorgung in den Praxen darstellen. Im ländlichen Raum sind sie hingegen eine Chance, um die medizinische Grundversorgung der Menschen zu gewährleisten".
• Zwei Haupttypen lassen sich identifizieren. Während das von Krankenhäusern gegründete MVZ in den neuen Bundesländern dominiert, ist in Westdeutschland das vertragsarztgeführte Zentrum vorherrschend. Die häufigste Gesellschaftsform ist die GmbH. Daraus leiten die Autoren der Studie die Prognose ab, ein dritter MVZ-Typ spiele künftig eine größere Rolle: das von einer Managementgesellschaft betriebene vertragsärztliche MVZ, das sich abgrenzt vom vertragsärztlichen MVZ als Variante der Gemeinschaftspraxis.
• Insgesamt sehen 71,7 % der Teilnehmer - betreiberunabhängig - die umfassende wohnortnahe Versorgung nicht gefährdet. Hinsichtlich der Auswirkungen von MVZ auf die sie umgebende Versorgungslandschaft haben Vertragärzte häufiger angegeben, dass MVZ-Gründungen zu Lasten der bestehenden Strukturen geschehen - eine Sichtweise, die Antwortende für Krankenhaus-MVZ nicht teilten.
• Die Haupteinnahmequelle aller MVZ stellen kollektivvertragliche Einnahmen aus der EBM-Abrechnung dar. 50,3 Prozent der MVZ geben gestiegene EBM-Einnahmen an, wobei dieser Trend für Krankenhaus-MVZ deutlicher ausfällt. 21 % der vertragsärztlich geführten MVZ betrachten die Einkommenssituation als rückläufig.
• Zwei Drittel aller MVZ haben ein Qualitätsmanagement-System eingeführt. Während annährend zwei Drittel der Teilnehmer der Auffassung sind, dass QM-Systeme einen Wettbewerbsvorteil darstellen, werden mögliche konkrete Effekte des Qualitätsmanagements eher zurückhaltend beurteilt.

Angesichts der Entdeckung von MVZ als Anlagebereich für Kapitaleigner warnt A. Köhler schon mal: "Hier liegt auch eine Gefahr, MVZ vorrangig als Geschäfts- und nicht als Versorgungsmodell zu sehen: Gewinnorientierte Kapitalgesellschaften als MVZ-Eigner könnten versuchen, aus wirtschaftlichen Gründen direkten Einfluss auf die ärztliche Tätigkeit zu nehmen. Dem muss der Gesetzgeber vorbeugen". Das KBV-Vorstandsmitglied Carl-Heinz Müller ergänzt diese Aussage: "Denn unabhängig davon, ob Ärzte als selbstständige Vertragsärzte oder angestellt arbeiten, sind sie Angehörige eines freien Berufs. Dies dient auch dem Schutz der Patienten".

So berechtigt die warnenden Hinweise der KBV-Vertreter gegen die trojanisch über die MVZ einsickernden Gewinnerzielungsmentalitäten sind, so schwer fällt es dabei, nicht auch an die seit Anfang diesen Jahres von Teilen der "frei" niedergelassenen Ärzten mit offenem Visier und auch zu Lasten der Patienten geführten Auseinandersetzung um die Auswirkungen ihres neuen Honorarsystems zu denken.
Gemeint sind z.B. die mehrtägigen Schließungen von Facharztpraxen, die Verweigerung von Behandlungen auf Versichertenkarte und die Forderung nach Vorleistung der Patienten sowie der verbreitete und Vertrauen erodierende Eindruck, "die" Ärzte nagten am Hungertuch (bei einem Durchschnittseinkommen vor Steuern und Sozialabgaben aber nach Abzug von Praxiskosten von 95.000€ bis 120.000€ pro Allgemein- oder Facharzt) und deshalb müssten sie sich vorrangig um ihre Honorierung kümmern. Wer vom "freien Beruf des Arztes" redet, sollte auch bedenken, dass dessen bisherige Stabilität und Anerkennung trotz momentaner Einkommensverluste um mehreren zig Prozent bei einigen Facharztgruppen wesentlich von einer völlig unfrei garantierten Grundfinanzierung ihres Gesamteinkommens durch die GKV zwischen mindestens zwei Dritteln und 100% abhing. Die unterschiedlichen Einkommenshöhen hinter dem Durchschnittsbetrag sind bekannt und natürlich unfreulich, sind aber kein Problem von "zu wenig Geld im System", sondern zunächst eines der besseren Verteilung.

Für kommende Erhebungen wird schließlich etwas im deutschen Gesundheitssystem für neue Leistungen und Strukturen immer noch nicht Prioritäres und Selbstverständliches angekündigt: Den offen eingeräumten bisher fehlenden Nachweis zu erbringen, dass die MVZ die Versorgung vor allem in den unterversorgten Gebieten verbessern können.

Weitere allgemeine Informationen über die MVZs sind in einem speziellen Bereich der KBV-Homepage kostenlos erhältlich. Dies trifft auch auf den "MVZ-Survey 2008. Die strategische Positionierung Medizinischer Versorgungszentren" zu.

Bernard Braun, 25.5.09


Was kostet die Interaktion mit privaten Krankenversicherern Ärzte und weiteres Praxispersonal in den USA an Zeit und Geld?

Artikel 1558 Eine der vielen Ursachen für die mittlerweile fast 16 % des Bruttoinlandprodukts, die in den USA auf Gesundheitsausgaben entfallen, ist der gegenüber öffentlichen und kollektiven Versicherungssystemen höhere Verwaltungsaufwand der überwiegend (aber bei weitem nicht komplett) privaten einzelvertraglichen Absicherung gegen Erkrankungsrisiken. Hier dachte man meist an die Aufwändungen für Vertreter, Vertragsabschlüsse und andere Aquisitions- und Haltekosten und die enormen Kosten für Anwälte und Haftpflichtversicherungen im amerikanischen Gesundheits- und Rechtssystem.

Weniger dachte und wusste man bis jetzt an und von den Folgekosten, die den Leistungserbringern durch die komplexe Interaktion mit den verschiedenen überwiegend privaten (überwiegend deshalb, weil sich die staatlichen Versicherungssysteme Medicare und Medicaid zum Teil auch privater "health plans" bedienen) Krankenversicherungsanbietern und deren zahlreichen Einzel- oder selektiven Verträgen mit Ärzten und Krankenhäusern entstanden.

Dies hat sich jetzt durch zwei von der "Robert Wood Johnson Foundation's Changes in Health Care Financing and Organization (HCFO)-Initiative" und dem "Commonwealth Fund" unterstützten Untersuchungen über den Zeitaufwand und dessen Geldäquivalent von Verwaltungskräften und Ärzten in Gesundheitseinrichtungen grundlegend und präzise geändert, deren Ergebnisse im neuesten Heft der renommierten Public Health-Zeitschrift "Health Affairs" bzw. der neuesten "Web Exclusive"-Ausgabe dieser Zeitschrift enthalten sind.

In der einen Studie untersuchten Lawrence P. Casalino zusammen mit Kollegen vom Weill Cornell Medical College mittels einer 2006 durchgeführten Befragung von 895 (von als repräsentativ für die Zielgruppe geltenden 1.939 angeschriebenen Personen antworteten also 49,8% [roh] bzw. 57,5% [adjustiert]) Ärzten (1.310) und Verwaltungskräften medizinischer Gruppenpraxen (629), den Zeitaufwand, der für das Einholen von Behandlungserlaubnissen, das Ausfüllen von Arzneimittelformularen, Anforderungen, Ermächtigungen, Vereinbarungen und die Dokumentation von Qualitätsdaten von und für Versicherungsunternehmen aufgebracht werden musste:

• Die Ärzte mussten dafür insgesamt 142 Stunden oder rund drei Wochen pro Jahr und Kopf aufwenden. Durchschnittlich waren dies wöchentlich 3 Stunden. Der Aufwand bei primary care-Ärzten betrug 3,5 Stunden, bei Fachärzten 2,6 Stunden und bei Chirurgen 2,1 Stunden.
• Das Pflegepersonal verwendete pro Jahr und Arzt mehr als 23 Wochen für derartige Verwaltungsaufgaben und
• das Büropersonal war sogar 44 Wochen pro Arzt und Jahr mit diesen Aufgaben beschäftigt.
• Wenn man diese durch private Versicherungsverhältnisse anfallenden Arbeitsaufwände monetarisiert, kosten sie jährlich rund 31 Milliarden US-$ oder 68.274 US-$ pro Arzt und Jahr. Der genannte Betrag stellt 6,9% aller Ausgaben für Ärzte und klinische Dienstleistungen in den USA dar. Dieser Anteil ist immerhin sechsmal so hoch wie die gesamten jährlichen Ausgaben der US-Bundesregierung für das "Children's Health Insurance Program (CHIP)".
• Fast drei Viertel der Befragten gaben an, dass sich ihr Aufwand für Interaktionen mit "health plans" in den vergangenen zwei Jahren zugenommen hatte.

Da in der Studie ein Teil der niedergelassenen Ärzte und sämtliche stationär tätigen Ärzte und Verwaltungskräfte ausgeschlossen waren, also 163.000 Ärzte und ihr Pflege- und Verwaltungspersonal, dürfte der absolute Betrag für die Verwaltungsgeschäfte mit Krankenversicherungen in jedem Fall noch deutlich höher sein. Würde man auch noch die für diese Interaktionen notwendigen technischen Geräte (Telefon, EDV etc.) hinzurechnen, wäre der Betrag noch höher.
Zum Schluss ihrer Studie geben Casalino et al. aber auch noch zu bedenken, dass man administrative Kosten nicht nur als negativ und Arbeitszeitverschwendung betrachten sollte, sondern auch die damit verbundenen Möglichkeiten der Kostenersparnis und der Qualitätsverbesserung in Betracht ziehen sollte. Obwohl es für Ärzte sehr lästig und teuer ist mit verschiedenen Versicherungen und ihren Verwaltungsroutinen zurecht zu kommen könnten gerade der dahinter stehende Wettbewerb Nutzen im Bereich von Innovation oder der erweiterten Wahlmöglichkeiten von Patienten produziert werden. Ob dies tatsächlich der Fall ist oder reine Theorie oder Wettbewerbs-Apologetik ist bedarf allerdings nach Ansicht der AutorInnen erst der empirischen Überprüfung.

In einer separaten zweiten Fall-Studie eines von Julie Sakowski am Sutter Health Institute for Research and Education geleiteten Forschungsteams, fand sich, dass die mehr als 500 Ärzte in einer großen medizinischen Versorgergruppe (medical group) in Kalifornien mehr als 35 Minuten pro Tag aufbringen mussten, um Rechnungsfragen und Versicherungsaufgaben zu erledigen. Diese Aktivitäten erforderten zusätzlich noch rund zwei Drittel der Arbeitszeit einer vollbeschäftigten Verwaltungskraft pro vollbeschäftigtem Arzt.
83% des nichtklinischen Personals widmeten ihre Arbeitszeit ausschließlich der Abrechnung von Leistungen und Versicherungsaktivitäten.
2006 beliefen sich die Kosten für die Abrechnung und Versicherungskontakte auf 85.276 US-$ pro Vollzeit-Arzt oder auf 10% des gesamten Versorgungsaufwands der Praxis.

Als mögliche Lösung der Kompliziertheit und damit auch Fehleranfälligkeit sowie der Kosten des bisherigen Systems schlagen die WissenschaftlerInnen vor: "Within a multipayer system, adopting fully standardized plan features and procedures offers the best hope of major efficiencies in billing/insurance administration."

Auch wenn viele der Abläufe und Probleme in den USA wegen der deutlich anderen Strukturen nicht oder nicht 1:1 auf das bundesrepublikanische System übertragbar sind, verdienen die Problemsicht und die angedachten Lösungen im Zeichen der politisch gewollten Ausdehnung oder Vervielfachung selektiver und damit Einzelverträge mehr Beachtung als viele andere internationale Erfahrungen. Wenn deutsche Ärzte schon bei den Disease Management-Programmen (DMP) über einen zu hohen Verwaltungsaufwand klagten, wird es bei Ärzten, die demnächst mit 10 oder auch 27 verschiedenen gesetzlichen Krankenkassen unterschiedliche Hausarzt- und andere Versorgungsverträge mit individuellen Inhalten und Verwaltungsabläufen haben werden, nicht anders, sondern eher noch aufwändiger werden.

Der Aufsatz "Peering into the Black Box: Billing and Insurance Activities in a Medical Group" von Julie A. Sakowski, James G. Kahn, Richard G. Kronick, Jeffrey M. Newman, und Harold S. Luft ist am 14. Mai 2009 in der Web Exclusive-Ausgabe der Zeitschrift "Health Affairs" (w544-w554) erschienen. Zu ihm gibt es kostenlos ein Abstract, eine zweiseitige Zusammenfassung "In the Literature" beim Commonwealth Fund oder auch die Komplett-Version als PDF-Datei.

Der Aufsatz "What Does It Cost Physician Practices to Interact with Health Insurance Plans?" von Lawrence P. Casalino, Sean Nicholson, David N. Gans, Terry Hammons, Dante Morra, Theodore Karrison, und Wendy Levinson, M.D. ist ebenfalls am 14. Mai 2009 in der Zeitschrift "Health Affairs" (28, Nummer 4: w533-w543) erschienen. Von ihm gibt es auch eine zweiseitige Zusammenfassung beim Commonwealth Fund, ein Abstract und die kostenlose Komplettversion.

Bernard Braun, 17.5.09


Psychische Störungen: Viele Beschwerden bleiben in der hausärztlichen Praxis unerkannt

Artikel 1551 Eine repräsentative Befragung des "Gesundheitsmonitor" der Bertelsmann-Stiftung bei rund 1.500 Deutschen im Alter von 18-79 Jahren hat jetzt gezeigt, dass bei vielen Patienten, die einen Hausarzt wegen psychischer Beeinträchtigungen aufsuchen, diese Beschwerden unerörtert bleiben und eine Diagnose mit entsprechender Therapie unterbleibt. Gut ein Fünftel der Befragten (21%) gibt an, in den vergangenen zwölf Monaten wegen psychischer Beschwerden einen Arzt oder Psychotherapeuten kontaktiert zu haben, wobei Kontakte zum Hausarzt mit 18 Prozent aller Fälle überwiegen. Nur etwa 7 Prozent nahmen einen Psychiater, Psychotherapeuten oder Behandlungsangebote einer psychiatrischen Institutsambulanz in Anspruch.

Als problematisch wird von den Wissenschaftlern das Ergebnis hervorgehoben, dass bei Patienten, die wegen psychischer Beschwerden ausschließlich von einem Hausarzt behandelt wurden, lediglich in 8 Prozent der Fälle die Diagnose einer psychischen Störung gestellt wurde. Demgegenüber wurde bei 53 Prozent der Patienten, die in den letzten zwölf Monaten wegen psychischer Beschwerden (auch) einen Psychiater oder Psychotherapeuten konsultiert hatten, eine psychische Störung diagnostiziert

Teilweise wird dies dadurch verursacht, dass nur die Hälfte der Patienten mit psychischen Beschwerden diese im Gespräch mit dem Hausarzt auch offen artikuliert. Dies wiederum hat zur Folge, dass psychische Erkrankungen entsprechend seltener erkannt und später oder gar nicht versorgt werden. Ein Verschweigen psychischer Beschwerden bedeutet jedoch nicht, dass Patienten an einer Besprechung dieses Themas kein Interesse haben. Häufig dürften in diesen Fällen vielmehr unterschwellige Bedürfnisse vorhanden sein, dann aber unbefriedigt bleiben. Deutlich wird dies daran, dass Patienten, die psychische Beschwerden nicht von sich aus thematisieren, relativ häufig über (so erlebte) Misserfolge im Rahmen ihrer hausärztlichen Versorgung berichten. Das bezieht sich sowohl auf die Diagnostik als auch auf Therapieentscheidungen des Arztes und negative Therapiefolge. Dabei spielt es keine Rolle, ob Patienten über einen Hausarzt als festen Ansprechpartner verfügen, der ihre Krankengeschichte der letzten Jahre gut kennt.

