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EU-GH und Dextro Energy: Auch wenn positive Wirkungen nachgewiesen sind, kann gesundheitsbezogene Werbung unzulässig sein
Bereits im Titel "Verbraucherschutz - Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 - Andere gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel als Angaben über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos sowie die Entwicklung und die Gesundheit von Kindern - Nichtzulassung bestimmter Angaben trotz positiver Stellungnahme der EFSA - Verhältnismäßigkeit - Gleichbehandlung - Begründungspflicht" seines Urteils vom 16. März 2016 kündigt der Europäische Gerichtshof (EU-GH) eine interessante Erweiterung der Kriterien für die EU-weite Regulation von Gütern und Dienstleistungen mit expliziten gesundheitsbezogenen Prädikaten (so genannte "health claim"-Verordnung) an.
In dieser Verordnung ist zum einen das Prinzip festgelegt, dass Hersteller, die für ihr Produkt oder ihre Leistungen mit einem positiven gesundheitlichen Nutzen werben, ihn auch wissenschaftlich nachweisen müssen. In einer langen, aber bei weitem nicht vollständigen Liste ist dann geregelt, welche Gesundheitsbezeichnungen unzulässig, weil irreführend sind. Die "health claim"-Verordnung ist in jedem EU-Mitgliedsland unmittelbar geltendes Recht.
Bei dem jetzt vom EU-GH gefällten Urteil ging es darum, dass im Jahr 2011 die Firma "Dextro Energy die Zulassung u.a. folgender gesundheitsbezogener Angaben beantragt: "Glucose wird im Rahmen des normalen Energiestoffwechsels verstoffwechselt", "Glucose trägt zu einem normalen Energiegewinnungsstoffwechsel bei", "Glucose unterstützt die körperliche Betätigung", "Glucose trägt zu einem normalen Energiegewinnungsstoffwechsel bei körperlicher Betätigung bei" und "Glucose trägt zu einer normalen Muskelfunktion bei körperlicher Betätigung bei". Trotz der positiven Stellungnahme der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), die zu dem Ergebnis gekommen war, dass ein Kausalzusammenhang zwischen der Aufnahme von Glucose und dem Beitrag zu einem normalen Energiegewinnungsstoffwechsel nachweisbar sei, lehnte die Kommission die Zulassung dieser Angaben im Januar 2015 ab."
Warum die EU-Kommission und danach auch der EU-GH trotz dieses ja eigentlich für die Zulassung ausreichenden Nachweises die Werbeangaben nicht zuließ, beruhte auf einer Erweiterung der dabei zu beachtenden Kriterien: "Sie (die EU-Kommission) befand nämlich , dass die in Rede stehenden gesundheitsbezogenen Angaben ein widersprüchliches und verwirrendes Signal an die Verbraucher senden würden, da diese zum Verzehr von Zucker aufgerufen würden, für den nationale und internationale Behörden aber eine Verringerung des Verzehrs empföhlen. Selbst wenn diese Angaben nur mit speziellen Bedingungen für ihre Verwendung und/oder mit zusätzlichen Erklärungen oder Warnungen zugelassen würden, würde die Irreführung der Verbraucher nicht genügend eingedämmt, so dass von einer Zulassung dieser Angabe abgesehen werden sollte."
"Das Gericht weist u.a. darauf hin, dass die Kommission, auch wenn sie die Stellungnahmen der EFSA (deren Aufgabe lediglich darin besteht, zu prüfen, ob die gesundheitsbezogenen Angaben durch wissenschaftliche Nachweise abgesichert sind und ob ihre Formulierung bestimmten Kriterien entspricht) nicht in Frage gestellt hat, im Rahmen des Risikomanagements die Vorschriften des Unionsrechts und sonstige relevante legitime Faktoren zu berücksichtigen hat. Da der Durchschnittsverbraucher nach den allgemein anerkannten Ernährungs-und Gesundheitsgrundsätzen seinen Zuckerverzehr verringern soll, ist die Feststellung der Kommission nicht fehlerhaft, dass die in Rede stehenden gesundheitsbezogenen Angaben, die nur die positiven Effekte für den Energiegewinnungsstoffwechsel herausstellen, ohne die mit dem Verzehr von mehr Zucker verbundenen Gefahren zu erwähnen, mehrdeutig und irreführend seien und daher nicht zugelassen werden könnten."
