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Länger leben in Gesundheit? Ja, aber mit erheblichen und zunehmenden sozialen Unterschieden. Das Beispiel Schweiz.

Artikel 2675 Die Lebenserwartung der gesamten Bevölkerung nimmt in den meisten entwickelten Ländern (aktuelle Ausnahme ist die USA) in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zu.
Die in diesem Zusammenhang wichtige Frage ist, ob damit auch die Lebenszeit in gutem Gesundheitszustand zunimmt oder zumindest ein Teil der zusätzlichen Lebensjahre mit Krankheiten verbunden sind. In der darüber seit vielen Jahren heftig geführten Debatte zwischen VertreterInnen einer Medikalisierung der gewonnenen Lebensjahre oder einer "compression of morbidity" am Ende einer Reihe von gewonnenen gesunden Lebensjahre (siehe dazu mit diesen Stichworten eine Reihe von Beiträgen in diesem Forum) überwiegen Studien, welche die Kompressions-Hypothese empirisch belegen.

Unabhängig wie diese Debatte weiter- oder ausgeht, zeigt eine im November 2019 veröffentlichte Studie über die Lebenserwartung in der Schweiz zusätzliche wichtige soziale Besonderheiten ihrer Entwicklung.
Mit Daten der "Swiss National Cohort (SNC)" von 11.650.000 Personen, die zwischen 1990 und 2015 jemals in der Schweiz lebten, und mit Daten aus den "Swiss Health Surveys" kamen die WissenschaftlerInnen zu folgenden Ergebnissen:

• Im Untersuchungszeitraum stieg die Lebenserwartung von 30-jährigen Männern von 78 auf 82 (exakt: plus 5,02 Jahre) und die der gleichaltrigen Frauen von 83 auf 86 Jahre (exakt: plus 3,09 Jahre).
• 4,5 Jahre ihrer längeren Lebenszeit konnten Männer in guter Gesundheit verbringen. Bei Frauen war dies in der gesamten zusätzlichen Lebenszeit der Fall.
• Sowohl bei der Lebenserwartung als auch bei den zusätzlichen Jahre in guter (healthy life expectancy) oder schlechter (years of bad health) Gesundheit gibt es beträchtliche und auch signifikante Unterschiede zwischen Menschen mit "compulsory education" (Hauptschulabschluss), "secondary education" (Real-/Gymnasialabschluss) und "tertiary education" (Hochschulabschluss). So betrug z.B. der Unterschied der Jahre in guter Gesundheit zwischen Männern mit Haupt- und allen anderen Abschlüssen im Zeitraum 2010-2014 8,8 Jahre. Bei den Frauen betrug dieser Unterschied 2010-2014 5 Jahre.
• Entgegen manchen Erwartungen nahmen die gerade genannten sozialen Unterschiede zwischen 1990 und 2010-2014 sogar zu: Für Männer von 7,6 auf 8,8 Jahre und bei den Frauen von 3,3 auf 5 Jahre (hier könnten aber laut den AutorInnen Besonderheiten beim Zugang von Frauen zur höheren Bildung und zur Arbeitswelt in den 1920er Jahren eine Rolle spielen).
• Zur Erklärung der Unterschiede bei den untersuchten Kennziffern zur Lebenserwartung zwischen Personen mit niedrigem und hohem Bildungsabschluss verweisen die AutorInnen auf eine Marginalisierung der erstgenannten Bevölkerungsgruppe. Diese weist in der Schweiz eine deutlich überdurchschnittliche Arbeitslosenrate auf. Hinzu kämen Faktoren aus dem Gesundheitssystem wie "the unequal ability of the Swiss healthcare system to provide curative and preventive medicine to everyone" oder "out-of-pocket payments for health and unmet health care needs for financial reasons", die in der Schweiz im Vergleich mit anderen OECD-Ländern am höchsten sind.

Die Studie Longer and healthier lives for all? Successes and failures of a universal consumer-driven healthcare system, Switzerland, 1990-2014 von A. Remund, S. Cullati, S. Sieber, C. Burton-Jeangros und M. Oris ist in der Zeitschrift "International Journal of Public Health" (2019; 64 (8): 1173-1181) erschienen und komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 13.11.19


"Aktiv- und Passivrauchen gefährden Ihre Gesundheit" - weitere Belege aus Mehrjahresvergleichen in der Schweiz

Artikel 2362 Auch wenn es bereits zahlreiche Belege für die unerwartet rasche erkrankungsbewahrende oder gesundheitsfördernde Wirkung von Rauchverboten gibt, verdienen weitere bevölkerungsbezogene Studienergebnisse aus möglichst vielen Ländern verbreitet zu werden. Und wenn sie dazu noch aus der Schweiz stammen, mögen sie den einen oder anderen Zweifler am Nutzen solcher Verbote überzeugen.

In der Schweiz wurde im Kanton Tessin im Jahr 2007 ein Rauchverbot an öffentlichen Plätzen eingeführt. Dies ermöglichte sowohl den langfristigen Vergleich der Inzidenz einer speziellen Form des Herzinfarkts (dem so genannten ST-Strecken-Erhebungs-Myokard Infarkt STEMI; die ST-Strecke ist ein Kurvenabschnitt des Elektrokardiogramms) innerhalb der Tessiner Bevölkerung drei Jahre vor und nach dem Rauchverbot und ferner den Vergleich mit der Inzidenz im Kanton Basel-Stadt, wo es noch kein Rauchverbot gab.

Die Ergebnisse sahen so aus:

• In jedem der drei Jahre nach dem Rauchverbot im Tessin war die Inzidenz signifikant niedriger (zwischen 89,6 und 101,6 stationären Einweisungen wegen STEMI pro 100.000 Einwohner) als in den drei Jahren davor (123,7 Einweisungen). Erneut zeigte sich also eine so nicht erwartete schnelle Wirkung des Verbots auf eine spezifische rauchassoziierte schwere Erkrankung.
• Die durchschnittliche Inzidenz von STEMI veränderte sich dagegen in Basel-Stadt im gesamten 6-Jahreszeitraum nicht signifikant.
• Die Studie liefert auch differenzierte Belege für Gesundheitswirkungen nach Alter und Geschlecht.

Die Schlussfolgerung der AutorInnen, dass "smoke-free policies … should be included in prevention programms worldwide" ist u.a. deshalb wichtig, weil es Anzeichen dafür gibt, dass sich die Tabakwarenindustrie zunehmend auf den Markt in der dritten Welt konzentriert.

Der Aufsatz Reduction of ST-elevation myocardial infarction in Canton Ticino (Switzerland) after smoking bans in enclosed public places - No Smoke Pub Study von Marcello Di Valentino et al. ist am 3. Juni 2014 vorab online als Beitrag im "European Journal of Public Health" erschienen. Das Abstract ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 8.6.14


Swiss-DRG-Probephase 2001-2008: Keine kürzeren Liegezeiten und nicht mehr Rehospitalisierungen als in Kliniken ohne Fallpauschalen

Artikel 1974 Auf der Basis der im deutschen Krankenhauswesen für die Abrechnung der Behandlung somatischer Erkrankungen seit 2010 komplett eingeführten "Diagnosis related groups (DRG)" will auch die Schweiz ab 2012 flächendeckend ein Swiss-Fallpauschalen/DRG-System einführen.
Da ein Teil der Krankenhäuser bzw. Spitäler (2008: 33 mit All-Patient (AP)-DRG-System und weitere 61% nach dem etwas modifizierten Fallpauschalensystem Modell integrierter Patientenpfade MIPP) mit rund 1 Million PatientInnen bereits in den Jahren 2001 bis 2008 mit dem Fallpauschalensystem APDRG abrechnete und die dadadurch erzielten Effekte wissenschaftlich evaluiert wurden, gibt es bereits vor der breiten Einführung ein paar Hinweise darauf wie das DRG-System unter schweizerischen Rahmenbedingungen erwünscht oder unerwünscht wirken.

Dazu sagt der vom Schweizerischen Gesundheitsobservatorium (Obsan) erstellte und am 21. Juni 2011 veröffentlichte Bericht folgendes:

• Es gibt keinen besonderen DRG-Effekt auf die Dauer der Krankenhausaufenthalte. Die Liegezeiten gingen ähnlich wie in Deutschland in allen Krankenhäusern kontinuierlich von 8,7 Tagen im Jahr 2001 auf 7,4 Tage im Jahr 2008 zurück. In APDRG-Kliniken ging die Liegezeit nicht stärker zurück als in den Häusern, die erst 2012 mit DRG anfangen.
• Die Wahrscheinlichkeit, dass Patienten unter dem Druck von Fallpauschalen zu früh entlassen werden und danach häufiger zur weiteren Behandlung wieder stationär aufgenommen werden müssen, ist konstant geblieben. An den 10%, die bereits ohne DRG innerhalb eines Monats rehospitalisiert wurden, hat sich mit Wirkung von DRG nichts geändert.