Auch anhand anderer Daten zeigen sich Defizite hinsichtlich der Diagnostik psychischer Störungen sowie in der Arzt- Patient-Kommunikation. So steht die im Gesundheitsmonitor erfasste Diagnose-Quote für psychische Erkrankung mit 5 Prozent im deutlichen Gegensatz zu den Häufigkeiten von über 20 Prozent, die aus Daten der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung bekannt sind. Die in der Gesundheitsmonitor-Befragung von Patienten erfassten sehr viel niedrigeren Quoten psychischer Diagnosen deuten wohl darauf hin, dass unspezifische Diagnosen psychischer Erkrankungen den Patienten gegenüber nicht in der gebotenen Transparenz mitgeteilt werden.

Will man eine bessere Identifikation psychischer Erkrankungen sowie eine Optimierung der Behandlung erreichen, so sind nach Auffassung der Wissenschaftler das aktive Nachfragen nach psychischen Beschwerden durch den Arzt und die systematische Diagnostik psychischer Störungen in der Primärversorgung wichtige Ansatzpunkte. Die Einführung von Versorgungsleitlinien zur Diagnostik und Therapie psychischer Störungen in der hausärztlichen Versorgung, insbesondere der zentralen Indikationen Depression und Angststörungen, verbunden mit spezifischen Fortbildungskonzepten und geeigneten Qualitätsmanagementinstrumenten wären Erfolg versprechende Maßnahmen. Erfahrungen aus dem angloamerikanischen Raum weisen allerdings darauf hin, dass sich eine Verbesserung der Erkennensrate psychischer Störungen in der Primärversorgung nur dann nachhaltig und wirksam auf die Versorgungsqualität auswirkt, wenn die entsprechenden Maßnahmen mit einer Integration und Vernetzung der Versorgungsbereiche einhergehen. Die Einführung isolierter Maßnahmen (wie zum Beispiel ein Screening-Verfahren für depressive Störungen in der Hausarztpraxis) würde dagegen voraussichtlich wirkungslos bleiben.

Volltext der Studie: Timo Harfst, Gerd Marstedt: Psychische Gesundheit in Deutschland: Erkrankungen bleiben oft unentdeckt (Bertelsmann Stiftung, Gesundheitsmonitor, Newsletter 1/2009)

Gerd Marstedt, 5.5.09


Ein Allgemeinarzt als fester Ansprechpartner auch in Versorgungszentren und Gemeinschaftspraxen erhöht die Versorgungsqualität

Artikel 1505 Medizinische Versorgungszentren und Gemeinschaftspraxen haben im ambulanten Versorgungssystem der USA (und ebenso in England) eine weitaus höhere Bedeutung als bei uns in Deutschland, auch wenn beide Organisationsformen für niedergelassene Ärzte auch hier immer stärker an Bedeutung gewinnen. Patienten, die sich in solche Praxen begeben, geraten u.U. allerdings an wechselnde Ärzte. Und dies wiederum, so hat eine jetzt veröffentlichte US-amerikanische Studie gezeigt, ist mit einer schlechteren, weniger an Leitlinien orientierten Versorgungsqualität verbunden. Positiv formuliert: Die Verbundenheit ("connectedness") eines Patienten über einen längeren Zeitraum mit ein und demselben Arzt erweist sich als therapeutisch vorteilhaft für diese Patienten.

Die Studie basiert auf einer Auswertung von Patientendaten aus dem Massachusetts General Hospital Network in Boston, Massachusetts, einem Versorgungsnetzwerk mit ambulanten und stationären Einrichtungen. In die Studie einbezogen waren Patienten, die in den Jahren 2003 bis 2005 ambulante medizinische Hilfe des Netzwerks mindestens einmal in Anspruch genommen hatten. Diese wurden anhand der Patientendaten einer von zwei Gruppen zugeordnet: Patienten, die immer denselben Allgemeinarzt einer Praxis in Anspruch genommen hatten, und solche, die zwar dieselbe Praxis besucht hatten, dort aber von verschiedenen Ärzten behandelt worden waren. Patienten, die verschiedene Praxen besucht hatten, wurden aus der Analyse ausgeschlossen. In der ersten Gruppe (mit festem Arzt) waren dann 92.000 Patienten zu finden, in der zweiten Gruppe (mit fester Praxis aber wechselndem Arzt) knapp 54.000 Patienten. Die Patienten hatten über beide Gruppen hinweg 181 verschiedene Ärzte in 13 verschiedenen Praxen besucht, wobei es sich um 4 kommunale Versorgungszentren handelte und 9 ambulante Einrichtungen an Kliniken.

In der Auswertung der Patientendaten wurde dann überprüft, inwieweit sich für die Patienten in den beiden Gruppen unterschiedliche Vorgehensweisen nachweisen lassen, was die Beachtung medizinischer Leitlinien anbetrifft.
• Dabei wurden einerseits Maßnahmen zur Früherkennung berücksichtigt, soweit diese für die Patienten (hinsichtlich Alter und Geschlecht) in Frage kamen: Mammographie, Gebärmutterhals-Untersuchung, Darmkrebsspiegelung.
• Andererseits wurden die medizinischen Leistungen im Rahmen von Disease Management Programmen bei zwei Arten chronischer Erkrankung erfasst (Diabetes, Koronare Herzerkrankung): Messung des HbA1c-Werts (Blutzuckerwerte der letzten acht Wochen), Cholesterin-Spiegel usw.

Die beiden Patientengruppen wiesen allerdings einige Unterschiede auf, etwa was die Zahl der Arztbesuche in den letzten drei Jahren anbetrifft. Dieser Wert lag im Durchschnitt bei 8 Besuchen (bei festem Arzt) bzw. 4 Besuchen (feste Praxis mit wechselndem Arzt). In ähnlicher Weise war auch die Zeit seit dem letztem Arztbesuch unterschiedlich und betrug in der Gruppe mit festem Arzt 4 Monate, in der mit fester Praxis 13 Monate. Aufgrund dieser Unterschiede wurden dann multivariate Datenanalysen durchgeführt, in denen auch diese Besonderheiten und weitere Merkmale (Alter, Geschlecht, Rasse, Zahl der Arztbesuche usw.) berücksichtigt wurden.

Dabei zeigte sich, dass bei der Mehrzahl der einbezogenen 9 Indikatoren (Früherkennung: 3; diagnostische Leistungen bei chronischer Erkrankung: 6) signifikante Unterschiede zwischen den beiden Gruppen vorzufinden waren. Diese Differenzen blieben auch dann bestehen, wenn man die Zahl der Arztbesuche in Rechnung stellte. Durchgängig war zu finden: Patienten mit einem festen Arzt bekommen häufiger Früherkennungs-Untersuchungen und diagnostische Leistungen, sofern sie an einer chronischen Erkrankung leiden. Es ist also nicht die Häufigkeit der Kontakte im Versorgungssystem, was hier eine Rolle spielt, sondern wohl die auf ärztlicher Seite profundere Kenntnis des Patienten und seiner Krankengeschichte.

Hier ist ein Abstract zur Studie: Steven J. Atlas u.a.: Patient-Physician Connectedness and Quality of Primary Care (Annals of Internal Medicine, 3 March 2009, Volume 150, Issue 5, Pages 325-335)

Vor kurzem hatten zwei andere Veröffentlichungen empirische Befunde erbracht, die in eine ähnliche Richtung weisen. Deutlich geworden war einerseits, dass eine feste Anlaufstelle im medizinischen Versorgungssystem für viele Patienten eine bessere Versorgungsqualität bewirkt. In einer Auswertung von Daten des Bertelsmann Gesundheitsmonitor waren Patienten danach unterschieden worden, ob sie einen Hausarzt als reguläre Erstinstanz bei gesundheitlichen Beschwerden nutzen und der Arzt ihre Krankengeschichte gut kennt. Sofern dies der Fall war, zeigten sich diese Patienten deutlich zufriedener hinsichtlich der Kommunikation mit dem Arzt und der Gesprächsatmosphäre in der Sprechstunde, haben Früherkennungsuntersuchungen (Gesundheits-Checkup, Krebsfrüherkennung) häufiger in Anspruch genommen und sind auch häufiger mit der Gesundheitsversorgung insgesamt zufrieden und kritisieren seltener, dass in der medizinischen Versorgung die Zeit für das Arzt-Patient-Gespräch zu kurz ausfällt. vgl.: Eine feste Anlaufstelle im medizinischen Versorgungssystem bewirkt für viele Patienten eine bessere Versorgungsqualität

In einer anderen, international vergleichenden Studie von etwa 11.000 Erwachsenen in sieben Ländern war untersucht worden, ob bei Patienten mit einem "medizinischen Zuhause" ("medical home") Vorteile in der medizinischen Versorgung zu finden sind. Auch hier zeigte sich, dass solche Patienten zufriedener mit der Therapie und auch der Arzt-Patient-Kommunikation sind und nach eigener Meinung auch seltener Behandlungsfehler oder unnötige Doppeluntersuchungen erleben. vgl. hierzu: Ein "medizinisches Zuhause" bietet nach Patientenurteilen eine bessere Behandlungsqualität

Gerd Marstedt, 5.3.09


US-Experten: Wenig bis keine Evidenz des Nutzens von Hautkrebs-Screening oder ärztlicher Beratung über Hautkrebsprävention

Artikel 1493 Auch wenn der Februar klimatisch nicht der ideale Zeitpunkt ist, über den Nutzen des Hautscreenings gegen Hautkrebserkrankungen aufgrund ungeschützter Exposition gegenüber Sonnenstrahlung zu reden, gibt es dazu Nachdenkenswertes aus den USA.

Dort gehören die verschiedenen Hautkrebsarten, unterteilt in weißen Hautkrebs (Basalzellenkrebs, Basaliom) und schwarzen Hautkrebs (malignes Melanom), zu den am häufigsten diagnostizierten Krebsarten überhaupt - mit steigender Inzidenz in den letzten 3 Jahrzehnten. In Deutschland erkranken jährlich ca. 118.000 Menschen neu an weißem Hautkrebs. An schwarzem Hautkrebs erkranken hierzulande jährlich ca. 22.000 Menschen; etwa 3.000 sterben pro Jahr an dem malignen Melanom.
Was liegt also näher als die Forderung, alles präventiv Mögliche und Sinnvolle zu tun, um die Entstehung von Hautkrebs über Hautschädigungen zu verhindern und außerdem durch ein Screening möglichst alle Hautkrebserkrankungen so früh wie möglich entdecken und behandeln zu können.

Die neuesten dazu in den USA durchgeführten und im Februar 2009 veröffentlichten systematischen Analysen von RCT-Studien verbreiten allerdings erheblich Skepsis gegen die weltweit von Hautärzten und Krankenversicherungen empfohlenen und angebotenen Screeninguntersuchungen.

War die aus derartigen Untersuchungen zu gewinnende Evidenz des Nutzens von Screenings etc. schon bisher nicht groß, fanden die US-ForscherInnen auch aktuell und immer noch "no new evidence from controlled studies ... that addressed the benefit of screening for skin cancer with a whole body examination." Aber nicht nur hierzu mangelt es an gesichertem Wissen, sondern auch am Wissen über die Sorgfältigkeit des von Ärzten bisher durchgeführten Screenings bei wirklichen Patienten mit der Vielfalt von Hautbeschädigungen, die jeder Mensch aufweist. All dies zusammen verhindert "an accurate estimation of the benefits of screening for skin cancer in the general primary care population."

In dem in den "Annals of Internal Medicine" vom 3. Februar 2009 veröffentlichten Aufsatz "Screening for Skin Cancer. U.S. Preventive Services Task Force Recommendation Statement" kommen Wissenschaftler der U.S. Preventive Services Task Force nach Sichtung der Ergebnisse aller zum Thema in englischer Sprache seit 2001 erschienenen Studien auf 7 Seiten dann zu folgendem Schluss: "The USPSTF concludes that the current evidence is insufficient to assess the balance of benefits and harms of screening for skin cancer by primary care clinicians or by patient skin self-examination."

Die U.S. Preventive Services Task Force (USPSTF) ist die öffentliche wissenschaftliche Einrichtung, die in den USA u.a. Empfehlungen zu präventiven Dienstleistungen für Patienten ohne erkennbare Anzeichen für die Ziel-Erkrankung gibt. Auch wenn sie es der Politik und den Ärzten überlässt, ihre Erkenntnisse zu individualisieren, plädiert sie im aktuellen "Clinical Summary of U.S. Preventive Services Task Force Recommendation" zum Thema "Screening for Skin Cancer" für die allgemeine erwachsene Bevölkerung eindeutig so: "No recommendation due to insufficient evidence".

Abgerundet wird das skeptische Bild noch durch die Ergebnisse einer weiteren Analyse der U.S. Preventive Services Task Force zu der Wirksamkeit oder dem Nutzen einer primärärztlichen Beratung von asymptomatischen Patienten zur Prävention gegenüber unerwünschten Folgen von zu üppiger Sonnenbestrahlung.

Die entsprechende Veröffentlichung "Counseling to Prevent Skin Cancer. Recommendations and Rationale" findet lediglich "insufficient evidence to determine whether clinician counseling is effective in changing patient behaviors to reduce skin cancer risk. Counseling parents may increase the use of sunscreen for children, but there is little evidence to determine the effects of counseling on other preventive behaviors (such as wearing protective clothing, reducing excessive sun exposure, avoiding sun lamps/tanning beds, or practicing skin self-examination) and little evidence on potential harms."

Dabei stellen die US-WissenschaftlerInnen fast nebenbei fest, dass es für die präventiven Mittel und Strategien zur Verhinderung einer schädigenden Exposition gegenüber Sonnenstrahlung, also das Tragen von Schutzkleidung oder die regelmäßige Benutzung von Sonnenschirmen sowie die Nichtnutzung von Sonnenlampen oder bestimmten Bräunungstechniken und den Nutzen regelmäßiger Selbstuntersuchungen nur "little direct evidence" gibt, wenn es um den Zusammenhang der Interventionen mit der Hautkrebsmorbidität und -mortalität geht.

Dies lässt sie entgegen den geballten, aber nicht explizit wissenschaftlich belegten Empfehlungen zahlreicher us-amerikanischer medizinischer Fachgesellschaften (American Cancer Society, American Academy of Dermatology, American Academy of Pediatrics, American College of Obstetricians and Gynecologists, National Institutes of Health consensus panel und American Academy of Family Physicians) zu dem Schluss kommen, dass "the evidence is insufficient to recommend for or against routine counseling by primary care clinicians to prevent skin cancer" und bei dieser Gelegenheit all die bereits genannten Schutzmaßnahmen mit ungesichertem Nutzen empfehlen zu lassen.

Die Verwirrung über die aktuellen Veröffentlichungen ist gegenwärtig bei den praktisch tätigen Ärzten in den USA groß. Sie haben natürlich recht, dass eine längere ungeschützte Einstrahlung des Sonnenlichts insbesondere weißhäutigen Personen nicht gut bekommt und daher möglichst vermieden werden sollte. Trotzdem darf damit nicht die Erwartung verknüpft werden, ein geringeres Hautkrebs-Risiko zu haben. Die Beobachtung, dass man sich unter Sonnenschirmen letztlich zu lange gegenüber indirekter Bestrahlung exponiert ist und dies auch zu Hautschäden und möglicherweise Krebs führen kann, ist beachtenswert.

Egal, ob man zu den präventiven Mitteln greift oder nicht, scheint aber gegenüber einem Ganzkörper-Screening zu Hautkrebsanfängen nicht nur eine geringe Erwartung, sondern auch aktive Zurückhaltung angebracht zu sein. So gibt es offensichtlich eine hohe Anzahl falsch-positiver Funde von bösartigen Melanomen, die eine Reihe nicht harmloser Folgeuntersuchungen und evtl. auch nicht notwendige Operationen und Behandlungen nach sich ziehen.

Nachdenklich sollten diese Ergebnisse und Schlussfolgerungen aber auch die im GKV-System machen, die nach einem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses vom November 2007 am 1. Juli 2008 für jeden symptomfreien Versicherten über 35 Jahren im Zwei-Jahresabstand die Ganzkörper-Hautuntersuchung in den Leistungskatalog der GKV aufgenommen haben.

Das 17 Seiten umfassende Arbeitspapier "Screening for Skin Cancer: An Update of the Evidence for the U.S. Preventive Services Task Force" von Wolff T, Tai E und Miller T. (Evidence Synthesis No. 67. AHRQ Publication No. 09-05128-EF-1. Rockville, Maryland: Agency for Healthcare Research and Quality. February 2009) ist komplett kostenlos erhältlich.