Es wird spannend sein, ob die Betonung der Relevanz weiterer "legitimer Faktoren" und dem Schutz von Verbrauchern vor verwirrenden Informationen und Argumenten künftig systematisch erfolgt und damit ganze Regalwände von Drogerien etc. ihre Gesundheitsprädikate verlieren könnten.
Eine Presseerklärung zum Urteil in der Rechtssache T-100/15
Dextro Energy GmbH & Co. KG/ Kommission sowie sein Volltext sind kostenlos zugänglich.
Bernard Braun, 20.3.16
Die Bedeutung der Rechtsprechung für (Gesundheits)-Gesetze am Beispiel von Obamacare
Viele eigentlich politisch zu lösenden Konflikte in zahlreichen Politikfeldern werden in Deutschland und in anderen Ländern immer häufiger durch oberste Gerichte geklärt.
Dies betrifft auch wichtige Bestimmungen des "Patient Protection and Affordable Care Act" (ACA) in den USA. Die republikanische Partei versucht die Umsetzung dieses auch als Obamacare popularisierten Gesetz bei jeder Gelegenheit, auf allen administrativen Ebenen und mit allen Mitteln zu be- oder verhindern.
Diese Versuche waren so erfolgreich, dass Streitigkeiten durch alle Gerichtsinstanzen bis zum obersten Gericht der USA, dem Supreme Court, gelangten. Dies war mit der Erwartung verbunden, dass das häufig als gesellschafts- und verfassungspolitisch konservativ eingeschätzte Gericht das Gesetz an wichtigen Punkten so einschränken würde, dass seine Gesamtwirkung verpuffen würde.
In bisher zwei zentralen Urteilen entschied sich das Gericht aber jeweils mit Mehrheit für die umstrittenen gesetzlichen Bestimmungen.
Bereits am 28. Juni 2012 entschied das Gericht mit der knappsten Mehrheit von 5 gegen 4 Richter, dass die durch ACA für die meisten BürgerInnen eingeführte Pflicht, in irgendeiner Weise eine "minimum essential" Krankenversicherung abzuschließen, verfassungsgemäß sei.
Weiterhin strittig blieb die Bestimmung, dass es für BürgerInnen, die nicht über ihre Arbeitgeber krankenversichert sind und sich eine private Versicherung auf den dafür speziell auf Bundesstaatsebene eingerichteten so genannten Gesundheitsmarktplätzen erwerben bzw. abschließen sollten, staatliche Zuschüsse geben sollte, wenn sie die dann fälligen Versicherungsbeiträge nicht selber zahlen konnten.
Wohlwissend, dass von diesen Zuschüssen das Krankenversicherungsverhältnis vieler ärmerer AmerikanerInnen abhing, konzentrierten sich u.a. republikanisch regierte Bundestaaten darauf, diese Zuschüsse zu verhindern. Dies begann damit, dass sie sie die Bildung der Gesundheitsmarktplätze in ihrem Bereich verzögerten und ihre BürgerInnen an die Online-Plattform der Bundesregierung verwiesen. Parallel zur Weigerung, staatliche Zuschüsse zu bezahlen oder ihren Erhalt zu erschweren, klagten vier Personen aus dem Bundesstaat Virginia gegen das gesetzliche Recht auf diese Zuschüsse.
Die faktische gesundheitspolitische Bedeutung dieser schließlich dem Supreme Court zur Entscheidung vorliegenden Klage, schätzten wissenschaftliche Institute so ein: Im Falle, dass die Kläger recht bekommen hätten, hätten mindestens 6,4 Millionen Personen das Recht auf Zuschüsse verloren und die Beiträge der bereits Versicherten wären ohne diese Zuschüsse um 287 Prozent gestiegen. Als eine Folge wäre die Anzahl der nicht krankenversicherten Personen in den USA um 8,2 Millionen gestiegen.