Der Obsan-Bericht bestätigt damit einige der auch in Deutschland gemachten Erfahrungen und mit Routinedaten der GKV empirisch für weite Teile der DRG-Einführungszeit bestätigten Trends. Dies ist zunächst eine positive Zwischenbilanz.
Ob daraus aber der Schluss gezogen werden darf, das DRG-System habe bisher in der Schweiz "nicht zu Qualitätseinbussen geführt", ist fraglich. So sind die beiden untersuchten Indikatoren nicht die einzigen oder einzig wichtigen Qualititätsindikatoren. Außerdem hat die Obsan-Untersuchung nicht untersucht, ob es nicht doch zu späteren Rehospitalisierungen nach 2 oder 6 Monaten kommt oder wie hoch und eben evtl. höher als ohne DRG z.B. der Aufwand in Geld und Patientenleiden für diverse ambulante oder pflegerische Behandlungen aussah. Eine weitere Wirkung von DRGs könnte auch eine Veränderung des beruflichen Selbstverständnisses von stationär tätigen Pflegekräfte und Ärzte in Richtung einer Priorität ökonomischen Denkens und Handelns sein, die erst mittel- und langfristig Auswirkungen auf die Behandlungsqualität haben dürfte.

Dazu ob die beiden positive Effekte auch dann auftreten, wenn an sämtlichen Krankenhäusern in der Schweiz DRGs gelten, wollen die Verfasser seriöserweise keine Aussage riskieren. Und ob die gerade skizzierten etwas mittelbareren und auch nicht leicht zählbaren Effekte dann auftreten, wird die in der Schweiz mustergültig parallel zur Einführung institutionalisierte Begleitforschung systematisch erkunden müssen.

Den Obsan Bericht 49 zum Thema "Der Einfluss von APDRG auf Aufenthaltsdauer und Rehospitalisierungen
Auswirkungen von Fallpauschalen in Schweizer Spitälern zwischen 2001 und 2008"
von Marcel Widmer und France Weaver gibt es komplett kostenlos.

Bernard Braun, 7.7.11


Höhere Wiedereinweisungsraten ins Krankenhaus unter DRG-Bedingungen - Erste Beobachtungen von Wirkungen der Swiss-DRG

Artikel 1865 Um die Wirtschaftlichkeit der Krankenhausversorgung zu erhöhen und mehr Transparenz über die stationären Behandlungen zu erhalten - so die offiziellen Begründungen - sollen auch in der Schweiz ab 2012 die so genannten "Diagnosis related groups (DRG)" oder Fallpauschalen eingeführt werden. Ähnlich wie in Deutschland, dessen DRG-Systematik auch die Basis für das Swiss-DRG-System darstellt, gibt es auch in der Schweiz seit Jahren eine heftige Debatte über erwünschte und unerwünschte Effekte der DRG-Einführung auf Leistungserbringer, Versicherungsunternehmen und Krankenhauspatienten.

Anders als in Deutschland werden diese Effekte aber in der Schweiz bereits jetzt oder ab dem nächsten Jahr in mehreren Begleitforschungsprojekten einführungsbegleitend untersucht und können damit theoretisch so früh wie möglich identifiziert und verhindert werden.

Ferner bietet die Besonderheit, dass in einigen Kantonen und Kliniken bereits jetzt nach DRG klassifiziert und finanziert wird, die Möglichkeit, bereits vor der flächendeckenden Implementation bestimmte Vermutungen über DRG-Effekte durch einen Kantonsvergleich zu überprüfen.

Dies hat nun ein Forscherteam mit sehr hohem methodischen Aufwand bevölkerungsbezogen für den Zeitraum 2003-2007 getan und folgende Trends identifiziert:

• Zunächst wuchs die Anzahl der Kantone, in denen seit 2003 DRGs eingeführt wurden, von einem auf neun weitere. Die Anzahl der so genannten "health service areas" mit DRG-Vergütung wuchs von 8 im Jahr 2003 auf 26 im Jahr 2007. Entsprechend stieg der Anteil der unter DRG-Bedingungen stattfindenden Krankenhausfälle an allen Fällen von 8,3 % auf 29,8%.
• Die Honorierung mit DRGs führte in der Schweiz zu weniger Krankenhausfällen und zu einer Verlagerung der Ressourcen in den Bereich der ambulanten Versorgung. Dies führte u.a. auch zu einer besseren Kooperation von stationären und ambulanten Leistungserbringern durch die "integration of care pathways".
• Die in Prokopfausgaben ausgedrückte "burden of disease" unterschied sich zwischen dem alten Vergütungssystem und der DRG-Finanzierung während des gesamten Untersuchungszeitraums fast nicht. Die Befürchtungen, dass das DRG-System Anreiz bietet, die Schwere des Behandlungsfalles nach oben zu kodieren ("upcoding"), scheinen also zwischen 2003 und 2007 nicht substanziiert werden zu können.
• Ähnlich wie in Deutschland nahm die Liegezeit in Krankenhäusern auch bereits vor der DRG-Einführung beträchtlich ab. Es gibt also keinen ausschließlichen oder außerordentlich hohen Effekt der DRGs auf die Aufenthaltsdauer.
• Der einzige gewichtige Unterschied trat zwischen den verglichenen Kantonen bei der Rate der innerhalb 90 Tage nach einer Krankenhausentlassung erfolgten Wiedereinweisung ins Krankenhaus auf. Diese erfolgte in DRG-Krankenhäusern beträchtlich häufiger als in Nicht-DRG-Kliniken.

Da die Autoren sich selber auf Publikationen über die DRG-Einführung in Deutschland beziehen, wäre ihnen lediglich zu empfehlen, künftig auch sämtliche Erfahrungen und Ergebnisse der doch insgesamt überschaubaren DRG-Forschung nördlich des Bodensees zu berücksichtigen.

Der 16 Seiten umfassende Aufsatz "The implementation of DRG-based hospital reimbursement in Switzerland: A population-based perspective" von Andre Busato und Georg von Below ist in der Fachzeitschrift "Health Research Policy and Systems" (2010, 8:31; doi 10.1186/1478-4505-8-31) am 16. Oktober 2010 erschienen und komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 31.10.10


Finanzierung der GKV durch Prämien a la Schweiz!? Wie sich die Bundesregierung mit einer Tasse Kaffee eine Kommission sparen kann!

Artikel 1673 Wenn die frischgebackene Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Birgit Homburger, darauf besteht, die künftige Finanzierung der GKV durch die Einführung eines Prämiensystems "gerechter" zu machen und dies durch eine Regierungskommission untermauern will, könnte sie dies eigentlich wesentlich schneller und gemütlicher erreichen. Sie müsste bei einem Besuch in ihrem Wahlkreis Konstanz ihren Nachmittags-Kaffee nur mal in der angrenzenden Schweiz trinken und dort laut über die entsprechenden Passagen des CDU/CSU/FDP-Koalitionsvertrags reden. Schon ihre Bedienung wird ihr dann in Fränkli und Räppli genau darlegen, dass es sich um kein problemloses Finanzierungsmodell handelt, sondern das Gegenteil der Fall ist.

In der Schweiz gibt es seit 1996 die so genannte obligatorische Grundsicherung oder Krankenpflegeversicherung. Sie muss von den zur Zeit 94 anerkannten privatwirtschaftlichen Versicherungsunternehmen allen Personen, die ihren Wohnsitz im Tätigkeitsgebiet der Kasse haben, unabhängig von Alter, Aufenthaltsbewilligung und Gesundheitszustand ohne Vorbehalte und Karenzfristen angeboten werden. Die Versicherung wird durch eine einkommensunabhängige Kopfpauschale/-prämie bezahlt, die nicht nur erwerbstätige Erwachsene, sondern auch deren Kinder und nichterwerbstätige Familienangehörige zu zahlen haben. Die potenziellen Belastungen für kinderreiche Familien oder Menschen mit "bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen" wurden beim Einstieg in die Prämienversicherung zwar gesehen, aber durch staatliche Zuschüsse für beherrschbar gehalten.

Die aktuellen Entwicklungen in der Schweiz schüren allerdings massive Zweifel am Nutzen oder gar der Überlegenheit dieses Modells gegenüber dem "guten, alten" GKV-Umlagesystem der deutschen GKV. Auf die Schweizer Prämien-Krankenversicherten kommen nämlich im kommenden Jahr deutlich höhere Gesundheitskosten zu. Die Prämien für die obligatorische Krankenversicherung steigen 2010 im Durchschnitt um 8,7 Prozent. Je nach Kanton schwanken die Steigerungsraten zwischen 3,6 und 14,6 Prozent. Noch stärker steigen die Prämien für Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre, nämlich um im Schnitt zehn Prozent. Für junge Erwachsene zwischen 18 und 26 Jahren legen sie sogar um 13,7 Prozent zu. Dies beruht im Übrigen nicht auf einer Erkrankungswelle, sondern auf einer gut-marktwirtschaftlich möglichen Senkung der Rabatte für diese Altersgruppe durch die Versicherungsunternehmen.