Dies gilt auch für den Aufsatz "Screening for Skin Cancer. U.S. Preventive Services Task Force Recommendation Statement" der U.S. Preventive Services Task Force in der Fachzeitschrift "Annals of Internal Medicine" (Ann Intern Med. 2009;150:188-193).

In derselben Ausgabe der "Annals of Internal Medicine" veröffentlichen Tracy Wolff, MD, MPH; Eric Tai, MD, MS; and Therese Miller auch den im Kern mit ihrem Paper identischen Aufsatz "Screening for Skin Cancer: An Update of the Evidence for the U.S. Preventive Services Task Force" (Ann Intern Med. 2009;150: 194-198).

Die klinische Empfehlung der USPSTF zum Hautkrebssreening für Erwachsene ist auch kostenlos erhältlich.

Die Ausführungen der USPSTF über "Counseling to Prevent Skin Cancer Recommendations and Rationale" sind uneingeschränkt und kostenlos zugänglich.

Bernard Braun, 18.2.09


Ärzte sind auch nur Menschen: Bei ängstlichen Kopfschmerz-Patienten wird sehr viel mehr kostenträchtige Diagnostik betrieben

Artikel 1471 Patienten, die seit Tagen an Kopfschmerzen leiden und beim Arzt einen überaus ängstlichen und besorgten Eindruck machen, erhalten von ihrem Arzt nicht mehr Zuwendung und Mitgefühl und auch die Zeitdauer der Kommunikation mit dem Arzt ist nicht länger als bei anderen Patienten, die ihr Leiden eher sachlich und neutral schildern. In einem Punkt aber zeigten sich in einer jetzt veröffentlichten deutschen Studie deutliche Unterschiede: Bei ängstlichen Patienten wurden sehr viel häufiger teure diagnostische Untersuchungen durchgeführt und auch Überweisungen zu einem Facharzt veranlasst.

Bei der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Studie waren insgesamt 53 männliche Hausärzte im Großraum Düsseldorf beteiligt. Diese Ärzte hatten sich einverstanden erklärt, an einer Studie teilzunehmen, bei der sie irgendwann in den nächsten Wochen ohne vorherige Anmeldung den Besuch eines sogenannten "standardisierten Patienten" bekommen würden. Dabei handelt es sich um Amateure oder auch professionelle Schauspieler, die entweder im Rahmen wissenschaftlicher Studien, teilweise aber auch innerhalb der medizinischen Berufsausbildung, einen Patienten mit ganz bestimmten Krankheitssymptomen mimen, über die sie vorher ausgiebig instruiert wurden.

Die standardisierten Patienten in dieser Studie waren durchweg jüngere Frauen, die über Kopfschmerzen klagten, welche seit 3 Tagen bestehen und bei denen Schmerztabletten nicht wirkten. Andere Begleitsymptome gab es nicht. Die Kopfschmerzen wurden so beschrieben, dass sie entweder durch einen Spannungskopfschmerz erklärbar gewesen wären als auch auf schwerwiegendere Ursachen hinweisen konnten. Das Arzt-Patient-Gespräch wurde durchweg mit folgendem Satz eingeleitet: "Ich komme zu Ihnen, weil ich seit Tagen fast unerträgliche Kopfschmerzen habe. Hier vorne (zeigt auf die vordere rechte Kopfhälfte ) ganz schlimm. So was kenne ich sonst gar nicht. Manchmal ist mir richtig übel vor Schmerzen."

Alle Ärzte wurden nacheinander von zwei verschiedenen standardisierten Patienten besucht, die sich in ihrer medizinischen und sozialen Fallgeschichte überhaupt nicht, aber in der Darstellung ihrer Gefühle deutlich unterschieden. Patiententyp A war ängstlich und besorgt, zeigte Unwohlsein und drückte in Gestik, Mimik und Wortwahl Ängstlichkeit wegen der Ursachen der Beschwerden aus. (z.B. " Könnte es etwas Schlimmes sein? Sind Sie sicher, dass es nicht doch etwas anderes ist?") Typ B hingegen war neutral, sachlich und akzeptierte die Erklärungsbemühungen und Vorschläge des Arztes und stellte sie nicht in Frage.

Anhand von Audio-Mitschnitten der Arzt-Patient-Gespräche und später durchgeführten Interviews mit den Ärzten wurde dann überprüft, wovon das diagnostische und therapeutische Vorgehen der Ärzte am meisten beeinflusst war. Denn in dieser Hinsicht zeigten sich massive Unterschiede: Bei der Anamneseerhebung erfragten die Hausärzte unter anderem Schwere, Lokalisation und Dauer der Schmerzen, Begleiterscheinungen, Krankheits-Vorgeschichte, Familie, psychosoziale Aspekte, Medikamentengebrauch. Dabei wurde eine Spannweite von 2 bis 14 dieser Kriterien erfragt. Weiterhin nahmen sie teilweise körperliche Untersuchungen vor, die je nach Patient aus 1 - 12 Einzeluntersuchungen bestanden, es gab keine körperliche Einzeluntersuchung die in jeder Konsultation vorgenommen wurde. Die Gespräche dauerten zwischen 1,5 und 26 Minuten, im Mittel knapp 10 Minuten. Es gab also eine sehr breite Variation zwischen den Ärzten hinsichtlich des Umfangs der Anamneseerhebung, der Anzahl durchgeführter Einzeluntersuchungen und der jeweiligen zeitlichen Dauer.

Die Wissenschaftler hatten erwartet, dass bei ängstlichen Patienten a) die Zeitdauer der Konsultation länger ist (wegen längerer oder detaillierterer Informationen und Erklärungen) und dass b) die Zahl körperlicher Untersuchungen größer ausfallen würde, um Patienten zu beruhigen und ihr Vertrauen zu gewinnen. Tatsächlich zeigte sich jedoch: Weder bei der Zeitdauer noch bei der Zahl der Einzeluntersuchungen fanden sich signifikante Unterschiede zwischen den Patiententypen. Ein Unterschied fand sich jedoch: "Bei den ängstlich-besorgten Patientinnen kommt es in 39 %, bei den neutral-akzeptierenden in 7 % zu Schritten zu einer kostenintensiven Diagnostik." Hierunter fallen unter anderem Überweisungen zu einem Spezialisten (Neurologe oder Radiologe) oder sogar in eine Klinik.

Die Wissenschaftler fassen ihre Befunde so zusammen: "... weder die Anzahl noch die Verteilung der Untersuchungshandlungen differierten in den beiden Gruppen. Statt solcher die emotionale Färbung der Arzt-Patient- Beziehung reflektierenden, angemessenen Vorgehensweisen wurden bei den ängstlich gespielten Patienten mehr kostenträchtige und eingreifende weitere Untersuchungen und Überweisungen veranlasst. Angesichts der identischen medizinischen Fälle lässt sich diese Differenz nicht durch eine medizinische Notwendigkeit erklären."

Ein kostenloses Abstract der Studie ist hier nachzulesen: S. Wilm , S. Brockmann, C. Spannaus-Sakic, A. Altiner, B. Hemming, H.-H. Abholz: Machen Hausärzte Unterschiede, wenn sie mit Kopfschmerzpatienten umgehen? Eine Querschnittsstudie mit ängstlich oder neutral gespielten standardisierten Patienten (Z Allg Med 2008; 84: 273-279; DOI: 10.1055/s-2008-1081468)

Gerd Marstedt, 26.1.09


EKG und Belastungs-EKG bei Angina pectoris: Grenzen technischer Diagnostik und Nutzen von Anamnese und körperlicher Untersuchung.

Artikel 1443 Das Elektrokardiogramm (EKG) oder gar das Belastungs-EKG gehören zu den Standardinstrumenten in der kardiologischen Diagnostik. Die Messungen der elektrischen Aktivitäten am Herzen, ob im Normalzustand oder unter definierten Belastungen, werden für unentbehrlich zur Klärung der Ursachen von unklaren Schmerzen in der Herzgegend oder gar zur Bestimmung des Risikos oder der Prognose einer symptomatisch voll entfalteten Angina pectoris gehalten.
Seit einigen Jahren gehört das EKG auch zum Diagnostik-Repertoire der so genannten "Gesundheitsuntersuchung" nach § 25 SGB V.

Mindestens bei Personen, die zum ersten Mal wegen einer Angina pectoris untersucht wurden und vorher an keiner Herz-/Kreislauferkrankung erkrankt waren, erwies sich jetzt aber das EKG und auch das Belastungs-EKG in einer britischen Kohortenstudie mit 8.176 Patienten mit akuten Brustbeschwerdenals lediglich von begrenztem prognostischen Wert. In der Studie erfolgte neben der Anamnese (Alter, Geschlecht, ethnische Herkunft, Dauer der Symptome, Schmerzmuster, Raucherstatus, Hypertonie und Medikamente) bei allen Patienten ein EKG. Bei 60 % der Patienten folgte meist in kurzem zeitlichen Abstand ein Belastungs-EKG.

Die im "British Medical Journal (BMJ)" im November 2008 veröffentlichten Ergebnisse zeigen mehrerlei:

• Generell gingen nur bei jedem zweiten Patienten mit einer späteren koronaren Erkrankung EKG-Veränderungen voraus. Dies trägt zu einem enorm hohen Anteil von falsch-negativen Befunden bei. Dies bedeutet: Personen, die tatsächlich ein erhöhtes Risiko für eine koronare Erkrankung in sich tragen, wird auf der alleinigen Basis von EKGs gesagt, sie seien gesund.
• Umgekehrt zeigte die gründliche Nachbeobachtung der StudienteilnehmerInnen, dass 47 % aller koronaren Fälle bei PatientInnen auftraten, die bei den EKG-Untersuchungen keinerlei Befunde hatten.
• Für die Prognose der Erkrankung und damit für die Entscheidung wie die Personen weiterbehandelt werden, spielte weder das einfache noch das Belastungs-EKG eine wichtige und entscheidende Rolle bzw. erbrachte keinen Zugewinn gegenüber einer gründlichen Anamnese und körperlichen Untersuchung. Dies wird dann problematisch und zeitigt möglicherweise unerwünschte Folgen für die Patienten, wenn die Anamnese und körperliche Untersuchung zugunsten des EKG in die zweite Reihe geschoben oder gar durch die technische Diagnostik ersetzt wird.

Wer mehr über diese Studie erfahren will, kann hierzu den kompletten Text des Aufsatzes "Incremental prognostic value of the exercise electrocardiogram in the initial assessment of patients with suspected angina: cohort study" (BMJ 2008; 337: a 2240) von Neha Sekhri, Gene S Feder, Cornelia Junghans, Sandra Eldridge, Athavan Umaipalan, Rashmi Madhu, Harry Hemingway und Adam D Timmis kostenlos heranziehen.

Bernard Braun, 11.12.08


Wartezeiten auf einen Arzttermin: Erneut zeigt eine Studie, dass Privatpatienten gegenüber GKV-Versicherten besser gestellt sind

Artikel 1282 Erneut gibt es aus einer Bevölkerungsumfrage Hinweise auf eine Zwei-Klassen-Medizin in der ambulanten Versorgung: Wartezeiten auf einen Arzttermin sind für Patienten selbst dann, wenn sie akute Beschwerden haben, deutlich länger, wenn sie in einer Gesetzlichen Krankenkasse sind (durchschnittliche Wartezeit: 8 Tage) als wenn sie privat krankenversichert sind (3 Tage). Im Auftrag des BKK Bundesverbandes wurden im Zeitraum April/Mai 2008 etwa 6.000 Bundesbürger ab 14 Jahren zum Thema "Arztbesuche und Wartezeiten" befragt. Die Ergebnisse dieser repräsentativen Bevölkerungsumfrage beruhen auf 15 detaillierten Fragen, wobei sowohl die Wartezeiten der Patienten beim Arztbesuch als auch die Wartezeiten auf Termine ermittelt wurden.

Wartezeiten in der Praxis sind wohl eher ein Service-Aspekt, sofern diese innerhalb bestimmter Zeitmargen bleiben. Dies ist aber der Fall bei der BKK-Umfrage: GKV-Patienten mit akuten Beschwerden warten in der Praxis im Durchschnitt 35 Minuten, PKV-Patienten 27 Minuten. Etwas anders verhält es sich bei Wartezeiten auf einen Termin. Sofern hier akute Beschwerden vorliegen, kann eine lange Wartezeit gesundheitsriskant sein und stellt in einer Reihe von Fällen wohl einen Versorgungsmangel dar. Und hier zeigen sich nun auch deutliche Unterschiede ja nach Art der Versicherung. Während GKV-Patienten mit akuten Beschwerden im Durchschnitt 8 Tage auf einen Termin warten, sind dies bei Privatpatienten nur 3 Tage. 21% der GKV-Mitglieder warten länger als 7 Tage auf einen Termin, in der PKV sind dies nur 6%.

Noch ein weiteres Ergebnis lässt sich als Hinweis auf eine "Zwei-Klassen-Medizin" interpretieren. Die Frage "Haben Sie schon einmal versucht, beim Arzt einen Termin zu bekommen und Ihnen wurde keiner gegeben?" beantworten GKV-Versicherte deutlich häufiger mit "ja" als PKV-Versicherte: Jedem siebenten GKV-Versicherten ist dies schon einmal widerfahren, wohingegen nur jeder elfte PKV-Versicherte von einer solchen Situation berichtet. Hat man keinen Termin bekommen, dann zumeist mit der Begründung "Wir haben keine Termine mehr frei" (35%). Dabei treten Terminengpässe den Befragten zufolge zum überwiegenden Teil bei den Fachärzten auf (91% vs. 16% Hausärzte).

• Hier ist eine Pressemitteilung der BKK: Gesetzlich Krankenversicherte warten beim Arzt 29 Minuten - Privatversicherte kommen sieben Minuten eher dran
• Hier ist eine PDF-Datei mit allen Ergebnissen, Diagrammen und einer Zusammenfassung: Bevölkerungsumfrage BKK 2008 Thema: Arztbesuche

Die BKK-Umfrage ist aktuell der letzte Hinweis in einer längeren Kette von Studien, die auf eine unterschiedliche Behandlung von GKV- und PKV-Versicherten bei Wartezeiten hingewiesen haben.
• 2006 hatte eine Umfrage des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) gezeigt: Trotz akuter Beschwerden musste jeder vierte gesetzlich Versicherte (25%) beim letzten Arztbesuch mindestens zwei Wochen auf einen Behandlungstermin warten. Bei privat Versicherten mit Beschwerden war dies nur bei 8% der Fall. (vgl. Wartezeiten beim Arzt: GKV-Versicherte warten länger als Privatpatienten)
• In einer Umfrage des Gesundheitsmonitor der Bertelsmann-Stiftung wurden diese Befunde weitgehend bestätigt. "Es gibt keine Unterschiede zwischen gesetzlich und privat Versicherten bei der Wartezeit auf einen Termin bei einem Hausarzt, jedoch bei der Wartezeit in der Hausarztpraxis, für einen Termin beim Facharzt und in seiner Praxis. (...) Negative gesundheitliche Folgen aufgrund von Wartezeiten werden wahrscheinlicher, wenn der Patient an einer im Alltag einschränkenden Krankheit oder einer schweren akuten Erkrankung leidet." (vgl. Martin Schellhorn: Vergleich der Wartezeiten von gesetzlich und privat Versicherten in der ambulanten ärztlichen Versorgung)
• Auch eine experimentelle Studie von Wissenschaftlern der Universitäten Köln und Hall (Österreich) hat zu keinem anderen Befund geführt. Telefonanrufe bei Fachärzten, in denen um einen Termin für eine bestimmte Behandlung oder eine diagnostische Leistung gebeten wurde, ergaben für Versicherte in der GKV etwa dreimal so lange Wartezeiten wie für Privatpatienten. (vgl. Neue Studie: Kassenpatienten warten dreimal so lange wie Privatpatienten auf einen Arzttermin für planbare Behandlungen)
• Und unlängst wurde deutlich, dass auch im stationären Sektor bei der Vereinbarung von Terminen Unterschiede zwischen Patienten gemacht werden, je nachdem, ob es Kassen- oder Privatpatienten sind. In Krankenhäusern hatten gesetzlich Versicherte eine rund 20 Prozent längere Wartezeit für einen Behandlungstermin als privat Versicherte. (vgl. Neue Befunde zur Zwei-Klassen-Medizin: Auch auf eine Krankenhaus-Behandlung warten GKV-Versicherte länger)

Die Sachlage ist damit eindeutig, Forschungsbedarf besteht jedoch noch ganz deutlich in der Interpretation der empirischen Befunde. Handelt es sich bei Wartezeiten tatsächlich nur um ein Komfort- oder Service-Merkmal, wie Gesundheitsministerin Ulla Schmidt erklärt hat (vgl. Diskussion um ungleiche Wartezeiten hält an) oder sind hier gravierende Hinweise auf eine Ungleichbehandlung in der medizinischen Versorgung gegeben?