Am 25. Juni 2015 wies eine Mehrheit von 6 der 9 RichterInnen die Klage ab.
Das 2012 gefällte Urteil National Federation of Independent Business et al. versus Sebelius, Secretary of Health and Human Services und die am 25. Juni 2015 getroffene Entscheidung King et al. versus Burwell, Secretary of Health and Human Services sind vollständig (das aktuelle Urteil umfasst 47 Seiten) erhältlich. In beiden Urteilen finden sich das Mehrheits- und das Minderheitsvotum.
Bernard Braun, 26.6.15
Zügigkeit des Verwaltungsverfahrens von Krankenkassen als Patientenrecht - aber manchmal nur mit Hilfe eines Gerichts
Zu einem wichtigen Recht von Patienten gehört, dass Entscheidungen über oder in ihrer Behandlung schnell und verbindlich getroffen werden, Ungewissheiten möglichst vermieden werden oder so schnell wie möglich Klarheit geschaffen wird. Dies gilt seit Verabschiedung des Patientenrechtegesetzes im Jahr 2013 auch für Entscheidungen der gesetzlichen Krankenkassen. Im § 13 Abs. 3a des Fünften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB V) heißt es seitdem eigentlich unmissverständlich: (1) Die Krankenkasse hat über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (Medizinischer Dienst), eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. … (5) Kann die Krankenkasse Fristen nach Satz 1[...] nicht einhalten, teilt sie dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mit. (6) Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt. (7) Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, ist die Krankenkasse zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet."
Trotzdem verzögern GKV-Kassen immer wieder bestimmte Entscheidungen weit über die gesetzliche Frist hinaus und informieren die davon betroffenen Patienten nicht über die maßgeblichen Gründe.
In einem aktuellen vor Gericht gelandeten Fall hatte eine zur Gewichtsabnahme am Magen operierte Versicherte nach dem eingetretenen Erfolg wohlbegründet beantragt, die dadurch an verschiedenen Körperstellen aufgetretenen Hautlappen operativ entfernen lassen zu können - als eine Sachleistung ihrer Kasse. Die Kasse konnte sich innerhalb der maximal fünfwöchigen Bewilligungsfrist nicht zu einer Entscheidung durchringen und informierte die Patientin darüber nicht. Erst nach einem halben Jahr bewilligte sie schließlich die Entfernung einiger Hautlappen, nicht aber aller beantragten. Gegen diese Entscheidung klagte die Versicherte und zwar, weil nach dem gesamten Verlauf und dem zitierten Gesetzeswortlaut diese Leistungen als genehmigt gelten müssten. Die Kasse räumte zwar die Fristüberziehung ein, blieb aber bei ihrer Position und verwies darauf, hier liege weder eine Krankheit vor noch sei die Operation wirtschaftlich.
Das Sozialgericht Heilbronn wies diese Argumentation in einer Entscheidung vom 11. März 2015 zurück und unterstrich den vom Gesetzgeber im Interesse von Patienten gewollten Druck auf ein zügiges Verwaltungsverfahren von dem sich eine Krankenkasse auch nicht mit nachgeschobenen Argumenten befreien könne.
Eine Pressemitteilung des Gerichtes zu dem noch nicht rechtskräftigen Urteil des SG Heilbronn mit dem Az.: S 11 KR 2425/14 ist kostenlos erhältlich. Die Urteilsbegründung liegt noch nicht vor, ist aber sicherlich nach ihrer Veröffentlichung ebenfalls zugänglich.
Bernard Braun, 26.5.15
Wie "fest" ist ein Festbetrag und wo liegen die Grenzen des Service-Outsourcens gesetzlicher Krankenkassen und Rentenversicherer?
Wer denkt, und "wer" sind durchaus auch Leistungsabteilungen gesetzlicher Krankenkassen, ein Festbetrag schließe absolut höhere Beträge aus bzw. erlaube es, sie komplett auf den versicherten Patienten abzuwälzen, kann sich täuschen und trägt dazu durch eigene Vernachlässigung gesetzlicher Pflichten auch noch selber bei.