In absoluten Beträgen ausgedrückt, steigt die Durchschnittsprämie für Erwachsene von knapp 323 Franken (214 Euro) pro Monat auf 351 Franken (232 Euro). Für Kinder nimmt die Prämie von 76 auf 84 (55 Euro) und bei jungen Erwachsenen von 258 auf 293 Franken (194 Euro) zu. Zu beachten ist, dass es sich hierbei bereits um subventionierte Prämien handelt. Den Versicherungsunternehmen ist nämlich vorgeschrieben Versicherungspolicen für Kinder auf diese Weise zu verbilligen, was aktuell auch zu einer Art Sockelverbilligung um 75 Prozent führt. Wie bereits gesehen, ist dieser Sockel aber durchaus beweglich. Weil selbst die subventionierten Prämien in kinderreichen Familien zu hoch sind und außerdem auch in der Schweiz arme Personen leben, führt die Regierung seit Beginn der Prämienversicherung Programme zur Prämienverbilligung durch. Von diesen profitierten bereits 1996 23% der versicherten Kinder. Ihr Anteil ist 2009 auf 38% gestiegen.

Letzteres deutet auch schon an, dass das Prämiensystem eigentlich von Beginn an systematische Mängel und kontinuierlich unerwünschte Effekte hatte:

• Fester Bestandteil der obligatorischen Grundsicherung war von Beginn an eine für jede Person über 18 Jahren (Kinder zahlen keine Franchise) ebenfalls obligatorische Selbstbeteiligung oder Franchise von 300 Franken. Diese Selbstbeteiligung kann gegen sinkende Prämien bei Erwachsenen auf maximal 2.500 Franken und bei Kindern auf maximal 600 Franken erhöht werden.
• Gespart werden kann auch noch ein Bonusmodell. Mit ihm wird die Prämie mit jedem Jahr gesenkt, in dem keine Rechnung zur Vergütung eingereicht wird. Selbst das offizielle Merkblatt, in dem dieses Modell vorgestellt wird, heißt es: "Achtung: Die Ausgangsprämie ist 10% höher als die ordentliche Prämie und die Franchise kann nicht erhöht werden. Die Prämie kann aber innerhalb von 5 Jahren auf die Hälfte der Ausgangsprämie sinken. Schliessen Sie eine solche Versicherung nur ab, wenn Sie selten bis nie in ärztlicher Behandlung sind. Lassen Sie sich jedoch nicht dazu verleiten, den Arzt/die Ärztin nicht oder zu spät aufzusuchen, nur um Kosten zu sparen."
• Zur kompletten oder verminderten Prämie kommen aber noch zwei nicht wählbare Pflicht-Selbstbeteiligungen hinzu: ein Selbstbehalt und ein Spitalbeitrag. Der Selbstbehalt beträgt 10% der die Franchise übersteigenden Kosten, ausgenommen für die Originalpräparate, die durch Generika austauschbar sind (20%). Grundsätzlich beläuft sich der Selbstbehalt maximal auf 700 Franken pro Jahr (Kinder 350 Franken). Der Spitalbeitrag beträgt 10 Franken pro Spitaltag für Personen, die nicht mit einem Familienmitglied in einem Haushalt leben, für welches sie unterhalts- oder unterstützungspflichtig sind.
• Zwischen 1996 und 2003 stiegen die Prämien jährlich um 6,5%, also um wesentlich höhere Prozentbeträge als etwa die GKV.
• Seit 2003 flachte die Steigerungsrate etwas ab, war aber immer noch höher als im Umlagesystem der GKV.
• Das staatliche Unterstützungsprogramm kostet mittlerweile jährlich rund 2,2 Mrd. Euro.
• Der auch jetzt noch oft empfohlenen Lösung, dem Prämien-Kostendruck durch die entsprechende Wahl der Krankenkasse mit alternativen rabattierten Versicherungsmodellen zu entkommen - z.B. mit freiwilliger Einschränkung der Arzt- und Spitalwahl oder der Erhöhung der eigenen Kostenbeteiligung (Franchise) - wird durch eine subtile Begleitreform graduell der Boden entzogen. Der Rabatt für höhere Franchisen wird 2010 nämlich gesenkt: Von 80 auf 70 Prozent der Differenz zwischen den Grundprämien von 300 Franken und der gewählten Franchise. Wer beispielsweise 2009 bei einer Franchise von 1000 Franken noch 560 Franken pro Jahr gespart hat, profitiert 2010 nur noch von einem Rabatt von 490 Franken pro Jahr.
• Am 22.9.2009 teilte Santésuisse, der Verband der Schweizer Krankenversicherer, in einem "Communiqué" unter der Überschrift "Spitalkosten ausser Kontrolle" außerdem u.a. mit: "Der Kostenanstieg 2008 pro versicherte Person … in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung liegt mit 5,4 % über dem Vorjahreswert von 3,8 %." Welche Leistungsbereiche hier treibend und hemmend beteiligt sind, ist nicht nur für Frau Homburger lesenswert. Ohne dass die Ausgabenentwicklung in der GKV glorifiziert werden soll oder vergessen werden darf, dass diese teilweise durch die zunehmende Privatisierung von vorherigen GKV-Leistungen "erkauft" wurde, liegt sie seit viel Jahren immer unter dem Niveau der Schweizer Prämienversicherung oder der deutschen PKV.

Der sarkastischen Empfehlung in der Ärzte Zeitung vom 6.11.2009, dass demjenigen, der "Risiken und Nebenwirkungen von Prämienkonzepten kennenlernen will - die Schweiz … eine Reise wert" sein sollte, ist in jedem Fall zuzustimmen. Etwas einfacher können es aber Frau Homburger und Internetnutzer haben.

Alle Informationen über das System und die Entwicklungen der obligatorischen Prämienkrankenversicherung in der Schweiz kann man über die angegebene Website finden und noch weiter anreichern.

Und für diejenigen, welche die aktuelle kritische Darstellung solcher Wirkungen reflexartig für übertrieben oder voreilig halten, sei die Lektüre von Thomas Gerlingers Auseinandersetzung mit demselben Schweizer Prämienmodell aus dem Jahre 2003 wärmstens empfohlen. Das WZB-Diskussionspapier "Das Schweizer Modell der Krankenversicherung. Zu den Auswirkungen der Reform von 1996" gibt es nach wie vor kostenlos.

Einige Kerngedanken sind enorm aktuell: "Das mit der Krankenversicherungsreform 1996 in der Schweiz geschaffene System stößt in der deutschen Gesundheitsreformdebatte auf große Aufmerksamkeit. Die vorliegende Untersuchung zeichnet die wichtigsten Merkmale des Schweizer Modells nach und fragt, inwiefern die mit der Reform verfolgten Ziele erreicht worden sind. Dabei wird deutlich, dass die Bilanz überwiegend negativ ausfällt. … Insbesondere für sozial Schwache, aber auch für Versicherte mit Einkommen knapp oberhalb der staatlichen Subventionsgrenze können sehr hohe finanzielle Belastungen entstehen. … Auch das Ziel der Ausgabendämpfung ist klar verfehlt worden, weist die Schweiz doch anhaltend hohe Steigerungsraten bei den Gesundheitsausgaben und insbesondere bei den Kopfprämien auf. Offenkundig hat der hohe Stellenwert der individuellen Kostenbeteiligung nicht zu einer Begrenzung der Krankenversicherungsausgaben geführt, sondern geht mit hohen Ausgabensteigerungen einher. Diese wiederum sind vor allem auf fortbestehende Strukturprobleme im Finanzierungs- und Versorgungssystem zurückzuführen."

Bernard Braun, 21.11.09


Blick über den Bodensee: Vor- oder Schreckensbild? Daten über das Schweizer Gesundheitssystem.

Artikel 1563 Neben den Niederlanden gehört die Schweiz zu den Ländern, deren Gesundheitssystem von vielen Angehörigen aller Reformlager in der Bundesrepublik Deutschland seit Jahrzehnten als Vorbild oder zumindest als "Reformsteinbruch" empfohlen wird. Der Empfehlung sich "doch mal in der Schweiz umzuschauen" steht bei Verbreitern wie Empfängern meist relativ wenig tatsächliches Wissen über die wichtigsten Aspekte und Kenngrößen in unserem Nachbarland gegenüber. Die generelle Empfehlung für Anfänger in der vergleichenden Gesundheitsystemanalyse, sich vor dem "learn from" um das "learn about" zu bemühen, kann auch für den einfachen Blick über den Bodensee nur nachdrücklich unterstrichen werden.