Gerd Marstedt, 28.6.2008


Begleitendes Case-Management durch Arzthelferinnen verbessert den Therapieerfolg bei Arthrose-Patienten

Artikel 1176 Eine gute Einbindung von Arzthelferinnen bei der medizinischen Versorgung von Patienten mit Arthrose in der Hausarztpraxis kann die Lebensqualität der Patienten deutlich erhöhen. Als "Case-Managerinnen" sorgen sie dafür, dass die Wirkung von Medikamenten besser beurteilt wird. Die Patienten sind aktiver, haben weniger Schmerzen, mehr sozialen Rückhalt, nehmen eher empfohlene Medikamente ein und suchen seltener einen Orthopäden auf. Dies ist das Ergebnis des Hausarztprojekts "PraxArt" der Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung des Universitätsklinikums Heidelberg. Ergebnisse wurden jetzt in "Versorgungsforschung Aktuell", einem Newsletter der Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung vorgestellt.

Insgesamt 1.021 Arthrose-Patienten aus 75 Hausarztpraxen waren im Mai 2005 mit dem Projekt PraxArt gestartet. Arthrose wird durch eine chronische, oft schmerzhafte Abnutzung der Gelenke hervorgerufen und schränkt die Lebensqualität meist erheblich ein, vor allem wenn die Hüft- oder Kniegelenke betroffen sind. Patienten mit Arthrose gehen häufig zum Arzt, nehmen viele Schmerzmittel ein und setzen sich dadurch besonderen Risiken wie Magenblutungen aus. Außerdem leiden sie besonders häufig an Depression.

Verglichen wurden in der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Studie dann ein halbes Jahr lang drei Gruppen.
• Bei der 1.Gruppe erhielten die Ärzte eine Fortbildung zur leitliniengerechten Arthrosetherapie, Schmerzbehandlung und Patientenmotivation.
• In der 2.Gruppe wurde pro Praxis jeweils zusätzlich eine Arzthelferin geschult. Die Medizinischen Fachangestellten lernten mit Hilfe eines speziellen Fragekataloges, die Patienten am Telefon zu ihren Schmerzen, zu körperlicher Aktivität und zu Medikamenteneinnahme und Nebenwirkungen zu befragen. Jede Einzelfrage war mit einem Ampelsymbol verknüpft, das die Dringlichkeit oder Bedeutung der entsprechenden Information kodiert. So wurden etwa Informationen über verstärkte Schmerzen oder schwere Nebenwirkungen unmittelbar an den Arzt weitergeleitet. Einmal im Monat kontaktierte die Arzthelferin ihre Arthrose-Patienten.
• Die 3.Gruppe diente als Kontrollgruppe. Hier lief die Betreuung der Patienten ohne vorhergehende spezielle Schulung von Arzt und Arzthelferin ab.

In der 1.Gruppe nur mit Arztfortbildung wurde im Vergleich zur Kontrollgruppe bereits die Zahl der Röntgenuntersuchungen reduziert. In der 2.Gruppe zeigte sich darüber hinaus, dass der regelmäßige Telefonkontakt mit der Arzthelferin einen nachhaltig positiven Einfluss auf die Lebensqualität der Patienten hat. Die Patienten waren aktiver, hatten weniger Schmerzen, mehr sozialen Rückhalt, nahmen eher empfohlene Medikamente ein und besuchten seltener einen Orthopäden. In der 2.Gruppe mussten durchschnittlich 14 Prozent weniger einen Orthopäden aufsuchen, in der 1.Gruppe waren dies 6 Prozent, bei der 3.Gruppe gab es keine Veränderungen.

"Eine vergleichsweise einfache und kostengünstige Maßnahme im vertrauten Umfeld der Hausarztpraxis kann die Lebens- und Versorgungsqualität der Betroffenen deutlich verbessern und die Kosten senken", erklärte Prof. Szecsenyi, Ärztlicher Direktor der Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung des Universitätsklinikums Heidelberg. In der Abteilung Allgemeinmedizin untersucht man jetzt, ob weitere Maßnahmen zur Einbindung der Arzthelferinnen die Therapieergebnisse verbessern können, etwa das Telefonmonitoring bei Patienten mit Herzinsuffizienz oder Diabetes mellitus Typ II.

• Eine Zusammenfassung der Ergebnisse ist im Newsletter 1/2008 des Universitäts Klinikum Heidelberg zu lesen
• Das Abstract einer wissenschaftlichen Veröffentlichung der Studienergebnisse ist hier zu finden: Thomas Rosemann u.a.: Case management of arthritis patients in primary care: A cluster-randomized controlled trial (Arthritis Care & Research, Volume 57, Issue 8 , Pages 1390 - 1397; doi: 10.1002/art.23080)

Gerd Marstedt, 26.3.2008


Eine feste Anlaufstelle im medizinischen Versorgungssystem bewirkt für viele Patienten eine bessere Versorgungsqualität

Artikel 1158 Das Hausarztmodell stellt für manche die Zukunft der ambulanten Versorgung dar, die für mehr Versorgungsqualität und eine bessere Koordination ärztlicher Leistungen steht. Andere bezweifeln Qualitätsgewinne ebenso wie Kostensenkungen und sehen die Interessen mündiger Patienten an der freien Arztwahl missachtet. Dass Zweifel bei der heutigen Ausgestaltung der Modelle aufkommen können, dafür finden sich Hinweise in den Daten des "Gesundheitsmonitors" der Bertelsmann-Stiftung. Die Daten zeigen aber auch: Patienten bewerten - ganz unabhängig vom Hausarztmodell der GKV - einen Hausarzt als "feste Anlaufstelle" positiv.

Konkret wird aus den jetzt im Gesundheitsmonitor-Newsletter 1/2008 veröffentlichten Erhebungsdaten deutlich, dass Patienten, die einen Hausarzt als reguläre Erstinstanz bei gesundheitlichen Beschwerden nutzen und deren Arzt ihre Krankengeschichte gut kennt:
• deutlich zufriedener sind hinsichtlich der Kommunikation mit dem Arzt und der Gesprächsatmosphäre in der Sprechstunde,
• den Umfang und die Verständlichkeit von Erläuterungen zu Krankheiten und Beschwerden besser bewerten sowie die Möglichkeiten zu Verständnisfragen und Nachfragen.
• Ebenso wird die Haltung des Arztes (Respekt und Achtung gegenüber dem Patienten, Ernstnehmen von Sorgen und Ängsten) von dieser Patientengruppe positiver dargestellt.
• Auch kennen diese Patienten häufiger ihre Ansprüche auf Früherkennungsuntersuchungen und
• haben entsprechende Früherkennungsuntersuchungen (Gesundheits-Checkup, Krebsfrüherkennung) häufiger in Anspruch genommen.
• Schließlich sind sie auch häufiger mit der Gesundheitsversorgung insgesamt zufrieden und kritisieren seltener, dass in der medizinischen Versorgung die Zeit für das Arzt-Patient-Gespräch zu kurz ausfällt.

Diese Ergebnisse werden so interpretiert, dass in Fällen, in denen der Patient den Arzt schon seit längerer Zeit als feste Anlaufstelle nutzt, das Arzt-Patient-Gespräch tatsächlich länger dauert oder dies von Patienten zumindest so erlebt wird. Die Zeitangaben der Befragungsteilnehmer über die Dauer des letzten Behandlungsgesprächs jedenfalls deuten diesen Zusammenhang an. Diese Zeitspanne wird von Patienten mit fester Anlaufstelle auf 14,2 Minuten (Gesunde) bzw. 15,5 Minuten (Kranke) geschätzt. Die anderen Patienten ohne feste Anlaufstelle schätzen diese Zeitdauer um etwa 2-3 Minuten kürzer ein, auf 12,7 Minuten (Gesunde) bzw. 12,2 Minuten (Kranke).

Eine zweite Interpretation geht dahin, dass aus der Wahl eines Hausarztes als feste Anlaufstelle im zeitlichen Verlauf eine engere Arzt-Patient-Beziehung erwächst. Hausärzte kennen dann bei ihren "Stammkunden" persönliche Interessen und Verhaltensorientierungen, aber auch die beruflichen und familiären Hintergründe genauer und finden so sehr viel eher Anknüpfungspunkte für ein individuell zugeschnittenes Gespräch. In dieser Perspektive wäre dann die bessere Bewertung der ärztlichen Kommunikation und Information durch solche Patienten, die den Hausarzt als feste Anlaufstelle nutzen, ein sozialpsychologisch recht einfach zu erklärendes Phänomen. Der Arzt-Patient-Kontakt ist dann nicht mehr als rein zweckrationale Dienstleistungs-Beziehung oder als Verhältnis eines "Kunden" zum "medizinischen Leistungsanbieter" definiert.

Der Arzt kann in diesen Fällen das laienmedizinische Grundwissen des Patienten (seine "Gesundheitskompetenz") besser einschätzen und entsprechend seine Erläuterungen und Auskünfte in sprachlicher Hinsicht besser justieren. Er lernt auch die Informationsbedürfnisse des Patienten besser kennen: Ist dieser eher ein "Informationssammler", der alles ganz exakt wissen möchte oder eher ein "Informationsverdränger", der potentiell unangenehmen Mitteilungen ausweicht? Ebenso kennt er auch das gesundheitliche Risikoverhalten und die individuellen Bedürfnisse im Hinblick auf eine partizipative Entscheidungsfindung ("Shared Decision Making") genauer. Vor diesem Hintergrund fällt es dann auch leichter, Empfehlungen auszusprechen, sei es für eine Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen oder zur Veränderung des gesundheitlichen Lebensstils.

Die dargestellten empirischen Befunde resultierten im Wesentlichen aus einer Konstellation, in der eine Teilgruppe von Versicherten sich freiwillig und ohne materiellen Anreiz für eine spezifische Versorgungsstruktur entschieden hat: den Hausarzt als feste Anlaufstelle. Man weiß jedoch, dass die freie Facharztwahl in Deutschland für eine Vielzahl von Patienten als Verhaltensoption überaus bedeutsam ist. Hier dürften für viele Versicherte Konflikte auftauchen, wenn diese "Freiheitsgrade" bei der Arztwahl in zukünftigen Hausarztmodellen tatsächlich gegen die Vorteile abzuwägen sind, die die Modelle versprechen - zum Beispiel in Form materieller Anreize, vor allem aber in Form einer verbesserten Versorgungsqualität.

Ob dieses Versprechen auch eingehalten und real erfahrbar wird, ist ganz wesentlich davon abhängig, dass Hausärzte ihre in den Verträgen ausgehandelten Verpflichtungen auch inhaltlich ausfüllen und nicht nur formal erledigen. Die in einigen Verträgen genannte Verpflichtung zu einer ausführlichen Ersterhebung der Krankengeschichte des Patienten könnte etwa als ein Baustein genutzt werden auf dem Weg zu einer größeren sozialen Dichte der Arzt-Patient-Beziehung. Die darin enthaltene Chance wäre verspielt, wenn diese Aufgabe durch ein vom Patienten im Wartezimmer auszufüllendes Formular erledigt würde. Es scheint darüber hinaus unabdingbar zu sein, vertragliche Regelungen zu implementieren, die z.B. die Budgetverantwortung der Hausärzte erhöhen, das interne Praxismanagement verbessern und ein indikatorengestütztes Qualitätsmanagement verpflichtend festschreiben.

Der Newsletter berichtet im internationalen Teil außerdem über innovative Beispiele für die Ausgestaltung der Primärversorgung in anderen Ländern. Die Amerikaner z. B. haben das "medizinische Zuhause" erfunden. Die Niederländer setzen auf eine Professionalisierung und Diversifizierung der Pflege. Auch in England, Australien oder Spanien geht der Trend in eine ähnliche Richtung. Diese Beispiele sind, selbst wenn belastbare Evaluationsstudien vorliegen, nicht ohne weiteres auf Deutschland übertragbar. Sie geben jedoch Denkanstöße, wie auch hierzulande mutiger und innovativer mit den Herausforderungen in der Primärversorgung umgegangen werden kann.

Hier ist der Gesundheitsmonitor Newsletter 1/2008
(PDF, 12 Seiten; Hausärztliche Versorgung: Die Bedeutung einer festen Anlaufstelle im Versorgungssystem; Primärversorgung weltweit im Wandel)

Gerd Marstedt, 7.3.2008


Reichen 20 Minuten Sport am Tag zur Krankheitsvorbeugung? Englische und schottische Ärzte können die Frage nicht beantworten

Artikel 1134 Körperliche Bewegung gilt neben gesunder Ernährung als eine elementare Voraussetzung zur Gesundheitsförderung und ebenso zur Prävention von Diabetes oder auch Übergewicht. Doch wie viel Sport und Bewegung ist nötig, um dies auch tatsächlich zu erreichen? Reichen dreimal in der Woche je 20 Minuten? Und wie sieht es bei Kindern aus? Ärzte sollten eine solche Frage von Patienten eigentlich beantworten können, insbesondere, wenn ihnen seit einigen Jahren Leitlinien und Empfehlungen vorliegen, die explizit hierauf Antworten geben. Dass es in England und Schottland gleichwohl an solchem Wissen bei vielen niedergelassenen Ärzten fehlt, hat jetzt eine Studie gezeigt, die in der Zeitschrift "Public Health" veröffentlicht wurde.

Insgesamt 231 niedergelassene Ärzte in zwei Bezirken in England waren per Email um Mitarbeit bei einer Befragung gebeten worden. Knapp 60 Prozent (N=138) beteiligten sich und beantworteten neben einigen Fragen zu ihrem Alter und Geschlecht, Körpergewicht und -größe sowie ihren sportlichen Aktivitäten auch vier Fragen, die ihr medizinisches Wissen zum gesundheitlichen Nutzen von Sport und Bewegung betrafen. Die dazu notwendigen Kenntnisse waren bereits im Jahr 2004 in einer Empfehlung des englischen Regierungsbeauftragten in Gesundheitsfragen ("Chief Medical Officer") explizit dargelegt worden. Gleichwohl verrieten die Antworten der teilnehmenden Ärzte nur wenig Sachkenntnis.

Zu vier Aspekten waren jeweils Multiple-Choice-Fragen (mit einer richtigen und einigen falschen Antworten) zu beantworten.
• 1.) Auf die Frage "Was ist das zeitliche Minimum an leichter körperlicher Aktivität, das Erwachsene pro Tag absolvieren sollten, um davon auch gesundheitlich zu profitieren?" antworteten immerhin noch 65 Prozent korrekt (30 Minuten). Deutlich schlechter fielen dann Ergebnisse zu drei weiteren Fragen aus.
• 2.) Hinsichtlich der Tage pro Woche, an denen man derart aktiv sein sollte, gab es nur noch 33% richtige Antworten (mindestens 5 Tage)
• 3.) Die Zeitdauer an Sport und Bewegung, um Übergewicht zu vermeiden, konnten nur 11% korrekt beantworten (45-60 Minuten)
• 4.) Ähnlich schlecht war das Wissen, welche Zeitdauer fÜr Kinder und Jugendliche zu empfehlen ist (60 Minuten), hier antworteten nur 17% richtig.

Bei der Einstufung, ob eine Antwort richtig oder falsch ist, waren die Antwortvorgaben zur 1.Frage: "15 Minuten" und "20 Minuten" falsch, als richtig galt "30 Minuten oder länger". Die Forscher bewerten ihre Ergebnisse so, dass es in der Realität mit hoher Wahrscheinlichkeit noch deutlich schlechter um das Wissen der Ärzte bestellt ist. Dann vermutlich haben sich jene 60% Ärzte an der Umfrage beteiligt, die sich ihrer Kenntnisse relativ sicher waren. Und zum anderen bot die Art der Befragung per Email auch noch die Gelegenheit, sich vor der Beantwortung der Fragen im Internet oder in Publikationen schlau zu machen.