Diese Position vertritt das Hessische Landessozialgericht (LSG) in einem Ende Juli 2014 gefällten letztinstanzlichen Urteil zur speziellen Hörgeräteversorgung eines schwerst hörbehinderten Menschen mit bemerkenswerten Argumenten zur Priorität des gesundheitlichen Bedarfs von Patienten und gegen systematische Servicemängel im Bereich der gesetzlichen Krankenkassen.
Streitgegenstand war, dass eine bei einer GKV-Kasse versicherte Person nach Kontakt mit einem HNO-Arzt und einem Hörgeräteakustiker ein Hörgerät erhielt, das rund 4.900 Euro kostete. Die Kasse weigerte sich unter Verweis auf den damaligen Festbetrag von 1.200 Euro, ihrem Versicherten den Differenzbetrag von rund 3.700 Euro zu erstatten.
Die entsprechende Klage des Versicherten wies das Sozialgericht in erster Instanz ab. Das LSG gab ihm dagegen Recht und begründete dies u.a. folgendermaßen:
• Zunächst räumt das LSG ein, dass die GKV-Kassen das Recht oder sogar die Pflicht haben, die Wirtschaftlichkeit der Versorgung zu prüfen: "Ausgeschlossen sind danach Ansprüche auf teure Hilfsmittel, wenn eine kostengünstigere Versorgung für den angestrebten Nachteilsausgleich funktionell ebenfalls geeignet ist; Mehrkosten sind andernfalls selbst zu tragen (§ 33 Abs. 1 Satz 5 SGB V)." Dabei muss sich aber die Krankenkasse, so das LSG weiter, am gesundheitlichen Bedarf des bei ihr versicherten Patienten orientieren: "Eingeschlossen in den Versorgungsauftrag der GKV ist eine kostenaufwändige Versorgung dagegen dann, wenn durch sie eine Verbesserung bedingt ist, die einen wesentlichen Gebrauchsvorteil gegenüber einer kostengünstigeren Alternative bietet. Das gilt bei Hilfsmitteln zum unmittelbaren Behinderungsausgleich für grundsätzlich jede Innovation, die dem Versicherten nach ärztlicher Einschätzung in seinem Alltagsleben deutliche Gebrauchsvorteile bietet." Dies sah das Gericht bei dem Kläger als gesichert an.
• "Soweit die Krankenkasse aus Gründen der Wirtschaftlichkeit die Sachleistung "Versorgung mit Hörhilfen" (§ 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V) auf der Grundlage einer Festbetragsregelung (§ 36 SGB V) zu erbringen hat, also unter Zuzahlungspflicht des Versicherten hinsichtlich des den Festbetrag übersteigenden Teils des Kaufpreises, erfüllt sie zwar im Regelfall ihre Leistungspflicht mit dem Festbetrag (§ 12 Abs. 2 SGB V). Dies ist grundsätzlich verfassungsgemäß, gilt jedoch in dieser Form nur, wenn eine sachgerechte Versorgung des Versicherten zu den festgesetzten Festbeträgen möglich ist. Der für ein Hilfsmittel festgesetzte Festbetrag begrenzt die Leistungspflicht der Krankenkasse nämlich dann nicht, wenn er für den Ausgleich der konkret vorliegenden Behinderung objektiv nicht ausreicht".