Wer dies mit Schweizer Datenquellen versuchen will, sei auf zwei aktuelle Portale hingewiesen:
Zum ersten handelt es sich um das "Schweizerische Gesundheitsobservatorium", dessen aktuelle Indikatorenliste die Bereiche

• Demographie und sozioökonomische Merkmale (z.B. die Höhe der Prämien für die obligatorische Krankenversicherung, die von 1997 bis 2007 durchschnittlich um 5,3% pro Jahr steigen),
• Gesundheitszustand (z.B. die selbst wahrgenommene Gesundheit, mit der international interessanten Erkenntnis, "dass die Schweizer Wohnbevölkerung ihre Gesundheit wesentlich besser einschätzt als andere europäische Bevölkerungen" und alters- und sozialspezifisch differenzierten Auswertungen),
• Determinanten der Gesundheit (z.B. Übersicht zu körperlichen Aktivitäten im Alltag und in der Freizeit),
• Umweltverhältnisse (z.B. Belastungen durch Lärm der Nachbarn),
• Ressourcen des Gesundheitswesens und deren Nutzung (z.B. Bettendichte in allgemeinen Krankenhäusern und Spezialkliniken, ohne Kliniken für Psychiatrie, Rehabilitation und Geriatrie pro 1000 Einwohner oder Durchschnittliche Aufenthaltsdauer in allgemeinen Krankenhäusern und Spezialkliniken, ohne Kliniken für Psychiatrie, Rehabilitation und Geriatrie (bezogen auf AP-DRG)),
• Inanspruchnahme der Einrichtungen des Gesundheitswesens (z.B. Hospitalisationsrate in Krankenhäusern und Betreuungsrate in sozialmedizinischen Institutionen oder Anzahl Hausarztkonsultationen pro Einwohner und Jahr),
• Gesundheitsausgaben (z.B. Betriebskosten pro Einwohner in allgemeinen Krankenhäusern und Spezialkliniken, ohne Kliniken für Psychiatrie, Rehabilitation und Geriatrie) und schließlich noch
• Spezialthemen (z.B. Stationäre psychiatrische Behandlungen oder Herzkreislaufkrankheiten) umfasst.

Jeder der Bereiche und seine einzelnen Themen sind verlinkt zu Datenübersichten aus der schweizerischen Gesundheitsstatistik, in denen wiederum Literaturverweise und Links zu weiteren Datenbeständen enthalten sind.

Zusätzlich erhält man über die Website des "Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums Zugang zu speziellen Gesundheitsberichten und zu einem "Inventar der Gesundheitsdatenbanken" über das auch der direkte Zugang zu speziellen Datenbanken möglich ist.
Dabei handelt es sich etwa um eine Datenbank zum "Gesundheitsverhalten von Schulkindern - eine international vergleichende Trendstudie (Health Behaviour in School-Aged Children, HBSC)", die "Schweizerische HIV Kohortenstudie (Swiss HIV Cohort Study, SHCS)" oder "NURSING data (Daten über die Pflege)".

Der Zugang zum "Schweizerischen Gesundheitsobservatorium" ist frei und kostenlos.

Wer sich noch differenzierter für die schweizerische obligatorische Krankenversicherung interessiert, findet entsprechende statistische Übersichten zur Kostenentwicklung in der Form langer Reihen beim "Bundesamt für Gesundheit" der Schweiz. Die Übersichten sind in der Regel bis hin zu Ausgabenarten, nach Kantonen und nach absoluten Beträgen und Veränderungsraten differenziert. Ihre Nutzung ist ebenfalls kostenlos möglich.

Wer schließlich nicht allzu tiefschürfende und differenzierte Interessen an Wissen hat, kann sich einen groben Überblick auch mit der achtseitigen und jährlich erscheinenden (aktuell Ausgabe 2009) "Gesundheitsstatistik" des "Bundesamts für Statistik" der Schweiz verschaffen, die ebenfalls kostenlos erhältlich ist.

Ein schon etwas älteres, kostenlos als PDF-Datei erhältliches Arbeitspapier von Thomas Gerlinger (früher WZB, aktuell Universität Frankfurt) über "Das Schweizer Modell der Krankenversicherung. Zu den Auswirkungen der Reform von 1996" (WZB-Arbeitspapier Bestell-Nr. SP I 2003-301) aus dem Jahr 2003 zeigt, welche Erkenntnisse man u.a. durch die gründliche Lektüre offizieller Statistiken gewinnen kann. Ein Vergleich mit den wichtigsten aktuellen Trends bestätigt außerdem die Stimmigkeit der Darstellungen und Schlussfolgerungen Gerlingers u.a. über die "Schattenseiten" des Schweizer Finanzierungssystem.

Bernard Braun, 21.5.09


Art, Umfang und Befreiung von Selbstbeteiligungen in den USA, Frankreich, Deutschland und der Schweiz im Jahr 2006

Artikel 1463 Mit dem ausdrücklichem Hinweis versehen, die Ergebnisse könnten den erwarteten künftigen Debatten der us-amerikanischen Politiker über eine grundlegende Reform des US-Gesundheitssystems nutzen, veröffentlichte der liberale Think Tank "Kaiser Family Foundation (KFF)" im Januar 2009 einen kurzen empirischen Vergleich der Kostenbeteiligungs-, Zuzahlungs- und Befreiungssysteme in den USA, Frankreichs, Deutschlands und der Schweiz.

Nach einer kurzen und prägnanten Darstellung der Besonderheiten der Krankenversicherungssysteme der Länder und gestützt auf die für diese Länder komplett vorhandenen und vergleichbaren Daten der OECD für das Jahr 2006 zeigt der Vergleich eine Reihe interessanter Strukturen und empirischer Eckdaten:

• Zunächst weisen die Autoren auf den zwischen einzelnen OECD-Ländern sehr unterschiedlichen Anteil der "out-of-pocket payments" pro Haushalt an den gesamten Gesundheitsausgaben hin: Er betrug in Luxemburg 6,5 %, in Frankreich 6,7 %, den USA 12,8 %, in Deutschland 13,2 % und in der Schweiz 30,3 %.

• Der Anteil der außerhalb ihrer Versicherungsprämien oder Beiträgen gezahlten Beteiligungen von Versicherten an den Gesundheitskosten an den Gesamtausgaben eines Haushalts hatte 2006 in Frankreich einen Umfang von 1,3 % in Frankreich, 2,4 % in Deutschland, 6 % in der Schweiz und 2,8 % in den USA.

• Pro Kopf bedeutete dies im selben Jahr 232 $ in Frankreich, 445 $ in Deutschland, 1.305 $ in der Schweiz und 857 $ in den USA.

• Für Erwachsene mit irgendeiner chronischen Erkrankung fand eine Studie eines anderen US-Think Tanks, des Commonwealth Fund vor kurzem heraus, dass der Anteil mit Selbstbeteiligungen unter 500 $ in Frankreich 48 %, in Deutschland 57 % und in den USA 31 % betrug. Umgekehrt belief sich der Anteil von Versicherten mit einer Selbstbeteiligung von über 1.000 $ auf 5 % in Frankreich, 13 % in Deutschland und 41 % in den USA. Bemerkenswert ist in dieser Studie, dass 44 % der antwortenden Franzosen die Höhe ihrer Zuzahlungen nicht einschätzen konnten.

• Der Anteil der Selbstbeteiligungssumme in Haushalten an sämtlichen Gesundheitsausgaben sank nach der KFF-Studie in Frankreich von 30,3 % in 1960 über 17,6 % 1970, 12,8 % in 1980, 11,4 % in 1990, 7,1 % in 2000 auf 6,6 % im Jahr 2006.

• In Deutschland veränderte sich dieser Wert im selben Zeitraum wenig und betrug in denselben Jahren 13,9 %, 10,3 %, 11,1 %, 11,2 % und 13,2 %. Ähnlich stabil sah es in der Schweiz aus, in der dieser Wert 1985 37,6 %, 35,7 % 1990, 33 % 1995, 31,4 % in 1996, 32,9 % in 1990 und 30,3 % in 2006 betrug.

• In allen Ländern gibt es unterschiedlich ansetzende Programme und Ansatzpunkte für die völlige oder teilweise Befreiung von den Zuzahlen. In Frankreich betrifft dies 2006 z. B. 6,8 % der Versicherten wegen einer schweren Erkrankung. In Deutschland kann man die Belastung durch Selbstbeteiligungen mit privaten Versicherungen abmildern. Diese Chance gibt es interessanterweise in der Schweiz nicht.

Angereichert werden die bisher referierten Informationen noch mit kurzen Darstellungen darüber, in welchen Leistungsbereichen in den vier oder drei Ländern welche Selbstbeteiligungen bezahlt werden müssen und wie die Befreiiungsmöglichkeiten funktionieren.