Leider gibt es kein kostenloses Abstract zur Studie. Wer einen Zugang zu "Science direct" hat, findet den Volltext jedoch hier: Amanda J. Daley u.a.: 'Doctor, how much physical activity should I be doing?': how knowledgeable are general practitioners about the UK Chief Medical Officer's (2004) recommendations for active living to achieve health benefits (Public Health, Article in Press, Corrected Proof, http://dx.doi.org/10.1016/j.puhe.2007.09.008)

Ein klein wenig Trost finden die Autoren und Wissenschaftler aus Birmingham immerhin darin, dass in einer ähnlichen Befragung einige Zeit zuvor ihre schottischen Ärzte-Kollegen noch schlechter abgeschnitten hatten. Dort konnten nur 13% der befragten niedergelassenen Ärzte die medizinischen Empfehlungen zu körperlicher Aktivität korrekt beantworten: Flora Douglas u.a.: Primary care staff's views and experiences related to routinely advising patients about physical activity. A questionnaire survey (BMC Public Health 2006, 6:138)

Deutsche Ärzte sollten nach diesen Befunden nicht allzu hämisch reagieren. In einer Studie der Universität Köln war im Jahr 2001 der Wissensstand von Internisten und Allgemeinmedizinern zum Thema Diagnostik und Therapie der arteriellen Hypertonie (Bluthochdruck) mit einem Fragebogen mit zehn Fragen ÜberprÜft worden. Fragen und Antworten dieses Fragebogens orientierten sich an der deutschen Leitlinie zur arteriellen Hypertonie. Insgesamt 11.547 Fragebögen konnten ausgewertet werden. Eine leitlinienadäquate Antwort umfasste die richtige Definition der arteriellen Hypertonie und vier weitere richtige Antworten. Es zeigte sich: Die richtige Definition der arteriellen Hypertonie (> 140/90 mmHg) wurde lediglich von 4.103 Teilnehmern also 36 Prozent getroffen. Eine adäquate Leitlinienkenntnis zeigten nur 19% der Allgemeinmediziner, bei den Internisten lag dieser Anteil mit 27% nur geringfügig höher. Fazit der Wissenschaftler: "Der Kenntnisstand von Internisten und Allgemeinmedizinern zum Themenkomplex der arteriellen Hypertonie ist ungenügend. Diese ungenügenden Kenntnisse können zum Teil fÜr die unzureichende Versorgung von Patienten mit arterieller Hypertonie verantwortlich sein. Neue Wege zur Verbesserung der Informations- und der Versorgungsqualität sind daher notwendig, um die Behandlung der Patienten mit arterieller Hypertonie nachhaltig zu verbessern."
Die Studie ist online leider nicht mehr verfügbar. Christian A. Schneider u.a.: Leitlinienadäquate Kenntnisse von Internisten und Allgemeinmedizinern am Beispiel der arteriellen Hypertonie, Z. ärztl. Fortbild. Qual.sich. (ZaeFQ) (2001) 95: 339-344

Gerd Marstedt, 5.2.2008


Neue Studie: Kassenpatienten warten dreimal so lange wie Privatpatienten auf einen Arzttermin für planbare Behandlungen

Artikel 1098 Eine repräsentative Umfrage des WIdO unter Versicherten hatte schon Ende 2006 gezeigt: 25 Prozent der gesetzlich Versicherten mussten beim letzten Arztbesuch trotz akuter Beschwerden mindestens zwei Wochen auf einen Behandlungstermin warten, bei privat Versicherten waren dies nur 8 Prozent (vgl.: Wartezeiten beim Arzt: GKV-Versicherte warten länger als Privatpatienten). Eine experimentelle Studie von Wissenschaftlern der Universitäten Köln und Hall (Österreich) hat diesen Befund nun noch einmal bestätigt. Telefonanrufe bei Fachärzten, in denen um einen Termin für eine bestimmte Behandlung oder eine diagnostische Leistung gebeten wurde, ergaben für Versicherte in der GKV etwa dreimal so lange Wartezeiten wie für Privatpatienten.

Arztpraxen aus dem Raum Köln-Bonn-Leverkusen wurden von den Forschern im April und Mai 2006 aus Telefonbüchern per Zufall ausgewählt, um in Test-Anrufen zu ermitteln, wie lange die Wartezeit für eine bestimmte diagnostische Leistung oder eine spezielle Behandlung sein würde. Als ärztliche Leistungen wurden dazu solche ausgewählt, die 1.) kein Notfall waren, sondern planbare Behandlungen, 2.) von Spezialisten durchgeführt werden und 3.) bei Patienten relativ häufig vorkommen. Dazu zählten dann: Allergie- und Lungen-Funktions-Test, Augenuntersuchung mit Pupillen-Erweiterung, Gastroskopie (Magenspiegelung), Hörtest, Magnetresonanz-Tomografie des Knies.

Nach der ersten Zufallsauswahl der Arztpraxen wurden dann einige ausgeschlossen, weil sie die Leistung nicht anboten, aktuell länger als eine Woche wegen Urlaubs geschlossen waren, beim Telefonanruf mehr als dreimal kein Durchkommen war, die Praxis nur Privatpatienten behandelte oder keine neuen Patienten annahm. Bei den Telefonanrufen wurde dann um einen Termin für die jeweilige Leistung gebeten, ohne dass dabei der Fall als dringend dargestellt wurde. Per Zufall wurde jeweils festgelegt, ob der Anrufer sich als Privat- oder Kassenpatient ausgeben sollte. Insgesamt kamen so Terminvereinbarungen mit 189 Arztpraxen zustande.

Dabei wurden auch erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Wartezeiten deutlich. Die Differenz der Wartezeit zwischen Privat- und Kassenpatienten betrug
• für einen Allergie- und Lungen-Funktionstest 17,6 Werktage (8 vs. 26 Tage)
• für eine Augenuntersuchung mit Pupillen-Erweiterung 17,0 Werktage (8 vs. 25 Tage)
• für eine Magenspiegelung 24,8 Werktage (12 vs. 37 Tage)
• für einen Hörtest 4,6 Werktage (2 vs. 7 Tage)
• für eine MRT des Knies 9,5 Werktage (5 vs. 14 Tage).
• Insgesamt zeigte sich, dass die Wartezeit für GKV-Versicherte etwa dreimal so lang war wie für Privatpatienten.

"Individuen mit höherem Einkommen und niedrigerer Morbidität", so fassen die Wissenschaftler ihre Ergebnisse zusammen, "haben einen besseren Zugang zur medizinischen Versorgung nur durch ihre Private Krankenversicherung."

Zur Studie Markus Lungen u.a.: Waiting times for elective treatments according to insurance status; a randomised empirical study in Germany (International Journal for Equity in Health 2008, 7:1doi:10.1186/1475-9276-7-1) gibt es kostenlos:
Ein Abstract
Eine vorläufige PDF-Datei

Gerd Marstedt, 14.1.2008


Evaluation von Hausarztmodellen zeigt noch keine überzeugenden Verbesserungen der medizinischen Versorgung

Artikel 1095 Mit Hausarztmodellen, die alle Gesetzlichen Krankenkassen ihren Versicherten anbieten müssen, soll die Steuerungs- und Lotsenfunktion des Hausarztes gestärkt werden und damit eine bessere Koordination mit Kliniken und Fachärzten erreicht werden. Aber auch eine Verbesserung der Qualität und Wirtschaftlichkeit der ambulanten Versorgung ist angestrebt. In einer ersten Evaluation von Hausarztmodellen durch das "AQUA"-Institut wird jedoch deutlich, dass diese Ziele bislang kaum erreicht wurden. Auch eine Patientenbefragung des "Gesundheitsmonitor" der Bertelsmann-Stiftung kommt zu einem eher negativen Befund.

Das AQUA-Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen hat im Auftrag des Verbandes der Angestellten-Krankenkassen e.V. (VdAK) für fünf Ersatzkassen im November 2007 eine Evaluation von Hausarztmodellen in Hessen, Niedersachsen, Nordrhein, Nordwürttemberg und Westfalen-Lippe durchgeführt. Ausgewertet wurden zunächst nur die Daten aus den Jahren 2005 und 2006, allerdings soll die gesamte Studie später den Zeitraum 2005 bis 2008 untersuchen. Um zu berücksichtigen, dass in Modellen zur hausarztzentrierten Versorgung eingeschriebene Versicherte verglichen mit anderen Versicherten im Durchschnitt fast vier Jahre älter und häufiger chronisch krank sind, wurde für die Evaluation eine Kontrollgruppe von Patienten mit gleicher Morbiditäts-, Geschlechts- und Altersstruktur gebildet. Von insgesamt 57 Kennzahlen wurden zehn als besonders aussagekräftige Indikationen bestimmt, mit denen Aussagen zu den Themenbereichen "Koordinierung der Versorgung", "Qualität der Versorgung" und "Kostenentwicklung/ Wirtschaftlichkeit" gemacht werden konnten. Ingesamt hatten sich in allen fünf Bundesländern 613.645 Versicherte in einen Hausarztvertrag eingeschrieben, das ist ein Anteil von 11,5 % bezogen auf alle Einschreibeberechtigten. Der Anteil der eingeschriebenen Ärzte
lag zum 31.12.2006 bei 36,4 % (7.168 Ärzte).

Als Ergebnis zeigte sich:
• Die gewünschte Lotsenfunktion durch den Hausarzt entwickelt sich bei beiden Versichertengruppen unterschiedlich: Während der Anteil der Facharztkonsultationen mit Überweisungen zwischen 2005 und 2006 bei den Versicherten in Hausarztmodellen mit 46,3% gleich geblieben ist, verringerte sich dieser Anteil in der Kontrollgruppe von 39,1% auf 36,1%. Vor dem Hintergrund der vertraglichen Verpflichtung für die Versicherten, Leistungen der Fachärzte nicht direkt in Anspruch zu nehmen, ist dieser Wert jedoch nicht zufriedenstellend.
• Der Anteil der Versicherten, die an den Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen (Früherkennung) teilnehmen, ist bei den Teilnehmern an Hausarztmodellen von 14,7% auf 23,2% gestiegen, in der Kontrollgruppe stieg er von 10,4% auf 18,3%. Bei weiteren Indikatoren, welche z. B. die Qualität der Arzneiverordnungen bzw. die leitliniengerechte Versorgung beurteilen, gibt es uneinheitliche Entwicklungen.
• Die Leistungsausgaben (stationäre Versorgung, Heil- und Hilfsmittel, Arzneimittel) waren bei Teilnehmern an Hausarztmodellen pro Versicherten im Jahr 2005 um € 28,47 und im Jahr 2006 um € 14,05 geringer als bei der Kontrollgruppe. Für eine Gesamtbeurteilung der Wirtschaftlichkeit müssen diese Einsparungen jedoch mit den Mehrausgaben für ärztliche Betreuungspauschalen nach den HZV-Verträgen (je Versicherten € 12,72 in 2005 und € 24,79 in 2006) und ggf. dem Erlass der Praxisgebühr, je nach den Satzungen der jeweiligen Ersatzkassen (€ 10,- pro Quartal), für die Versicherten verrechnet werden.

Die wichtigsten Ergebnisse der Evaluation sind hier zu finden: Presseerklärung: Evaluation von Hausarztverträgen der Ersatzkassen: Erste Zwischenbilanz in fünf Regionen

Auch der "Gesundheitsmonitor" der Bertelsmann Stiftung kommt in einer Auswertung von Patientenbefragungen im Zeitraum Oktober 2004 bis April 2007 mit insgesamt über 9.000 Teilnehmern zu einer eher negativen Bewertung der bisher realisierten Verträge zur hausärztlichen Versorgung. Dort zeigte sich:
• Nur 59 Prozent der befragten Teilnehmer an Hausarztmodellen berichten über eine Besserung ihres Gesundheitszustandes nach der Behandlung, während es außerhalb der Modelle 68 Prozent waren. Selbst wenn man berücksichtigt, dass die Teilnehmer an Hausarztmodellen älter und häufiger chronisch krank sind, verändern sich die Ergebnisse kaum.
• Von Modellteilnehmern, die mit akuten Beschwerden beim Hausarzt waren, berichteten 66 Prozent von einer Verbesserung ihres Gesundheitszustandes nach der Behandlung, bei den übrigen Patienten waren es 74 Prozent.
• Zwar hatten 89 Prozent der Patienten in Hausarztmodellen für ihren letzten Facharztbesuch eine Überweisung (im Vergleich zu 64 Prozent der Patienten außerhalb der Modelle). Die Anzahl der Facharztbesuche konnte jedoch nicht gesenkt werden. Während 2004 die Teilnehmer an Hausarztmodellen durchschnittlich 1,9-mal pro Jahr einen Facharzt aufsuchten, waren es 2007 schon 2,5 Besuche. Außerhalb der Modelle gab es im gleichen Zeitraum nur einen kleinen Anstieg von 2 auf 2,1 Besuche.

Hier ist die Pressemeldung: Umfrage: Hausarztmodelle in der heutigen Form weitgehend wirkungslos - Bertelsmann Stiftung: Ausgestaltung der Modelle muss verbessert werden

Gerd Marstedt, 12.1.2008


Ein "medizinisches Zuhause" bietet nach Patientenurteilen eine bessere Behandlungsqualität

Artikel 0994 Ein "medizinisches Zuhause" ("medical home"), also eine feste Anlaufstelle im Versorgungssystem, etwa in der Art, wie sie im Hausarztmodell der Gesetzlichen Krankenkassen umgesetzt ist, bietet für Patienten erhebliche Vorteile in der medizinischen Versorgung. Dieses Ergebnis zeigt sich im internationalen Vergleich trotz der teilweise gravierenden Unterschiede zwischen den Gesundheitssystemen beispielsweise von Deutschland, Großbritannien und den USA. Patienten, die ein solches "medizinisches Zuhause" gewählt haben, sind zufriedener mit der Therapie und auch Arzt-Patient-Kommunikation und erleben nach eigener Meinung auch seltener Behandlungsfehler oder unnötige Doppeluntersuchungen. Dies sind zentrale Befunde einer Befragung von etwa 11.000 Erwachsenen in sieben Ländern (Australien, Neuseeland, USA, Kanada, Großbritannien, Niederlande und Deutschland), über die jetzt in der Zeitschrift "Health Affairs" berichtet wurde.

Die Finanzierung der Studie erfolgte über den Commonwealth Fund und verschiedene nationale Einrichtungen, in Deutschland durch das Institut für "Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen". Die Telefon-Interviews wurden Anfang 2007 durchgeführt. Dabei wurde eine Vielzahl von Fragen gestellt zur Bewertung des Gesundheitssystems und persönlichen Erfahrungen in der medizinischen Versorgung. Im Zentrum der späteren Analysen stand dann die Unterscheidung, ob Patienten eine feste Anlaufstelle im Medizinsystem haben oder nicht. Definiert wurde dies über vier Indikatoren:
• Jemand hat einen Haus- oder Allgemeinarzt oder eine Versorgungseinrichtung, zu der er gewöhnlich als erstes geht
• Der dort besuchte Arzt kennt die Krankengeschichte des Patienten
• Der Arzt oder die Einrichtung ist während der normalen Praxiszeiten telefonisch einfach zu erreichen
• Der Arzt oder die Einrichtung übernimmt die Koordination mit anderen Medizinern, Einrichtungen oder Kliniken.
Sofern alle diese Fragen bejaht wurden, stufte man Befragungsteilnehmer als "Patienten mit fester Anlaufstelle" ein. In den einzelnen Ländern lag die Quote dieser Gruppe zwischen 45 und 61 Prozent und war dabei in Deutschland mit 45% am niedrigsten.