• Und schließlich weist das LSG zugunsten des Versicherten auf eine offensichtlich vorsätzliche Praxis fehlender Beratung in diesem Bereich der Hilfsmittelversorgung hin: "Den Grad der Schwerhörigkeit und die sich daraus ergebenden Anforderungen an die Leistungsfähigkeit und Funktionen der zum Behinderungsausgleich benötigten Hörgeräte hat die Beklagte indessen im Verwaltungsverfahren keiner eigenständigen Prüfung und Feststellung zugeführt. Sie hat weder durch die Heranziehung eigener fachkundiger Stellen und oder von Sachverständigen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) abklären lassen, welche Hörhilfen der Kläger benötigt. Dies ist bislang keine bloße fehlerhafte Vorgehensweise in einem Einzelfall, sondern durchgängige Praxis. Obwohl eine erhebliche Zahl von Versicherten vergleichbar nachhaltig im Hörvermögen beeinträchtigt ist wie der Kläger, halten die Krankenkassen und auch die weiter als Rehabilitationsträger in Betracht kommenden Rentenversicherungsträger bislang nicht die erforderlichen Beratungs- und Begutachtungsstrukturen vor, um eine den gesetzlichen Vorgaben entsprechende Ermittlung des Versorgungs- und Rehabilitationsbedarfes zu ermöglichen. Die Sozialleistungsträger bieten den hörgeschädigten Versicherten keinen Zugang zu unabhängigen Beratungs- und Begutachtungsstellen, die losgelöst von eigenen Gewinnerwartungen eine neutrale Untersuchung und Beratung - was eine ausgiebige Erprobung und Anpassung der in Betracht kommenden Hörgeräte beinhalten müsste - über die (unter Beachtung des Gebotes der Wirtschaftlichkeit im vorstehend erläuterten Sinne) bestmögliche Hörgeräteversorgung gewährleisten … . Das Bundessozialgericht hat sich im Zusammenhang mit der Hilfsmittelversorgung bei hörgeschädigten Versicherten zu der Feststellung veranlasst gesehen, dass sich die zuständigen Rehabilitationsträger ihrer leistungsrechtlichen Verantwortung durch sog. "Verträge zur Komplettversorgung" jedenfalls vielfach nahezu vollständig entziehen und dem Leistungserbringer quasi die Entscheidung darüber überlassen, ob dem Versicherten eine Teilhabeleistung (wenn auch unmittelbar zunächst nur zum Festbetrag) zu Teil wird. Es hat hervorgehoben, dass die betroffenen Träger damit weder ihrer Pflicht zur ordnungsgemäßen Einzelfallprüfung nach § 33 SGB V genügen noch die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit beachten (§ 12 Abs. 1 und § 70 Abs. 1 S. 2 SGB V; vgl. BSG, Urteil vom 24. Januar 2013, a.a.O., vgl. auch den dortigen Hinweis: Es mute zudem "abenteuerlich" an, dass die Rehabilitationsträger die Versorgung mit bestimmten Hilfsmitteln - hier: Hörgeräte - praktisch nicht mehr selbst vornehmen, sondern in die Hände der Leistungserbringer "outgesourced" haben). Ein entsprechendes "Outsourcing" hat für Fallgestaltungen der vorliegenden Art überdies zur Folge, dass sich die Versicherten mangels eigener Beratungs- und Untersuchungsstellen der Sozialleistungsträger zur bestmöglichen Hörgeräteversorgung auch bezüglich der Frage, inwieweit sich mit höherwertigen als den sog. Festbetragsgeräten greifbare bessere Hörerfolge erzielen lassen, in weiten Teilen auf das fachkundige (wenn auch nicht immer von vornherein uneigennützige) Urteil des beratenden Hörgeräteakustikers verlassen müssen."
• "Der Umstand, dass die Krankenkassen und andere Sozialleistungsträger entgegen § 4 Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) systematisch und somit letztlich im Rahmen eines sog. Systemversagens keine eigenständige Untersuchung und Beratung der Versicherten bei der Hörgeräteauswahl mit dem Ziel eines weitest möglichen Behinderungsausgleichs anbieten, kann die Gerichte nicht von ihrer Verpflichtung entbinden, eine effektive Durchsetzung der Hilfsmittelansprüche der Versicherten zu bewirken. Mit der Beauftragung der gewerblichen Hörgeräteakustiker haben insbesondere die Krankenkassen im Ergebnis zum Ausdruck gebracht, dass sie diesen die erforderliche Fachkunde und Beurteilungskompetenz in den Fragen der Hörgeräteversorgung zuerkennen und die Erwartung für berechtigt erachten, dass die Qualität der Beratung durch die Hörgeräteakustiker nicht durch eigenwirtschaftliche Interessen der herangezogenen Akustikerbetriebe ernsthaft beeinträchtigt wird. Die Krankenkassen haben sich somit von der Erwartung leiten lassen, die Heranziehung der gewerblichen Hörgeräteakustiker werde jedenfalls im Regelfall zu einer im Rahmen der sog. Festbetragsgeräte optimierten Versorgung führen. An dieser eigenen Einschätzung müssen sich die Krankenkassen und auch an ihrer Stelle nach § 14 SGB IX zuständige andere Leistungsträger festhalten lassen, soweit sie nicht im jeweiligen Einzelfall anderweitig verlässliche Feststellungen hinsichtlich des Rehabilitationsbedarfs gewährleisten."