Der 25 Seiten umfassende Report "Cost Sharing for Health Care: France, Germany, and Switzerland" von Janet Lundy und Benjamin D. Finder aus dem "Health Care Marketplace Project" der Stiftung ist kostenlos erhältlich.

Die im November 2008 erschienen Ergebnisse des "2008 International Health Policy Survey in eight countries" von Cathy Schoen und Robin Osborne kann man in kompaktester Form im kostenlos erhältlichen Chartpack der weltweiten Befragung nachlesen und vertiefen.

Bernard Braun, 13.1.09


Wie weit ist die Theorie von "choice and price competition" auf Gesundheitsmärkten von der Wirklichkeit entfernt? Die Schweiz!

Artikel 1394 Wahlmöglichkeiten oder -freiheiten in Märkten, auf denen Krankenversicherungen agieren, sind eine zweiseitige oder gar zweischneidige Angelegenheit: Auf der einen Seite suggeriert die ökonomische Theorie, dass dann, wenn es mehrere konkurrierende Versicherer oder Versicherungsangebote gibt, die Versicherungsprämien niedriger sind und der Markt effizienter funktioniert. Außerdem hätten Konsumenten dann eine bessere Chance Angebote zu finden, die ihren Präferenzen entsprechen, wenn Versicherungen in der Lage sind unterschiedliche Leistungspakete anzubieten. Andererseits drohten Konsumenten dann, wenn die Wahlmöglichkeiten zunehmen von ihnen überwältigt zu werden und nicht mehr in der Lage zu sein, das preisgünstigste und bedarfsgerechteste Angebot zu finden. Insgesamt drohen Fehlentscheidungen bei der Wahl einer Krankenversicherung, die weitreichende negative Folgen für den einzelnen Versicherten und den Anbieter haben.

Wenn sich also Versicherungsanbieter und Versicherungsleistungen im Krankenversicherungsbereich differenzieren, steht nicht unbedingt oder automatisch fest, ob es sich dabei um eine positive oder negative Entwicklung handelt.

Umso wichtiger sind empirische Untersuchungen von realen Versicherungs-Märkten und den dort erkennbaren Entwicklungen. Wenn es solche Analysen überhaupt gibt, sind es zumeist Fallstudien aus einzelnen Ländern oder sogar nur Teilen ihres Krankenversicherungsgeschehens. Auch wenn die damit gewonnenen Erkenntnisse nicht repräsentativ sind, sind diese aussagefähiger oder wirklichkeitsnäher als die platonischen und apodiktischen Aussagen vieler ökonomischer Modelle.

Da auch im deutschen Krankenversicherungsmarkt seit 1993 Wahlfreiheiten bestehen, die durch die seit kurzem bestehenden Möglichkeiten selektiver Verträge und Wahltarife nochmals wesentlich in Richtung eines "Tarifdschungels" - so die eher skeptische Bewertung der Entwicklung - erweitert werden, besteht auch hierzulande ein gesteigertes Interesse, mehr über den Nutzen oder die unerwünschten Effekte von Wahlfreiheiten zu erfahren.

Dies wird durch die Ergebnisse einer Studie befriedigt, welche die US-Ökonomen Richard Frank und Karine Lamiraud unter dem Titel "Choice, Price Competition and Complexity in Markets for Health Insurance" als Working Paper 13817 des US-"National Bureau of Economic Research (NBER)" im Februar 2008 veröffentlicht haben. Sie untersuchen darin die Empirie und den Wert der Wahlmöglichkeiten in Krankenversicherungsmärkten am Beispiel der Schweiz.

Kurz dargestellt sieht der Krankenversicherungsmarkt in der Schweiz zum Zeitpunkt der NBER-Untersuchung so aus. Er ist auf der Ebene von Kantonen organisiert. Versicherer bieten dort ein weitgehend standardisiertes, umfassendes Leistungspaket an, das ambulante, stationäre und Pflegeleistungen umfasst. Jeder Versicherer setzt seinen eigenen Beitragssatz fest, der für alle Individuen derselben Altersgruppe im betreffenden Kanton gleich sein muss und auch für künftige Versicherte gelten muss. Alle BürgerInnen sind versicherungspflichtig und hatten in der Untersuchungszeit die Wahl zwischen rund 30 Versicherungsplänen oder -paketen. Die Versicherten können ihre Versicherung unaufwändig in der jährlichen Wahl- oder Wechselperiode wechseln. Preisinformation sind umfassend und verständlich erhältlich und ein Versicherungswechsel beeinträchtigt normalerweise in keiner Weise den Zugang des Wechslers zu einzelnen Ärzten.

Dies alles vorausgesetzt, wäre für den Schweizer Krankenversicherungsmarkt eigentlich ein aktiver Preiswettbewerb zu erwarten. Das Gegenteil trifft aber zu: Der Markt ist durch große und sich hartnäckig erhaltenden Preisunterschiede zwischen den Angeboten/Anbietern geprägt. Im Jahre 2004 hätte ein Wechsel zwischen dem billigsten und teuersten Krankenversicherer eine Beitragsdifferenz von nahezu 20 % erbracht. In einem Kanton betrug dieser Unterschied sogar 80% des durchschnittlichen Beitrages. Noch unerwarteter: Die Wechselrate war sehr gering, nämlich rund 3 % pro Jahr.

Was erklärt nun diese großen Beitragsunterschiede und die gleichzeitig geringe Wechselrate?

• Eine der möglichen Standarderklärungen der ökonomischen Theorie, hohe Such- und Wechselkosten, spielen nach Meinung der Autoren in der Schweiz keine wesentliche Rolle.
• Eine wesentliche plausiblere Erklärung liegt dagegen mit Erkenntnissen der neueren Forschung zum menschlichen Verhalten in ökonomischen Kontexten vor. Diese Forschung hat nachgewiesen, dass dann, wenn komplexe ökonomische Entscheidungen von weitreichender Bedeutung gefällt werden müssen, ein Zustand der Wissensüberfülle bzw. -überforderung ("cognitive overload") eintreten kann und Ängste vor falschen Entscheidungen auftreten. Beide Faktoren zusammen können zu einer Zurückhaltung vor Entscheidungen führen und damit zur "Wahl" des Status quo. Dieses Entscheidungs- bzw. Nichtentscheidungsverhalten geht u.a. mit einer Unterschätzung der Gewinne und einer Überschätzung der Verluste einher, die mit einem Versicherungswechsel verbunden gesehen werden.

Ob diese Erklärung auch für das tatsächliche Geschehen in der Schweiz zutrifft, untersuchen die Autoren auf der Basis einer Haushaltsbefragung zum Wechselgeschehen in den Jahren 1997-2000 und Informationen der Versicherer über ihre Angebote.
Die Wissenschaftler entdeckten dabei, dass Wechselraten vor allem und ausgerechnet dann konsistent niedriger sind, wenn die Versicherten mehr Wahlmöglichkeiten besitzen. Dies gilt selbst dann, wenn die Versicherten mit ihrem aktuellen Versicherungsunternehmen unzufrieden waren. Diese Ergebnisse unterstreichen nachdrücklich die praktische Relevanz der "decision overload theory". Die daneben ebenfalls bestehende Bedeutung von Preisunterschieden für das Wechselverhalten zeigt sich darin, dass im beschriebenen Rahmen mehr gewechselt wurde, wenn die Preisunterschiede zunahmen.

Die Autoren zeigen, dass Wechsler ihre Beiträge im Vergleich zu den Kassenverbleibern um durchschnittlich 16 % verringerten. Dies heißt aber, dass viele Versicherte durch ihren Nichtwechsel "leave money on the table" - und zwar nicht zu wenig.

Wenn der Preis aber offensichtlich für viele Schweizer BürgerInnen nicht der wichtigste entscheidungssteuernde Faktor ist, stellt sich die Frage was dann schwerer wiegt?

• Die Möglichkeit von Qualitätsunterschieden verwerfen die Autoren unter Hinweis auf die gewollt minimalen Qualitätsunterschieden im schweizerischen Versicherungsmarkt.
• Eine ähnlich geringe Rolle spielt danach die Erwartung, dass ein Versicherungsunternehmen dauerhaft im Markt präsent ist (angesichts der Insolvenz einiger Unternehmen in der Vergangenheit ein denkbarer Faktor).
• Ein weiterer entscheidungssteuernder Faktor könnte der Wunsch sein, sich ähnlich wie eine bekannte Personengruppe zu verhalten. Dafür spricht die Tatsache, dass 40 % der Haushalte sagten, sie träfen ihre Entscheidung auf der Basis der Entscheidungen und Empfehlungen von Angehörigen oder Freunden oder aus Tradition.
• Schließlich könnte auch die Größe des bisherigen Versicherers eine Rolle spielen: Nichtwechsler finden sich eher in großen nationalen Versicherungsunternehmen.