Beim Vergleich der beiden Gruppen mit und ohne feste Anlaufstelle zeigen sich dann erhebliche Unterschiede für die Qualität der medizinischen Versorgung, und dies auch bei einer getrennten Betrachtung der einzelnen Länder. Diese Differenzen werden bei einer Vielzahl von Indikatoren deutlich. Im Folgenden sind Daten nur für Deutschland angegeben, die Unterschiede sind jedoch auch in anderen Ländern in ähnlicher Form zu finden. Teilweise fallen die Vorteile des "medizinischen Zuhause" in den USA am deutlichsten auf. Einige Beispiel aus der sehr großen Zahl der in der Studie veröffentlichten Differenzen:

• Verständlichkeit der ärztlichen Informationen: 81% der Patienten mit fester Anlaufstelle sagen, dass dies meist der Fall ist, aber nur 61% derjenigen ohne feste Anlaufstelle
• Arzt nimmt sich ausreichend Zeit: 82% vs. 59%
• Arzt bezieht den Patienten bei Entscheidungen mit ein: 72% vs. 52%
• Bewertung der ärztlichen Leistungen als gut oder sehr gut: 65% vs. 40%
• Durchführung unnötiger, doppelter Diagnostik nach Patientenansicht: 11% vs. 18%
• Probleme bei der Zusammenarbeit mehrerer Ärzte: 16% vs. 23%
• guter Informationsfluss nach Klinikaufenthalt: 89% vs. 79%

Bei einer Teilgruppe chronisch erkrankter Patienten wurden überdies noch folgende Differenzen deutlich:
• Informations- oder Erinnerungsschreiben für mögliche Teilnahme an Früherkennung: 67% vs. 48%
• Widersprüchliche Informationen von verschiedenen Ärzten: 14% vs. 24%
• Medizinische Behandlungsfehler: 11% vs. 19%

Die Studie zeigt damit unter dem Strich und zumindest aus der Perspektive von Patientenerfahrungen, dass ein "Lotse" im Versorgungssystem erhebliche Vorteile mit sich bringt. In Deutschland ist das Angebot eines Hausarztmodells inzwischen für alle Gesetzlichen Krankenkassen verpflichtend vorgeschrieben. Die Diskussion, ob dieses Modell nun in gesundheitlicher oder auch ökonomischer Hinsicht überhaupt Vorteile mit sich bringt, ist hierzulande noch immer im Gange und nicht selten eher von Standesinteressen als gesundheitspolitischer Weitsicht getragen (vgl.: Hausarztmodelle der Krankenkassen: Bessere Versorgung zu höheren Kosten oder nur höhere Kosten?). Die jetzt vorgelegten Ergebnisse sollten diese Diskussion mit ein wenig mehr Fakten anreichern.

Die Studie ist hier im Volltext nachzulesen: Cathy Schoen u.a.: Toward Higher-Performance Health Systems: Adults’ Health Care Experiences In Seven Countries, 2007 (Health Affairs, 26, no. 6 (2007): w717-w734)
Hier ist die PDF-Datei zur Studie

Gerd Marstedt, 2.11.2007


Kann man psychosoziale Probleme in Unterschichtsfamilien unaufwändig erkennen und angehen? Ja und Ja!

Artikel 0912 Die psychosozialen Probleme der Angehörigen unterer sozialer Schichten erkennen und dann auch bedarfsgerechte Hilfe anbieten zu können, gilt als schwierig und/oder extrem aufwändig. Das soziale Dilemma dieser Bevölkerungsgruppe ist eben nicht nur von niedrigem Einkommen und hohen Risiken geprägt, sondern auch durch Defizite, sich präzise und verständlich auszudrücken. Weil es als schwierig und teuer gilt, sie zu verstehen, unterlassen viele professionelle Helfer schon den Versuch.
Umso mehr ist interessant und hilfreich, wenn die Vorurteile über die scheinbar unerschütterlichen Verständnis- und Verständigungsschwierigkeiten zwischen Angehörigen unterer sozialer Schichten und z. B. Ärzten erschütert werden können.

Dies leisten die Ergebnisse des von Medizinern und Gesundheitswissenschaftlern aus Baltimore (Maryland) und Farmington (Conneticut) (Arvin Garg, Arlene M. Butz, Paul H. Dworkin, Rooti A. Lewis, Richard E. Thompson und Janet R. Serwint) durchgeführten so genannten "WE CARE" (Well-child Care Visit, Evaluation, Community Resources, Advocacy, Referral, Education)-Projekts. Sie sind jetzt unter dem Titel "Improving the Management of Family Psychosocial Problems at Low-Income Children's Well-Child Care Visits: The WE CARE Project" in der Zeitschrift "PEDIATRICS"(Vol. 120 No. 3 September 2007: 547-558) veröffentlicht worden.

Das Ziel dieses Projekts war, die Machbarkeit der einfachen Identifikation psychosozialer Probleme in Unterschichts-Familien ("low-income") und die Wirkung einer sich anschließenden Intervention anlässlich einer Kindervorsorgeuntersuchung in medizinischen Einrichtungen zu zeigen.

Für die randomisierte kontrollierte Studie wurde gestützt auf die in der wissenschaftlichen Literatur genannten psychosozialen Probleme dieser Schichten ein 10 Schwerpunkte umfassendes Screeninginstrument bzw. ein Fragebogen entwickelt, der im Wartezimmer ausgefüllt werden musste. Dort werden beispielsweise Fragen nach dem Gesundheitsverhalten und der Beschäftigungssituation gestellt und auch Fragen nach der Bereitschaft, sich um Veränderung zu kümmern.

Ein Kriterium für die Aufnahme in den Fragenkatalog war, dass es sich um Probleme handelte, für deren Bewältigung lokale oder regionale Ressourcen ("community resources") verfügbar waren. Die Forscher entwickelten zusätzlich ein "Family resource book" in dem sortiert nach den möglichen Problemen vorhandene Unterstützungsressourcen aufgelistet waren. Dieses Buch lag bereits in den Wartezimmeren aus und die Teilnehmer der Interventions- wie der Kontrollgruppe wurden ausdrücklich ermuntert, reinzuschauen. Die Wirkungen der Intervention wurden durch Interviews unmittelbar nach dem Arztbesuch und einen Monat nach diesem Besuch erhoben. An der Studie nahmen 200 Eltern mit Kindern im Alter von 2 Monaten bis 10 Jahren und 45 pädiatrische Assistenzärzte ("residents") für 12 Wochen an einer städtischen Kinderklinik teil.

Die auf die Thematisierung psychosozialer Probleme und der mit ihnen erfolgenden Beschäftigung bezogenen Ergebnisse sehen folgendermaßen aus:
• Eltern in der Interventionsgruppe (mit Fragebogen) diskutierten mit ihren Ärzten eine signifikant höhere Anzahl von psychosozialen Themen als Eltern in der Kontrollgruppe (2,9 vs. 1,8)
• Und hatten weniger unangesprochene Wünsche für das Arztgespräch (0,46 vs. 1,41).
• 77 % der Ärzte berichteten, der Survey wurde den Besuch nicht nennenswert zeitlich belasten. 91 % meinten, die Auswertung des Fragebogens benötigte weniger als 5 Minuten und 54 % sogar, dies brauche weniger als zwei Minuten.
• Mehr Eltern aus der Interventions- als aus der Kontrollgruppe (51 % vs. 11,6 %) erhielten mindestens eine Überweisung oder Empfehlung für eine Einrichtung, die spezifische Hilfe für psychosoziale Probleme anbot. Am meisten ging es dabei um Beschäftigung (21,9 %), aber auch um Ausbildungsfragen oder Raucherentwöhnungskurse (14,6 %).
• Kontrolliert nach dem Kindesalter, dem Versicherungsstatus, der Rasse, dem Bildungslevel und dem Erhalt von Nahrungsmittelgutscheinen ("food stamps") hatten die Eltern aus der Interventionsgruppe auch einen Monat nach dem Arztbesuch mit größerer Wahrscheinlichkeit einen Kontakt mit einer kommunalen Hilfseinrichtung als die Kontrollgruppenangehörigen. Den 20 % in der Interventions- stehen lediglich 2 % in der Kontrollgruppe gegenüber.
• Dass das Programm auch die Nachhaltigkeit der Integration in Unterstützungsprogramme fördert zeigt die Tatsache, dass 69 % der Eltern der Interventionsgruppe, die eine Überweisung oder Empfehlung bekommen hatten sich nach einem Monat um eine erneute Überweisung bemühten. In der entsprechenden Teilgruppe der Kontrollgruppe machten dies 20 %.
• Ein ungeplanter Effekt der Studie war im übrigen, dass die beteiligten professionellen Helfer und Unterstützer völlig überrascht waren, wie viele Hilfsmöglichkeiten auch für solche Probleme es in ihrer Community gab.
• Am wenigsten Unterstützungsangebote gab es schließlich zu Problemen wie Depression und Gewalt zwischen Partnern. Hier bedarf es wohl zusätzlichen Trainings für die Ärzte, um diese Probleme anzusprechen.

Auch wenn solche Instrumente nie 1:1 in andere Bereiche oder Länder übertragen werden können, regen sie an, nicht bereits die Machbarkeit eines Tools zur Identifikation von psychosozialen Problemen in Unterschichts-Familien zu bestreiten und mit identischen oder ähnlichen eigenen Instrumenten ähnliche Verbesserungen zu erreichen.

Zur weiteren Information steht ein kostenfreies Abstract des Aufsatzes "Improving the Management of Family Psychosocial Problems at Low-Income Children's Well-Child Care Visits: The WE CARE Project" zur Verfügung.

Bernard Braun, 14.9.2007


Kein Ärztemangel in Deutschland, aber Über- und Unterversorgung durch schlechte regionale Verteilung

Artikel 0750 Es gibt in Deutschland nicht zu wenig Ärzte, sondern eher zu viele, aber sie sind schlecht verteilt. Es gibt für eine Niederlassung attraktive und weniger attraktive Gegenden und es gibt erhebliche Differenzen im Grad der fachärztlichen und der hausärztlichen Versorgung. Dies ist das Ergebnis Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO), deren Ergebnisse jetzt als "Ärzte-Atlas" veröffentlicht wurden.

Die Autoren Joachim Klose, Isabel Rehbein und Thomas Uhlemann haben das regionale Versorgungsangebot an Vertragsärzten erstmals umfassend transparent gemacht. Für die 14 größten Arztgruppen werden aktuelle regionale Versorgungsgrade in den insgesamt 395 Planungsbereichen Deutschlands kartografisch ausgewiesen und so auch das Ausmaß an Über- und Unterversorgung differenziert dargestellt. Städte und Kreise mit sehr hohen und sehr niedrigen Versorgungsgraden werden explizit benannt. Grundlage für die Versorgungsgrade bilden die Richtlinien der Bedarfsplanung, die Ärzte und Krankenkassen gemeinsam festlegen. Des weiteren werden in der Publikation jeweils arztgruppenspezifisch u. a. die langfristige Entwicklung der Arztzahlen, die Altersstruktur der Ärzte und die Zu- und Abgänge (Zulassungsbeginn/Zulassungsende) in den letzten Jahren dargestellt.

Bei den Facharztgruppen findet sich in zahlreichen Regionen eine deutliche Überversorgung. Die weit überwiegende Zahl der Kreise und Städte ist deshalb für fachärztliche Neuzulassungen gesperrt. Dies gilt auch für die neuen Bundesländer. Vor allem Kreise in strukturell sehr attraktiven Gegenden sind mit den weitaus meisten Fachgruppen überversorgt. Die bestehenden Versorgungsgrade sind zum Teil ausgesprochen hoch. Unterversorgung findet sich im fachärztlichen Bereich bei einigen Arztgruppen gar nicht, bei anderen nur vereinzelt.

Aber auch im hausärztlichen Bereich liegt in 306 der insgesamt 395 Planungskreise ein Versorgungsgrad von über 100 % vor. In 150 Kreisen und Städten gibt es sogar Überversorgung. Die bundesweit höchste Versorgungsdichte findet sich in Starnberg (150 %), Freiburg/Breisgau (146 %) und in München (140 %). 64 Planungskreise weisen einen Versorgungsgrad zwischen 90 und 100 % auf. Unterversorgung findet sich lediglich im Saalkreis in Sachsen-Anhalt (68 %). In 24 Kreisen und Städten liegt der Versorgungsgrad zwischen 75 und 90 %. Neun dieser Planungsbereiche liegen in Niedersachsen und sieben in Sachsen-Anhalt.

Die Situation in den einzelnen Ländern stellt sich unterschiedlich dar. Während in Berlin, Hamburg, Hessen und dem Saarland die Hausarztzahlen durchgängig über dem Soll liegen und vielfach sogar Überversorgung besteht, gibt es in einigen der neuen Bundesländer, und zwar in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt mehrheitlich Planungskreise mit Versorgungsgraden von 75 bis unter 100 %. Angesichts der ungünstigen Alterstruktur der Hausärzte in den neuen Bundesländern muss die Versorgungssituation in diesen Regionen genau beobachtet werden; insbesondere in wenig attraktiven Gegenden müssen Anreize geschaffen werden, um frei werdende Arztpraxen wieder zu besetzen. Daneben gibt es aber auch Städte und Kreise, die mit Hausärzten überversorgt sind. In einigen großen Städten liegt dabei die absolute Zahl der Hausärzte sehr deutlich über dem Soll.

Die WIdO-Publikation "Ärzteatlas. Daten zur Versorgungsdichte von Vertragsärzten", von Joachim Klose, Isabel Rehbein und Thomas Uhlemann, kann direkt beim Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) bezogen werden.

Hier ist eine WidO-Pressemitteilung zur Studie: Der neue Ärzteatlas zeigt: Nicht ein Mangel an Ärzten sondern die ungleiche regionale Verteilung ist das Problem

Weitere Veröffentlichungen der Autoren zum Thema Ärztedichte und ambulante Versorgung:
Joachim Klose und Thomas Uhlemann: Ambulante Versorgung: Ärzte besser verteilen - das geht! (Gesundheit und Gesellschaft 2/2006)
Joachim Klose und Thomas Uhlemann: Fehlallokationen in der vertragsärztlichen Versorgung - Abbau und Vermeidung von Über- und Unterversorgung (Gesundheit und Gesellschaft 3/2006)

Gerd Marstedt, 22.6.2007


Patienten-Selbstmanagement: Kostensparend, therapiefördernd und trotzdem wenig verbreitet

Artikel 0657 Chronische Erkrankungen erfordern zumeist dauerhafte und lebenslange therapeutische Maßnahmen und sind deshalb besonders kostenintensiv. In den USA umfassen die Ausgaben für die medizinische Versorgung von Herz-Kreislauf-, Krebs- und anderen chronischen Krankheiten rund 70-75% aller Kosten im Gesundheitswesen. Bei chronischen Erkrankungen ist aber zumeist auch eine aktive Mitwirkung des Patienten Voraussetzung für eine Linderung von Beschwerden und Vermeidung von Komplikationen. Aus beiden Gründen läge es im Grunde nahe, Patienten darin zu stärken, sehr viel autonomer im Umgang mit ihrer Krankheit zu handeln als bislang: Durch Selbstdiagnosen, eigenständige Dosierung und Einnahme von Medikamenten. In einem Aufsatz in der Online-Zeitschrift "PloS Medicine" setzen sich Harold DeMonaco und Eric von Hippel, zwei Wissenschaftler aus Boston mit dem Thema "Self Management" detailliert auseinander, stellen Hilfsmittel für Patienten vor und erörtern die ökonomischen und medizinischen Vorteile dieser noch wenig verbreiteten Praxis.

Überraschend ist für die Forscher die noch geringe Verbreitung von Selfmanagement-Techniken, weil mittlerweile eine Reihe von Studien vorliegen, die recht deutlich aufzeigen, dass die Stärkung der Patientenautonomie erhebliche Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen und auch bessere therapeutische Ergebnisse bewirkt, vergleicht man sie mit der herkömmlichen Praxis, bei der Patienten ständig in der ärztliche Sprechstunde erscheinen, nur um Routine-Untersuchungen und einfach durchzuführende Diagnosen zu erstellen. Bei der Volkskrankheit Diabetes, an der in Deutschland etwa 6 Millionen, rund 8 Prozent der Bevölkerung leiden, ist dieses Vorgehen auch bereits recht weit verbreitet: Patienten werden geschult, ihren Blutzuckerspiegel mit einem einfachen Messgerät selbst mehrfach am Tag zu messen und aufbauend auf diesen Befunden entsprechende Handlungen durchzuführen, durch Einnahme entweder von Glukose (bei Unterzuckerung) oder durch Spritzen von Insulin (bei überhöhten Werten). Sie lernen darüber hinaus, ihre Maßnahmen individuell zu verändern und auch in Einklang zu bringen mit ihren Ess- und Trinkgewohnheiten.