Die US-Ökonomen ziehen aus diesen empirischen Resultaten zwei Schlussfolgerungen. Erstens und etwas allgemeiner: "One implication of these results is that expanding choice to very large numbers is likely to reduce the effectiveness of consumer decision-making which may in turn result in larger markups by health insurers." Zweitens auf den Zuwachs der Wahlmöglichkeiten im US-Versicherungsmarkt bezogen: "At a moment in history when elderly Americans are facing large numbers of choices in private health plans and prescription drug plans our findings may offer some cautions regarding the need for decision support and mechanisms that simplify such health insurance choices."

Obwohl die Autoren also empirisch eine Fülle von strukturell wirkenden Hindernisse für eine Steuerung durch Wahlfreiheiten auf komplexen Versicherungsmärkten liefern, halten auch sie nach dem Motto "die Hoffnung stirbt zuletzt" verwunderlicherweise an der scheinbar uneingeschränkten Machbarkeit oder Funktionsfähigkeit der Wahlfreiheit und des Preiswettbewerbs fest oder glauben, durch technische und organisatorische Detailkorrekturen die offensichtlich hemmenden Bedingungen korrigieren zu können.

Gerade auf der Basis der Erkenntnisse ihrer Fallstudie müssen sich Frank und Lamiraud die Frage gefallen lassen: Wie oft muss sich eigentlich ein ökonomisches Modell empirisch als nicht funktionierend oder gescheitert erweisen bevor es selbst für gescheitert gilt?

Von der Studie "Choice, Price Competition and Complexity in Markets for Health Insurance" gibt es kostenlos nur ein Abstract im "NBER Bulletin on Aging and Health", Heft 2 2008.

Wer die komplette Studie lesen will, der kann sie als PDF-Datei durch die Onlinezahlung von 5 US-$ über das "Social Science Research Network" elektronisch beziehen.

Wer außerdem wissen will, wie das GKV-System der Kassenwahlfreiheit funktioniert bzw. welche massiven Wechselbarrieren es hierzulande gibt, findet einige interessante Erkenntnisse in der bereits im Forum-Gesundheitspolitik vorgestellten Studie von Wissenschaftlern des Zentrums für Sozialpolitik (ZeS) der Universität Bremen und der Universität Duisburg-Essen (Braun, Greß, Rothgang, Wasem).

Bernard Braun, 12.11.08


Bericht zeigt: Im Schweizer Gesundheitswesen gibt es seit Jahren eine heimliche Rationierung medizinischer Leistungen

Artikel 0884 Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat jetzt einen knapp 100seitigen Bericht vorgelegt, in dem das Problem der Rationierung medizinischer Leistungen im Schweizer Gesundheitswesen umfassend erörtert wird. Dargestellt werden auch Ergebnisse mehrerer Forschungsstudien, die zeigen, dass seit Jahren medizinische Leistungen aus Kostengründen nicht durchgeführt werden. Gefordert wird eine offene Diskussion, anstelle einer Ausblendung der ungelösten, aber immer drängenderen Fragen, die sich aufgrund der begrenzten finanziellen Ressourcen, der steigender Kosten und des medizinischen Fortschritts ergebeben. Der Präsident der SAMW, Peter Suter, ruft zur Debatte auf: "Politik, Gesellschaft und Gesundheitsfachleute müssen anerkennen, dass Beschränkungen im Gesundheitswesen existieren und unvermeidlich sind. Das muss endlich offen diskutiert werden." Die Schweizer Mediziner plädieren in ihrem Bericht für eine Legitimitation der Rationierung, allerdings nach Diskussion und Offenlegung der verwendeten sozialen, ethischen und medizinischen Kriterien.

Fortschritte in der medizinischen Forschung ermöglichen immer bessere Behandlungsmöglichkeiten, die aber auch immer mehr Geld kosten. Andererseits stünden Ärzte und Pfleger unter dem finanziellen Druck, Gesundheitskosten nicht weiter ansteigen zu lassen, sagte Jacques de Haller, Präsident der Ärztevereinigung FMH gestern vor der Presse. Nicht alles medizinisch Wünschbare sei auch machbar. Da die Rationierung insbesondere ältere und sozial benachteiligte Patienten stärker als andere trifft, seien auch aus ethischen Überlegungen verbindliche Richtlinien zur Rationierung nötig, erklärte die Genfer Bioethikerin Samira Hurst, Mitautorin des SAMW-Berichts. Barbara Gassmann, Vizepräsidentin des Berufsverbands der Pflegefachfrauen und -männer, schilderte auf der Pressekonferenz ein Beispiel aus einem Pflegeheim: Angehörige mussten Pflegeleistungen für ihre kranken Verwandten organisieren und bezahlen. Das Pflegepersonal habe nicht die Zeit, der Kranken jeden Tag eine Stunde lang die Nahrung einzuflößen.

Der Bericht referiert mehrere Studien, die den fortschreitenden Prozess der Leistungsrationierung in der Schweiz belegen:
• Eine Studie hat im Bereich der Pflege indirekte Rationierungseffekte ausgemacht: Dabei geht es um Maßnahmen, die von Pflegefachpersonen nicht durchgeführt wurden, obwohl sie notwendig und nützlich gewesen wären. Ursachen waren fehlende zeitliche, fachliche oder personelle Ressourcen in Pflegeteams.

• In einer Studie mit Vergleichen zwischen europäischen Ländern fand man, dass Schweizer Ärzte öfter das Gefühl klinische Rationierung artikulieren als ihre italienischen, norwegischen und britischen Kollegen. 68% der Schweizer Internisten und Allgemeinmediziner gaben an, aus Kostengründen schon Eingriffe verzichtet zu haben, die prinzipiell im Interesse der Patienten gewesen wären. Die von den befragten Ärzten in diesem Zusammenhang am häufigsten genannten Leistungen waren Magnetresonanztomographie, Screeningtests, diagnostische Labortests und das Verordnen rezeptpflichtiger Medikamente.

• Eine weitere Studie erhob bei Ärzten der Grundversorgung, Spitalfachärzten und -verwaltern sowie Patienten Angaben dazu, welche Bereiche der medizinischen Versorgung als schwer zugänglich bezeichnet werden. Es zeigte sich, dass dies die Psychiatrie, Rehabilitation sowie Langzeitversorgung und -betreuung chronisch Kranker betrifft. Gut die Hälfte der ?"rzte war der Meinung, dass diese Zugangsprobleme negative Auswirkungen auf die Gesundheit hätten. Bei den Medizinern in der Psychiatrie waren sogar über 80% dieser Meinung. Als Patientengruppen, die am häufigsten von Rationierung betroffen sind wurden genannt: Ältere, Personen ohne ausreichende Krankenversicherung und Personen mit psychischen Erkrankungen.

"Anstatt das Thema Rationierung zu verdrängen oder für den politischen Schlagabtausch zu verwenden, sollten sich die Verantwortungsträger des Gesundheitssystems offen damit auseinander setzen - und so dafür sorgen, dass das Vertrauen der Bevölkerung in unsere qualitativ hoch stehende, allen zugängliche Gesundheitsversorgung weiterhin gerechtfertigt ist", heißt es in dem Bericht.

• Langfassung (8.5 MB) des Berichts Projekts "Zukunft Medizin Schweiz", Phase III. Rationierung im Schweizer Gesundheitswesen: Einschätzung und Empfehlungen
Kurzfassung (12 Seiten)
• Die Website der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften mit Infos zum Projekt "Zukunft Medizin Schweiz"

Gerd Marstedt, 29.8.2007


Schweizer Hausärzte befürworten mehrheitlich die Einheitskrankenkasse

Artikel 0507 55 Prozent der in der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SGAM) zusammengeschlossenen Hausärztinnen und Hausärzte sind für die zukünftige Einführung einer Einheitskrankenkasse. Zur Frage, ob die derzeit 87 Krankenkassen durch eine einzige Kasse ersetzt werden sollen, stimmen die Schweizer Bürger aufgrund einer Volksinitiative am 11.März 2007 ab. Eine interne Umfrage des SGAM-Vorstandes bei seiner Basis im Dezember 2006, an der sich über 1200 Mitglieder (rund 30 Prozent) beteiligten, hat jetzt diese überraschende Position der Allgemeinärzte gezeigt. In der Deutschschweiz halten sich Befürworter und Gegner die Waage, während die Westschweizer der Einheitskasse mehrheitlich zustimmen, was auf nationaler Ebene zu einem Ja-Stimmen-Anteil von 55 Prozent geführt hat.