Warum aber, so fragen die beiden Wissenschaftler, findet man diese Selbstmanagement-Techniken nicht auch häufiger bei anderen Erkrankungen? Als Beispiel führen sie den Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen oder auch Depressionen an und zeigen zugleich, dass es bereits Hilfsmittel gibt, die Patienten ein sehr viel eigenständigeres Vorgehen bei Selbst-Diagnosen und Arzneimittel-Dosierungen erlaubt. Solche "Selfmanagement-Toolkits", also Werkzeuge und Hilfsmittel zum autonomen Umgang mit der Krankheit, liegen auch schon vor für Patienten mit einer Herzinsuffizienz und sie sind so gestaltet, dass auch Patienten mit sehr geringem Bildungsniveau damit zurecht kommen.

Eine fundierte und empirisch belegte Erklärung für das heutige Mauerblümchen-Dasein von Selfmanagement-Techniken liefern die Autoren nicht. Ihre Annahme geht jedoch dahin, dass solche Maßnahmen "dazu führen, dass das traditionelle Arzt-Patient-Verhältnis sich radikal verändert. Dies wiederum birgt für viele Ärzte das Risiko in sich, ihren Status, wenn nicht gar ihren Job zu verlieren." Allerdings sehen sie auch Licht am Ende des Tunnels: Erst vor kurzem hat eine evidenz-basierte Studie gezeigt, dass Selfmanagement-Techniken mit Antikoagulantien (Gerinnungshemmer, Blutverdünner; häufig verordnet bei Herzrhythmusstörungen) zu qualitativ sehr viel besseren Ergebnissen durch Senkung der Risiken kommen. vgl. Barriers to patient self-testing of prothrombin time: National survey of anticoagulation practitioners (Pharmacotherapy. 2005 Feb;25(2):265-9)

Der Aufsatz in "PloS Medicine" steht hier im Volltext zur Verfügung: Reducing Medical Costs and Improving Quality via Self-Management Tools

Gerd Marstedt, 17.4.2007


Neue Arbeitsteilung in den Heilberufen: Krankenschwestern als Ärzte "light" ?

Artikel 0643 Aufgrund des Ärztemangels in Sachsen sollen in einem Modellprojekt zukünftig Gemeindeschwestern Lücken in der medizinischen Versorgung schließen. Das Modellvorhaben soll herausfinden, ob Ärztinnen und Ärzte durch die Qualifizierung von ärztlichem Hilfspersonal tatsächlich entlastet werden können. In der Folge hätten sie mehr Zeit für ihre Patienten in der Sprechstunde. Von Interesse ist auch, ob diese Form der Betreuung von den Patienten akzeptiert wird. Der Einsatz der modernen Gemeindeschwester soll die Ärzte vor Ort in ihrer Arbeit unterstützen, ohne eine Konkurrenz zu den Pflegediensten darzustellen. Ein Sprecher des sächsischen Sozialministeriums erklärte, diese Gemeindeschwestern sollen vorwiegend auf dem Land eingesetzt werden und Patienten beispielsweise dringend benötigte Injektionen verabreichen.

Gesundheitsministerin Helma Orosz gab jetzt den Startschuss zu dem sächsischen Projekt. Sie übergab heute in Dresden den Zuwendungsbescheid über die Finanzierung des Modellprojekts "Moderne Gemeindeschwester im Freistaat Sachsen" an den Projektträger, die Universität Greifswald, die das Vorhaben wissenschaftlich begleitet. Zunächst wird das Modellprojekt in der Kammregion des Erzgebirges gestartet. Dabei werden zwei Gemeindeschwestern mehreren Hausarztpraxen zugeordnet. Im Projektzeitraum von 15 Monaten soll erprobt werden, ob und inwieweit eine unter Verantwortung des Arztes eingesetzte Gemeindeschwester den Arzt im häuslichen Umfeld des Patienten entlasten kann. Die Finanzierung der Personalkosten der Gemeindeschwestern in Höhe von 231.000 EUR erfolgt durch Mittel der sächsischen Krankenkassen, des Gesundheitsministeriums und der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen.

"Der Freistaat Sachsen", so erklärte Gesundheitsministerin Helma Orosz, "wird in den nächsten Jahren vor einer großen Herausforderung bei der Sicherstellung der ärztlichen Versorgung stehen. Nicht nur die Patienten werden immer älter, es werden auch viele Ärzte in den Ruhestand gehen. Um dieser Herausforderung zu begegnen, müssen wir alle Möglichkeiten ausschöpfen - dies schließt auch das Ausprobieren neuer Wege ein." (vgl. Pressemitteilung des Staatsministeriums für Soziales in Sachsen: Mit Spritze und Laptop unterwegs: die "Moderne Gemeindeschwester")

Das jetzt durch den Ärztemangel in schwach besiedelten Regionen in neuen Bundesländern in Gang gesetzte Projekt ist ein weiterer praktischer Ansatz zur Erprobung einer neuen Arbeitsteilung zwischen den Gesundheitsberufen. Solche Vorhaben werden schon seit längerem diskutiert und sind in einigen Bereichen der stationären Versorgung auch schon in der Erprobung. So verfolgen die Helios-Kliniken im Rahmen der Ausbildung von Pflegetätigkeiten ein neues Konzept mit einer sehr viel weiter reichenden Qualifizierung nicht-ärztlicher Heilberufe. Auf einer Tagung der Gewerkschaft ver.di "Neue Arbeitsteilung in der Gesundheitsversorgung - neue Berufe? Konsequenzen für die Berufsbildung, 27. Februar 2007 in Berlin" hat unlängst der Leiter der für die Berufsausbildung zuständigen Helios-Akademie, Dr. med. Parwis C. Fotuhi, für die neue Arbeitsteilung geworben: "Die Übernahme bisher rein ärztlicher Tätigkeiten durch Pflegepersonal ist in einem solchen Teamkonzept unabdingbar." Mehr Verantwortung zu übernehmen sei für die Beschäftigten in der Pflege überaus attraktiv. Durch Wissenszuwachs und mehr Entscheidungsspielräume würden die Pflegeberufe davon profitieren. (vgl. Tagungsbericht: Neue Arbeitsteilung in der Gesundheitsversorung - neue Berufe?)

Inwieweit Patienten damit zurecht kommen, bei leichteren Gesundheitsbeschwerden statt von Ärzten von Krankenschwestern beraten und behandelt zu werden, hat unlängst ein schottisches Forschungsprojekt untersucht. Nicht ganz 1.400 zufällig ausgewählte Patienten aus Arztpraxen unterschiedlicher Fachdisziplinen und in verschiedenen Regionen nahmen an der schriftlichen Befragung teil. Zusätzlich wurden qualitative Telefoninterviews mit einer kleineren Gruppe durchgeführt. Im Zentrum stand die Frage, ob Patienten generell darauf fixiert sind, bei Gesundheitsbeschwerden mit einem Arzt zu sprechen, oder ob unter bestimmten Voraussetzungen (wie zum Beispiel lange Wartezeit auf einen Termin, Gespräch mit einem Arzt, den man nicht kennt, kurze Dauer des Arztgesprächs) nicht sogar ein Beratungsgespräch mit einer Krankenschwester vorgezogen würde.

Als Ergebnis zeigte sich, dass Frauen und jüngere Patienten, aber auch solche mit höherem Einkommen gegenüber einer Praxisschwester (practice nurse) weniger Vorbehalte haben. Zwar ziehen die meisten Befragungsteilnehmer einen Arzt vor, viele würden aber auch eine Krankenschwester akzeptieren, wenn die Umstände des Beratungsgesprächs (kurze Wartezeit auf Termin, längere Gesprächsdauer) günstiger sind als bei einem Arztkontakt. Krankenschwestern stoßen auch dann auf Zustimmung, wenn es sich nur um Bagatell-Erkrankungen handelt oder wenn es sich um einfache Patientenanliegen handelt (Injektion, Medikamentenverschreibung). Unter dem Strich zeigt die Studie, dass Patienten es durchaus akzeptieren würden, wenn Krankenschwestern in begrenztem Umfang Aufgaben übernehmen, die bislang Ärzten vorbehalten waren.
Hier ist ein Abstract der Studie
Im Volltext ist die Studie hier nachzulesen: Treatment of minor illness in primary care: a national survey of patient satisfaction, attitudes and preferences regarding a wider nursing role (Health Expectations, Volume 10 Issue 1 Page 30 - March 2007)

Gerd Marstedt, 27.3.2007


Gesundheitsmonitor 2004 online verfügbar

Artikel 0331 Das deutsche Gesundheitswesen ist geprägt von Steuerungs- und Koordinationsdefiziten. Daran wird sich so lange nichts ändern, wie relevante und vergleichbare Informationen fehlen - darin sind sich die Experten einig. Ein wichtiger Bereich ist dabei die Qualität der ambulanten Versorgung. Die Bertelsmann Stiftung erhebt dazu seit Herbst 2001 kontinuierlich Daten, um die Leistung im zeitlichen Verlauf vergleichen zu können. Die regelmäßige Befragung der Bevölkerung und der niedergelassenen Ärzteschaft soll Informationslücken schließen und so einen Beitrag zum überfälligen Paradigmenwechsel hin zu einer Gesundheitspolitik aus Versichertenperspektive leisten. Thematische Schwerpunkte des "Gesundheitsmonitors 2004" sind Prävention, Entwicklungen nach Einführung des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes, Krankenkassenwettbewerb und Finanzierung. Die Buchveröffentlichung ist vergriffen, steht jetzt aber als PDF-Datei kostenlos zur Verfügung.

Die Aufsätze dort beschäftigen sich mit folgenden Themen:
• Gerechtigkeit in der Finanzierung des Gesundheitswesens (Melanie Schnee, Jan Böcken)
• Kassenwettbewerb: Motive für einen Kassenverbleib (Karin Höppner, Martin Buitkamp, Bernard Braun, Stefan Greß, Rainer Müller, Heinz Rothgang, Jürgen Wasem)
• Neue gesundheitspolitische Wertschätzung der Prävention und Gesundheitsförderung - alte Verhaltensmuster in der Bevölkerung? (Thomas Altgeld, Rüdiger Bockhorst)
• Medikamentenkonsum und Verordnungspraxis - Auswirkungen des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes (Gerd Glaeske)
• Individuelle Gestaltungsoptionen der Verbraucher im Gesundheitswesen (Stefan Etgeton)
• Ärztliche Therapiefreiheit und Fortbildungspflicht - ein Widerspruch? Perspektiven und Einschätzungen aus der Ärzteschaft (Wilfried Kunstmann, Martin Butzlaff)
• Shared Decision Making - partizipative Entscheidungsfindung auf dem Weg in die Praxis (Jana Isfort, Bettina Floer, Martin Butzlaff)
• Politische Implikationen des demographischen Wandels für das Gesundheitssystem (Öle Wintermann)
• Erwartungen an die mittelfristige Zukunft der Gesundheitsversorgung (Bernard Braun)

Download der PDF-Datei (148 Seiten) Gesundheitsmonitor 2004 - Die ambulante Versorgung aus Sicht von Bevölkerung und Ärzteschaft

Gerd Marstedt, 23.11.2006


Ärztliche Kooperationen. Kompetenzen vernetzen (KBV) oder "was kümmert mich mein Gerede von vor 15 Jahren".

Artikel 0316 Fast jegliche Kooperationsformen ambulant tätiger Ärzte waren in Deutschland noch vor rund 15 Jahren, also in der Zeit der Konfrontation mit den unterschiedlichsten gemeinschaftlichen ärztlichen und nichtärztlichen Versorgungsinstitutionen in der DDR (z.B. Ambulatorien, Polikliniken) und ihrer Kolonialisierung in Richtung der westdeutschen Einzelpraxenwelt unärztlich und die freie Einzelpraxis die einzig denkbare ärztliche Lebens- und Arbeitsform.

Seitdem entwickelten sich aber innerhalb der Ärzteschaft und durch gesetzliche Vorgaben eine rasch zunehmende Fülle ärztlicher Kooperationsformen. Dies geht so weit, dass selbst die Kassenärztliche Bundesvereinigung in der "Teilnahme an einer Kooperationsform...unterschiedliche Chancen" sieht und sogar feststellt, dies ermögliche den teilnehmenden Ärzten "unter Umständen sogar einen Gewinn an ärztlicher Freiheit." Quintessenz: "Dabei halten wir ärztliche Kooperationsformen für zukunftsweisend."

Diese Sätze findet man auf einer neuen Website der KBV über "Ärztliche Kooperationen". Zusätzlich zu einem knappen informativen Überblick zum Inhalt, der vertraglichen Ebene, Finanzierung, Versorgungsrealität und gesetzlichen Grundlage von Praxisnetzen, MVZs, integrierter Versorgung etc. liefert die KBV für den raschen Überblick ausführlichere Informationen über die konzeptionelle und praktisch-organisatorischen Details der Gründung und Führung derartiger Versorgungsformen.

Bernard Braun, 16.11.2006


GEK-Studie zeigt: Bei der Zahl der Arztbesuche sind deutsche Patienten führend

Artikel 0297 Bei der Anzahl der Arztbesuche liegen Deutsche weltweit ganz vorne. Das ergab der jetzt veröffentlichte GEK Report "Ambulant-ärztliche Versorgung". Erstmals konnten dafür versichertenbezogene Daten in repräsentativer Größenordnung ausgewertet werden. Zwischen 1990 und 2004 ist die Arztdichte um rund 40 Prozent gestiegen. Dies dürfte dazu beigetragen haben, dass jeder Bundesbürger im Schnitt 16,3 mal pro Jahr zum Arzt geht. Nur Tschechien, die Slowakei und Japan verzeichneten mit zwölf bis 14,4 Arztkontakten pro Kopf ähnlich hohe Zahlen, Professor Dr. Friedrich Wilhelm Schwartz vom ISEG-Institut Hannover als einer der Autoren fest.

Die Auswertung der Daten von rund 1,5 Millionen Versicherten der Gmünder ErsatzKasse GEK über einen längeren Zeitraum erlauben nun eine sachliche Diskussion über die Frage, ob die hohe Arztdichte in Deutschland Ursache für die im internationalen Vergleich sehr hohe Zahl an Arztkontakten ist. Auf der Pressekonferenz zur Studie erklärte Schwartz, ausschlaggebend für die häufigen Arztbesuche sei eine falsche Struktur bei der Bezahlung der Ärzte. Beratungs- und Gesprächszeiten würden schlecht honoriert und dadurch entstehe ein "Hamsterradeffekt". Der Arzt müsse mehr Leistung erbringen, um sich seinen Anteil am GKV-Kuchen zu sichern. Statt länger zu beraten, verschrieben Ärzte dann öfter Rezepte, so dass sich auch daher die Zahl der Arztbesuche erhöhe: "Das System erzwingt viele Kontakte, wir brauchen jedoch ein System, in dem der Arzt die Freiheit hat, mit dem Patienten eine halbe Stunde zu reden, ohne sich ins ökonomische Abseits zu begeben", forderte Schwartz.

91 Prozent der Bevölkerung suchten im Jahr 2004 einen Arzt auf. Im Durchschnitt werden pro Kopf der Bevölkerung 16,3 Arztkontakte pro Jahr ausgewiesen. Und auch in der Verteilung gibt es Auffälligkeiten. Auf ein Prozent der Versicherten mit hoher Inanspruchnahme entfallen 13 Prozent der Behandlungskosten. Auf 50 Prozent der Versicherten mit geringer Inanspruchnahme entfallen lediglich 11 Prozent der Behandlungskosten.

Bis zur Vollendung des 40. Lebensjahrs liegen die Kontaktzahlen mit rund sieben bei jungen Männern ziemlich genau bei der Hälfte der Arztkontakte von Frauen. Erst im Alter von 75 Jahren werden die Werte identisch. Männer in hohem Alter verursachen ambulante Behandlungskosten von durchschnittlich 890 Euro, Frauen der vergleichbaren Altersgruppe dagegen nur von 715 Euro pro Jahr.