Zuvor hatten die Hausärzte in der gleichen internen Erhebung die Frage zu beantworten, ob die SGAM überhaupt mit einer Stellungnahme an die Öffentlichkeit treten soll, was von über 80 Prozent der antwortenden Hausärzte bejaht wurde. Inhaltlich argumentieren Befürworter und Gegner primär aus der speziellen Perspektive ihres Berufes. Die Sorge um den Erhalt der Hausarztmedizin steht dabei bei allen im Vordergrund und ist auf beiden Seiten die Basis ihrer Argumentation. Die Befürworter der Einheitskasse argumentieren in erster Linie mit ihren langjährigen Erfahrungen im Umgang mit den Krankenkassen. Sie befürchten bei einer Ablehnung weitere Einschränkungen ihrer Therapiefreiheit, noch stärkere Eingriffe in die hausärztliche Tätigkeit und ganz generell eine weitere Zunahme des politischen Einflusses der Krankenkassen (z. B. Verbreitung falscher, irreführender Hausarztmodelle, Ablehnung griffiger Anreizsysteme für Managed-Care-Modelle). Ausserdem kritisieren die Befürworter die unethische und unsolidarische "Jagd nach guten Risiken" auf Seiten der einzelnen Krankenkassen , was die Solidargemeinschaft der Gesellschaft ernsthaft in Frage stelle, zumal sich die Krankenkassen nie ernsthaft um einen echten Risikoausgleich bemüht haben. Auch würde die Gesundheit dadurch zu einem handelbaren Gut degradiert. Bei einer Einheitskasse würden Behörden, Leistungserbringer und Versicherer auf einer gleichberechtigten Ebene entscheiden und die schon lange geforderte Entflechtung zwischen Grundversicherung und den Zusatzversicherungen würde Realität. Das Modell der Sozialversicherungen zeige ausserdem, wie dies funktionieren könne.

Die Gegner befürchten ein bürokratisches "Verwaltungsmonster", das Innovationen verhindere (z. B. alternative Versicherungsmodelle) und den Ärzten aus der Position eines Monopolisten keinen (Verhandlungs-) Spielraum mehr lasse. Eine Einheitskasse verhindere zudem den Wettbewerb und untergrabe das Bemühen um eine kostenbewusste, effiziente Medizin. Zum Volksbegehren "Einheitskasse" siehe auch den Artikel auf dieser Seite: "Schweizer Bürger stimmen über Einheitskrankenkasse ab".

Hier finden Sie die Pressemitteilung der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SGAM) "Mehrheit der Schweizer Hausärzte für die Einheitskrankenkasse"

Gerd Marstedt, 22.1.2007


Schweizer Bürger stimmen über Einheitskrankenkasse ab

Artikel 0485 In der Schweiz wird aufgrund einer Volksinitiative am 11.März 2007 über die Einrichtung einer Einheitskrankenkasse abgestimmt. Die Schweizer sollen dann entscheiden, ob die derzeit 87 Krankenkassen durch eine einzige Kasse ersetzt werden. Überdies sollen anstelle der bisherigen Kopfprämien zukünftig einkommens- und vermögensabhängige Beiträge gezahlt werden. Das Volksbegehren wird durch ein breites Bündnis von Organisationen unterstützt, unter anderem durch Vertreter der Sozialdemokratischen Partei (SP) und der Grünen. Die Volksinitiative wurde Ende 2004 mit mehr als 111.000 gültigen Unterschriften eingereicht. Parlament und Regierung sind jedoch dagegen und im Jahre 2003 wurde eine Initiative mit gleicher Stossrichtung bereits (mit 73% Nein-Stimmen) abgelehnt.

Wesentliche Argumente für eine Einheitskasse sind aus Sicht der Volksinitiative (Aus dem Argumentarium - Für eine soziale Einheitskrankenkasse)
• die Vereinheitlichung und Vereinfachung der Verwaltung und Senkung der Verwaltungskosten, insbesondere Einsparung von etwa 300 Millionen Franken pro Jahr, welche durch Kassenwechsel von Versicherten verursacht werden
• ein Ende des teuren und komplizierten Systems des Ausgleichs zwischen den Kassen, der heutigen "Jagd auf gute Risiken" und der Pseudokonkurrenz zwischen Krankenkassen
• ein Ende aller unnötigen Werbekosten der Kassen
• aufgrund der Einführung einkommens- und vermögensabhängiger Beiträge mehr Solidarität zwischen allen Versicherten und damit größere soziale Gerechtigkeit
• dies wiederum wird für eine breite Mehrheit der Versicherten eine Prämienreduktion zur Folge haben
• eine qualitativ hochwertige Versorgung für alle: "Eine starke Krankenkasse für die ganze Schweiz ist die beste Vorbeugung vor einer Zweiklassenmedizin à la USA", sagt etwa die Nationalrätin Christine Goll von der SP.

In der Schweiz wird die Grundversicherung zu 60 Prozent aus Kopfprämien und zu 40 Prozent aus Steuern finanziert, einen Arbeitgeberanteil gibt es nicht. Die Höhe der Prämien ist vom Wohnort abhängig und variiert nicht unbeträchtlich je nach Kanton. Im Schnitt kostet der Basistarif etwa 313 Franken (knapp 200 Euro), hinzu kommen noch Prämien für Sonderleistungen und Zusatztarife.

Zu den Gegnern des Vorhabens gehören die bürgerlichen Parteien, Bundesrat, Wirtschaftsverbände und der Schweizer Krankenversicherungsverband Santésuisse. Sie fürchten, dass eine Einheitskasse die Probleme im Gesundheitswesen eher noch verschärft. Schon heute hat die Schweiz nach OECD-Daten eines der teuersten Gesundheitssysteme Europas. Nach Meinung der Krankenversicherer führt die Abschaffung des Wettbewerbs eher zu höheren Kosten als zu Einsparungen und Prämiensenkungen.

Weitere Infos zum Thema findet man auf der Schweizer Website swissinfo

Gerd Marstedt, 15.1.2007


Alternative Versicherungstarife von Krankenkassen sind in der Schweiz ein "Renner"

Artikel 0470 Seit Einführung des Krankenversicherungsgesetzes im Jahre 1996 haben noch nie so wenig Schweizer Versicherte die Krankenkasse gewechselt wie im Jahr 2006. Eine Umfrage des Internet-Vergleichsdiensts comparis.ch bei den 35 mitgliederstärksten Krankenkassen zeigt, dass nur 170.000 Personen gewechselt haben. Markant zugenommen haben aber die Wechsel in alternative Versicherungsmodelle wie Hausarzt oder Telmed. Erstmals übersteigt die Anzahl Versicherter in alternativen Versicherungsmodellen die Millionengrenze und liegt jetzt bei 16 Prozent.

Die Wechselquote 2006 ist mit 2,3 Prozent so tief wie noch nie seit Einführung des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) in der Schweiz im Jahr 1996. Viele Versicherte haben offensichtlich keinen Grund gesehen, ihre Krankenkasse zu wechseln, weil die Prämien weitgehend konstant blieben. Hohe Wechselquoten zeigen sich andererseits bei alternativen Versicherungsmodellen, die Einsparmöglichkeiten bis zu 25% der bisherigen Prämie bieten. "Wenn der Anteil der Versicherten in alternativen Versicherungsmodelle einmal 30 Prozent erreicht haben wird, werden viele Ärzte von sich aus den Anschluss an ein alternatives Versicherungsmodell suchen. Und die Krankenkassen werden sich ihre Vertragspartner unter den Ärzten aussuchen können," erklärte Richard Eisler, Geschäftsführer von comparis.ch.

Von den fünf grössten Krankenkassen ist Swica die einzige, die an Mitgliedern zulegen konnte. Hintergrund dieses seit Jahren stabilen Wachstums ist die konsequente Ausrichtung auf alternative Versicherungsmodelle. Swica weist mit über 50 Prozent den höchsten Anteil an Versicherten in alternativen Versicherungsmodellen auf. Auf den Zug aufgesprungen sind auch Krankenkassen, die bis vor kurzem alternative Versicherungsmodelle strikt ablehnten wie Groupe Mutuel oder Assura.