Der komplette Bericht ist als PDF-Datei verfügbar (214 Seiten, 900 KB) GEK-Report ambulant-ärztliche Versorgung 2006

Gerd Marstedt, 10.11.2006


Wartezeiten beim Arzt: GKV-Versicherte warten länger als Privatpatienten

Artikel 0295 Eine aktuelle Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zeigt, dass privat Krankenversicherte im Vergleich zu gesetzlich Versicherten beim Zugang zu niedergelassenen Ärzten klar privilegiert sind. Trotz akuter Beschwerden musste jeder vierte gesetzlich Versicherte (25%) beim letzten Arztbesuch mindestens zwei Wochen auf einen Behandlungstermin warten. Bei privat Versicherten mit Beschwerden war dies nur bei 8% der Fall.

Die aktuelle WIdO-Analyse auf der Grundlage einer repräsentativen Versichertenbefragung unter insgesamt rd. 3000 gesetzlich und privat Krankenversicherten zeigt weiter, dass längere Wartezeiten auch im subjektiven Empfinden der Patienten ein Problem darstellen. 34% der GKV-Versicherten mit akuten Beschwerden empfanden die Wartezeit auf ihren letzten Arzttermin als zu lang - bei Privatversicherten traf dies nur auf 15% zu. Die Ungleichbehandlung von GKV- und PKV-Patienten wird am Beispiel der Arztgruppe der Orthopäden besonders deutlich. 17% der GKV-Patienten mit akuten Beschwerden mussten länger als 4 Wochen auf einen Termin beim Orthopäden warten, aber nur 2% der Privatversicherten mit Beschwerden. 43% der PKV-Patienten mit Beschwerden wurden sofort oder am nächsten Tag behandelt, aber nur 26% der GKV-Patienten.

Eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse gibt es beim WIdO: Unfairer Wettbewerb zu Lasten der Patienten. Alle Daten der Studie finden sich in der Buchveröffentlichung "Klaus Jacobs, Jürgen Klauber, Johannes Leinert (Hrsg): Fairer Wettbewerb oder Risikoselektion? Analysen zur gesetzlichen und privaten Krankenversicherung. Bonn 2006" (162 Seiten, 16,00 Euro).

Auch in einer repräsentativen Umfrage der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) wird die unterschiedliche Behandlung von GKV- und Privatversicherten deutlich. Im Ergebnisbericht zur Versichertenbefragung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung heißt es: "Die Art der Versicherung für den Krankheitsfall spielt auch beim Thema Wartezeiten für einen Termin eine Rolle: Sowohl bei der Wartezeit für einen Behandlungstermin als auch im Wartezimmer sind Selbstzahler nach eigenen Angaben schneller an der Reihe. 44% der gesetzlich Versicherten, aber 54% der Privatpatienten haben für ihren letzten Arztbesuch sofort einen Termin bekommen." (S. 11) Der komplette Bericht der Umfrage (48 Seiten) kann als PDF-Datei heruntergeladen werden.

Gerd Marstedt, 8.11.2006


Ärztemangel: Die erstarrte Arbeitsteilung zwischen den Gesundheitsfachberufen

Artikel 0290 Der Bundestag hat jetzt im Oktober 2006 ein Gesetz verabschiedet, um dem Ärzte-Mangel in strukturschwachen Regionen entgegenzuwirken. Mit den Stimmen der Koalitions-Mehrheit wurden vor allem Zulassungs-Beschränkungen für Ärzte gelockert. So darf ein niedergelassener Arzt ab kommenden Jahr mehrere Praxen haben. Krankenhausärzte dürfen zusätzlich in Praxen tätig sein. In strukturschwachen Regionen können Mediziner auch über die Altersgrenze von 68 Jahren tätig bleiben.

Zur Frage des Ärztemangels hat jetzt Prof. Norbert Schmacke (Universität Bremen) ein Papier veröffentlicht, in dem einige bislang wenig problematisierte Aspekte der Thematik angesprochen werden:
1. An welchen Indikatoren soll eine ausreichende Arztdichte festgemacht werden?
2. Wie kann der international favorisierte Ansatz von primärärztlicher Versorgung mit neuen Kooperationsstrukturen in Deutschland attraktiver gemacht werden?
3. Auf welchem Weg kann die Rolle der nichtärztlichen Berufe, insbesondere der Pflege, für die ambulante Versorgung gestärkt werden?

Er kommt in seinem Aufsatz u.a. zu dem Schluss, dass ein Überdenken der bislang weitgehend fest gefrorenen Arbeitsteilung zwischen den Gesundheitsfachberufen und eine Überwindung der Kluft zwischen Ärzten und Pflegekräften sinnvolle Lösungen des Problems zugunsten von Ärzten wie Patienten bieten könnte.

Der Aufsatz ist hier als als PDF-Datei verfügbar: Norbert Schmacke: Ärztemangel - Viele Fragen werden noch nicht diskutiert

Gerd Marstedt, 6.11.2006


Praxisausstattung von Primärarzt-Praxen in sieben Industrieländern

Artikel 0288 Die gerade in einem Aufsatz in "Health Affairs Exclusive" ("On the Front Lines of Care: Primary Care Doctors’ Office Systems, Experiences, and Views in Seven Countries") veröffentlichten Ergebnisse einer Studie mit 6.000 Allgemein- und Hausarztpraxen in Australien, Großbritannien, Deutschland, Kanada, den Niederlanden, Neuseeland und den USA, weisen auf erhebliche Unterschiede bei ausgewählten Elementen der Praxisausstattung und insbesondere der Informations-.Infrastruktur hin, die sich auf die Wirksamkeit und Effizienz der Behandlung auswirken können.

Besonders schlecht stehen die US-Ärzte da: Sie verfügen u.a. am wenigsten (28 %; Spitzenreiter Niederlande: 98 %) über klinische Informationssysteme, erhalten am wenigsten (30 %; Spitzenreiter Großbritannien: 95 %) qualitätsbasierte Zahlungsanreize, bieten am wenigsten (40 %; Spitzenreiter Niederlande: 95 %) Sondersprechstunden außerhalb der normalen Öffnungszeiten an und berichten am meisten (51 %) darüber, dass ihre Patienten Schwierigkeiten haben, die Behandlung zu bezahlen.

Die deutschen Ärzte nehmen, wie aus anderen internationalen Vergleichen gewohnt, meist eine Mittelposition ein: 42 % nutzen nach eigenen Angaben elektronische Informationssysteme, 73 % setzen elektronische Hinweissysteme auf mögliche Verordnungsprobleme ein (Spitzenreiter sind mit 95 % die britischen Hausärzte), 76 % bieten Sondersprechstunden an und 43 % berichten von qualitätsorientierten finanziellen Anreizen. Positiv herausragend sind die 63 % der deutschen Primärärzte, die ihren Patienten einen Plan für die Organisation von häuslicher Versorgung ausfertigen, negativ ragen aber 53 % aller deutschen Ärzte heraus, die 15 und mehr Tage brauchen, um einen vollständigen Bericht über einen Krankenhausaufenthalt eines ihrer Patienten in Händen zu halten. Nur in Kanada brauchen etwas mehr, nämlich 58 % der Ärzte im "primary care"-Bereich, so viel Zeit.

Hier finden sie ausführlichere Informationen: Aufsatz in Health Affairs Web Exclusive

Bernard Braun, 6.11.2006


"Individuelle Gesundheitsleistungen" (IGeL) - eine neue Goldgrube für Ärzte?

Artikel 0166 Immer öfter bieten Ärzte in ihrer Praxis Zusatzleistungen an, die der Patient selbst bezahlen soll. Rund 16 Millionen Versicherte (23,1 Prozent) haben in den vergangenen zwölf Monaten eine solche "Individuelle Gesundheitsleistung" (IGeL) angeboten bekommen. Dies ist das Ergebnis einer Studie, die das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) und die Verbraucherzentrale NRW am 10. Oktober 2005 in Bonn vorgelegt haben. Die auch so genannten "Wohlfühlleistungen" werden vor allem einkommensstarken Patienten angeboten. So bekamen nur 17,6 Prozent der Versicherten in der Einkommensgruppe bis 2.000 Euro Haushaltsnettoeinkommen IGeL-Angebote, während es in der Einkommensgruppe oberhalb von 4.000 Euro doppelt so viele (35,5 Prozent) waren. "Dadurch wird deutlich, dass bei Individuellen Gesundheitsleistungen das medizinisch Notwendige nicht im Vordergrund steht", betonte Klaus Zok, Projektleiter beim WIdO und Autor der Studie.

Rund 16 Millionen gesetzlich krankenversicherten Patienten wird im Laufe eines Jahres eine Selbstzahler-Leistung unterbreitet oder sie haben eine solche Leistung in Anspruch genommen. Im aktuell beobachteten Einjahreszeitraum stieg der Umfang der privat angebotenen Zusatzleistungen um 44%. Das Verkaufsvolumen erreicht gegenwärtig rund eine Milliarde Euro. Dabei ist der zahnärztliche Bereich in dieser Summe noch nicht einmal enthalten. Dabei liegen mit einem Anteil von 22% Prozent die Ultraschalluntersuchungen auf Platz eins, gefolgt von Augeninnendruckmessungen (16%) und ergänzenden Krebs-Früherkennungsuntersuchungen bei Frauen (11%). Mehr als 40 Prozent der Versicherten meinten, dass das Arzt-Patienten-Verhältnis durch IGeL beeinflusst wird, wobei sie mehrheitlich eine Verschlechterung (79%) befürchten. Die von den Versicherten hierzu formulierten Aussagen bringen durchgehend die Verunsicherung zum Ausdruck, die mit der Wahrnehmung des ärztlichen Verkaufsinteresses einhergeht.

Eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse ist als PDF-Datei kostenlos herunterzuladen; Goldgrube Privatabrechnung. Die gesamte Studie kann gegen eine Schutzgebühr von 10 Euro beim Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) bezogen werden. Die Befragungsergebnisse von 2005 decken sich sehr stark mit den schon ein Jahr zuvor vom WidO ermittelten Befunden. Hierzu gibt es eine PDF-Datei mit ausführlicher Darstellung der Umfrageresultate auf 8 Seiten: Klaus Zok: Private Zusatzangebote in der Arztpraxis (WIdO Monitor 1, 2004).

In einer unlängst vom Marktforschungsunternehmens GfK und der Stiftung Gesundheit durchgeführten Studie, bei der Ende 2004 eine Stichprobe von 8000 niedergelassenen Ärzten aller Fachrichtungen, befragt wurden, zeigte sich:
• 74% der befragten Ärzte gaben an, sie würden in ihrer Praxis IGeL-Leistungen anbieten, weitere 8% planten dies für die Zukunft
• 79% stimmten (völlig oder eher) der Aussage zu "Ohne Individuelle Gesundheitsleistungen ist meine Praxis auf Dauer nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben." Die Studie kann hier kostenlos heruntergeladen werden: Ärzte im Zukunftsmarkt Gesundheit

Eine detaillierte Liste der individuellen Gesundheitsleistungen, die derzeit in Arztpraxen angeboten werden, von Vorsorgeuntersuchungen über reisemedizinische Beratungsleistungen bis hin zu sonstigen Leistungen (wie Beschneidung oder Refertilisation nach vorangegangener Sterilisation) einschl. der Gebühren findet man hier:
IGEL - Individuelle Gesundheitsleistungen

Gerd Marstedt, 31.10.2005


Ärztemangel auf dem Lande: Grenzen des Wettbewerbs und Lösung durch neue Versorgungsformen

Artikel 0151 Auf Basis einer Fülle von empirischen Belegen aus dem Lande Brandenburg und anderen neuen Bundesländern beschäftigt sich Hartmut Reiners, Diplom-Volkswirt und Leiter des Referats Grundsatzfragen der Gesundheitspolitik im Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Familie des Landes Brandenburg, in einem zuerst vor Krankenkassen-Selbstverwaltern in Berlin gehaltenen Referat mit dem Gesundheitsversorgungsproblem des Ärztemangels in dünn besiedelten Regionen. In seiner Analyse zeigt er, dass der Ärztemangel besonders in den ländlichen Regionen der neuen Bundesländern durch die Kumulation dreier höchst unterschiedlicher Faktoren ein ernstes Problem darstellt:

• Erstens sind die Arbeitsbedingungen im ländlichen Raum sehr belastend,
• zweitens liegt das Niveau der Finanzierung ambulanter ärztlicher Tätigkeit in Ostdeutschland derzeit bei knapp 73 Prozent der Honorierung in Westdeutschland (GKV-Ausgaben für Vertragsärzte pro Versicherter) und
• drittens sind im Rahmen des Vereinigungsprozess bestimmte Versorgungsstrukturen, die in der DDR speziell für die ländlichen Regionen entwickelt worden waren (z.B. der Einsatz von nichtärztlichen aber für Teile der Krankenbetreuung verantwortlichen Gemeindeschwestern) bewusst zerschlagen worden.

Als Lösung dieser bisher primär ostdeutschen Probleme verwirft Reiners den Vorschlag führender Ärztefunktionäre, Praxisbusse übers Land zu schicken. Dies entspräche nicht dem besonders kontakt- und beratungsintensiven Versorgungsbedarf der dort meist älteren Bevölkerung. Stattdessen schlägt er vor, in einem längeren Reformprozess besonders in den dünnbesiedelten ländlichen Gegenden Ostdeutschlands alle neuen Möglichkeiten der integrierten Versorgung zu nutzen und dabei auch evtl. die alten Gemeindeschwesterstrukturen wiederaufzubauen.

Eine wichtige Voraussetzung für derartige Strukturverbesserungen ist aber das gemeinsame Handeln aller gesetzlichen Krankenkassen, der jeweiligen politischen Institutionen, der Krankenhäuser und der Ärztevereinigungen. Das Festhalten an den wettbewerblichen Strukturen der gegliederten GKV wäre hier kontraproduktiv. Dass gemeinsames Handeln durchaus kein Fremdkörper im GKV-Rechtssystem ist oder wäre, unterstreicht Reiners mit dem Hinweis auf den § 1 des SGB V, der eindeutig feststellt, dass die GKV eine (!) Solidargemeinschaft ist und keine Assoziation von nur in sich solidarischen Kassen.

Hier finden Sie die PDF-Datei des Vortrags Die Grenzen des Wettbewerbs - Medizinische Versorgung in dünn besiedelten Regionen

Bernard Braun, 12.10.2005


Gesundheitsmonitor 2003: Die ambulante Versorgung aus Sicht von Ärzteschaft und Bevölkerung

Artikel 0106 Im "Gesundheitsmonitor" der Bertelsmann-Stiftung
(wissenschaftliche Leitung: Zentrum für Sozialpolitik Bremen) werden seit 2001 Ärzte- und Bevölkerungsmeinungen zu Medikamenten-Verschreibung und ambulanter Versorgung, zu Pflege und Prävention, GKV und Gesundheitssystem erhoben. Bis heute wurden rund 12.000 Versicherte zu über 150 gesundheitspolitisch relevanten Themen befragt. Damit ist der Gesundheitsmonitor eines der größten Surveys dieser Art in Deutschland.

Der Gesundheitsmonitor 2003 ist im Buchhandel vergriffen, steht aber als PDF-Datei (2.3 MB) zum Download zur Verfügung. Er informiert auf 188 Seiten und mit 12 Aufsätzen ausführlich über folgende Themen:
• Wartezeiten für die fachärztliche Behandlung - Hinweise auf regionale Über- oder Unterversorgung?
• Der Hausarzt als Primärversorger und Lotse im Versorgungssystem - Stand der Praxis und Entwicklungschancen
• "Shared decision making": Der Patient im Mittelpunkt von Gesundheitswesen und Praxisalltag?
• Prävention - Alltagsverhalten und der Beitrag der Hausärzte
• Gutes Beitrags-Leistungs-Verhältnis oder Sicherheit - was wollen die Bürger von ihrer Krankenkasse?
• Eigenverantwortung im Gesundheitswesen
• Ärztliche Fortbildung: Interessen und Herausforderungen in einem sich wandelnden Gesundheitssystem
• Auf der Suche nach gesundheitlicher Information und Beratung: Befunde zum Wandel der Patientenrolle
• Zeitlicher und internationaler Vergleich des Vertrauens in Akteure, Institutionen und Eigenschaften des Gesundheitswesens
• Zur Methode des Gesundheitsmonitors

PDF-Datei des Gesundheitsmonitor 2003

Gerd Marstedt, 20.8.2005