In der Schweiz gibt es heute verschiedene Alternativen zur obligatorischen Krankenpflegeversicherung. Dazu gehören:
HMO-Modelle: Der Versicherte verpflichtet sich hierbei, im Krankheitsfall immer zuerst einen ganz bestimmten Arzt (sog. "Gatekeeper"), der in einem HMO-Center praktiziert (HMO: Health Maintenance Organization), aufzusuchen. Ausgenommen von dieser Pflicht sind Notfälle.
Hausarztmodelle: Bei dieser Form verpflichtet sich der Versicherte (wie bei der HMO), im Krankheitsfall immer - außer in Notfällen - seinen festen Hausarzt aufzusuchen. Durch die gezielte Überweisung der Versicherten vom Hausarzt an Spezialisten wird gegenüber der traditionellen Versicherung eine Kosteneinsparung erreicht, so dass die Prämien 5-15% günstiger sind.
Light-Modelle: Der Versicherte verpflichtet sich hierbei, im Krankheitsfall einen Arzt aufzusuchen, den er aus der Ärzteliste seiner Krankenkasse auswählt ("Ärztepool"). Zusätzlich gibt es bei diesem Modell, je nach Krankenkasse, noch andere Pflichten, u.a. die Einschränkung der stationären Behandlung auf bestimmte, von der Kasse ausgewählte Kliniken oder die Verpflichtung auf Generika (kostengünstige Nachahmerprodukte von Original-Medikamenten) bei der Medikamentenverschreibung.
Telmed-Modelle: Bei jedem neu auftretenden Gesundheitsproblem wenden sich die Versicherten vor dem ersten Arztbesuch immer an eine telefonische Beratungsstelle ("Callcenter"). Dort geben Mediziner Auskünfte oder Verhaltensempfehlungen oder leiten die Patienten an einen Arzt, eine Klinik oder einen Therapeuten weiter.

Detailliertere Informationen zu diesen Modellen findet man auch auf der Website von comparis.ch: Alternative Versicherungsmodelle in der Schweiz

In einer aktuellen Übersicht des Bundesministeriums für Gesundheit Regionale Hausarztmodelle in Deutschland - Recherche des Redaktionsbüro Gesundheit bei den gesetzlichen Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen werden etwa 24 Hausarzt-Modelle aufgelistet, die derzeit von den Kassen durchgeführt werden. Zusammenfassend heißt es: "In elf Bundesländern können sich derzeit oder in den nächsten Monaten Patientinnen und Patienten in ein Hausarztmodell einschreiben. Rund 1,4 Millionen Patientinnen und Patienten haben sich bereits in das bundesweite Hausarztmodell der Barmer Ersatzkasse eingeschrieben. Insgesamt hatten im Februar 2006 über 23 Millionen Versicherte die Möglichkeit, an einem Hausarztmodell teilzunehmen. Rund 2,6 Millionen Patientinnen und Patienten nehmen bereits an einem Hausarztmodell ihrer Krankenkasse teil." Bei einer Versichertenzahl von rund 70 Millionen in der GKV läge die Teilnahmequote an Hausarztmodellen dann (ohne Berücksichtigung des Lebensalters) bei knapp 4%.

Gerd Marstedt, 11.1.2007


Vorbild Schweizer Krankenversicherungssystem?

Artikel 0284 Das mit der Krankenversicherungsreform 1996 in der Schweiz geschaffene System stößt in der nicht selten mit Anleihen in ausländischen Gesundheitssystemen operierenden deutschen Gesundheitsreformdebatte vielfach auf Aufmerksamkeit.

Die im Jahr 2003 als WZB-Forschungspapier veröffentlichte Studie "Das Schweizer Modell der Krankenversicherung. Zu den Auswirkungen der Reform von 1996" von Thomas Gerlinger und eine gerade vom Schweizer "Bundesamt für Gesundheit" in einer Kurzfassung veröffentlichte Expertise der OECD und WHO über das schweizerische Gesundheitssystem, zeigen aus unterschiedlichen Positionen kommend aber auch die deutlichen Schwachstellen und Schattenseiten des scheinbaren Vorbilds.

Gerlinger zeichnet die wichtigsten Merkmale des Schweizer Modells nach und fragt, inwiefern die mit der Reform verfolgten Ziele erreicht worden sind. Dabei wird deutlich, dass die Bilanz überwiegend negativ ausfällt. Das Krankenversicherungsgesetz hat zwar insofern zu einer Stärkung der Solidarität in der schweizerischen Krankenversicherung beigetragen, als es zuvor vorhandene Lücken im Leistungsrecht geschlossen und den Krankenkassen bisherige Möglichkeiten zur Vermeidung von Leistungspflichten für chronisch Kranke genommen hat. Ungeachtet dessen sind die Krankenbehandlungskosten im Vergleich zu anderen wohlhabenden Ländern außerordentlich stark privatisiert. Die Privathaushalte tragen etwa zwei Drittel aller Gesundheitsausgaben, und dies mit steigender Tendenz. Insbesondere für sozial Schwache, aber auch für Versicherte mit Einkommen knapp oberhalb der staatlichen Subventionsgrenze können sehr hohe finanzielle Belastungen entstehen. Gleichzeitig ist die Bedeutung innovativer Versorgungsformen, also von Health Maintenance Organisations und Hausarztnetzen, im Versorgungssystem bisher deutlich hinter den Erwartungen zurückgeblieben.
Die Schweizer Erfahrungen mit der Reform der Krankenversicherung sind nicht zuletzt ein Hinweis darauf, dass es für eine wirkungsvolle Kostendämpfung und eine Durchsetzung innovativer Versorgungsformen einer stärkeren Einflussnahme der Finanzierungsträger auf das medizinische Leistungsgeschehen bedarf.

Die OECD- und WHO-Analytiker weisen vor allem darauf hin, dass "der Anteil der Gesundheitskosten am Bruttoinlandsprodukt...zu den höchsten der OECD-Länder (gehört) und nach wie vor schneller als das BIP (wächst). Zugleich können andere OECD-Länder eine vergleichbare oder sogar bessere Leistungsfähigkeit bei geringeren Kosten vorweisen." Ein spezielles Problem der Schweiz besteht nach ihnen in den stark aufgesplitterten Zuständigkeiten. Kritisch angemerkt werden ferner die vergleichsweise niedrigen Ausgaben für Prävention und Gesundheitsförderung.. Die Befürworter höherer Zuzahlungen als Steuerungsinstrument sollte der Hinweis, dass dies in der Schweiz trotz bereits hohen Selbstkostenanteilen nicht richtig funktioniert, nachdenklich machen. Nach Meinung der Gutachter hat auch die Schweiz mit unerwünschten Wirkungen ihres Wettbewerbssystems zu tun. Um z.B. die Versicherer von der Selektion so genannter "guter Risiken" abzuhalten "braucht es einen Risikoausgleich".

Bernard Braun, 5.11.2006


Modellversuch zur Alternativmedizin in der Schweiz beendet

Artikel 0100 Rund sechs Jahre lang, von 1999 bis Ende Juni 2005, lief in der Schweiz die vermutliche umfassendste und zeitlich längste Studie zu alternativen Heilmethoden oder, wie in der Schweiz genannt: Komplementärmedizin. Mehrere Verfahren der Alternativmedizin (anthroposophische Medizin, Homöopathie, Neuraltherapie, Phytotherapie und traditionelle chinesische Medizin bzw. genauer traditionelle chinesische Arzneitherapie) gehörten zum Grundkatalog der Krankenversicherung und konnten von Schweizer Bürgern ohne Zusatzkosten in Anspruch genommen werden, wenn der Arzt bestimmte Ausbildungsvoraussetzungen erfüllt. Das Modellvorhaben wurde wissenschaftlich begleitet und ist nun abgeschlossen.

Ein erster Endbericht liegt jetzt vor, der allerdings die zentrale Evaluations-Frage nach dem Nutzen der Heilverfahren auch im Vergleich zur Schulmedizin noch ausklammert. Gleichwohl liefert der Bericht zu den Fragen: Wie verbreitet die fünf Verfahren in der Schweiz, welche Ärzte bieten die Verfahren an, welche Patienten nehmen sie in Anspruch nehmen, und wie stellt sich die Kostensituation für diese Verfahren dar, überaus aufschlussreiche Befunde.

So hat die Studie z.B. gezeigt: "Patienten sind eher jünger, weiblich und besser ausgebildet. Diese Patienten sind der Komplementärmedizin gegenüber eher positiv eingestellt und weisen eine eher chronische und schwerer ausgeprägte Form ihrer Erkrankung auf. Apparative diagnostische Untersuchungen werden seltener durchgeführt, bei der Therapiewahl werden häufiger die Wünsche des Patienten berücksichtigt. Die Konsultation ist im Durchschnitt deutlich länger als in der konventionellen Versorgung. Die Zufriedenheit der Patienten mit der Versorgung in den komplementärmedizinischen Praxen ist höher. Nebenwirkungen geben - mit Ausnahme der Phytotherapie - deutlich weniger Patienten an als bei den Ärzten der konventionellen Versorgung." (Abschlussbericht S.6)

Obwohl die Evaluation des Modellversuchs noch nicht abgeschlossen ist, hat der Schweizer Bundesrat Couchepin unlängst die meisten Therapien aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen gestrichen und löste damit erhebliche Kritik aus.

Der Schlussbericht liegt nun als PDF-Datei vor, ebenso wie verschiedene andere Materialien: Programm Evaluation Komplementärmedizin (PEK)

Gerd Marstedt, 18.8.2005