• "Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor."
Angesichts dieses fast nicht mehr steigerbaren richterlichen Levitenlesens wird es spannend sein, ob, wie und wann sich die Kranken- und Rentenversicherungsträger damit auseinandersetzen und evtl. praktische Änderungen vornehmen.
Wer sich noch genauer für die zum Teil im obenstehenden Text gekürzten gesetzlichen Bestimmungen und Urteile interessiert, die für die Entscheidung des LSG maßgeblich waren, kann sich das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 04.09.14 - Az L 8 KR 352/11 komplett kostenlos durchlesen.
Bernard Braun, 20.9.14
Senkung der Lohnnebenkosten alternativlos im öffentlichen Interesse? Wie das BVerfG einem Arbeitgebermythos auf den Leim geht!
Wer das Mehrfache einer durchschnittlichen Altersrente bezieht, hält "ein paar Euro weniger" für tragbar und nur wer sich den seit Jahrzehnten von Arbeitgebern und ihren gut bezahlten Kopflangern und Mietmäulern zur Systemfrage aufgepumpten Mythos, die "Lohnnebenkosten" gefährdeten die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf dem Weltmarkt ungeprüft zu eigen macht, erteilt ihrer Senkung eine Art System- oder Verfassungssegen.
Beides findet sich in der Begründung mit der das Bundesverfassungsgericht am 3. Juni 2014 "unanfechtbar" eine Verfassungsklage von fünf Rentnern gegen vorinstanzliche Sozialgerichtsurteile und Bescheide der Bundesversicherungsanstalt beziehungsweise der Rentenversicherung zurückweist. Die Rentner hatten verschiedene gesetzliche Kürzungen bzw. Verschlechterungen ihrer Rente für unzulässig und letztlich verfassungswidrig gehalten. 2005 fiel wegen der geringen Lohnentwicklung die Rentenerhöhung aus, begann der langfristig das Rentenniveau absenkende so genannte Nachhaltigkeitsfaktor zu wirken und gleichzeitig verringerte sich die Rentenhöhe wegen der Einführung eines nur von GKV-Mitgliedern und nicht von ihren Arbeitgebern oder der Rentenversicherung zu zahlenden Zusatzbeitrags von 0,9% für die gesetzliche Krankenversicherung. Die Kläger sahen sich dadurch in ihrem Eigentumsgrundrecht nach Artikel 14 des Grundgesetzes verletzt.
Die Begründung dieses Urteils ist lesenswert:
• "Darüber hinaus stellten die im Revisionsverfahren überprüften "Verschlechterungen" im Beitragsrecht der Krankenversicherung der Rentner und Pflegeversicherung der Rentner gemessen an Art. 14 GG auch im Kontext anderer Beitragserhöhungen der letzten Jahre, der "Einschnitte" im Leistungsrecht der gesetzlichen Rentenversicherung wie dem Unterbleiben von Rentenanpassungen in den Jahren 2004 und 2005 sowie der ab 2005 schrittweise beginnenden Besteuerung von Renten keine Überforderung des Beschwerdeführers dar, da sie nicht derart niveauabsenkend seien, dass die Rente dadurch ihre prinzipielle Struktur und ihre Funktion als freiheits- und existenzsichernde Leistung verliere."
Kein Gedanke, dass es doch gerade die von den Verfassungsrichtern zutreffend angedeutete Kaskade von materiellen Belastungen ist, die so viel Nachteile für die Bevölkerung brachte, dass die aktuellen Beiträge das "Fass" zum Überlaufen brachten.
• "Die mit dem GKV-Modernisierungsgesetz und dem Gesetz zur Anpassung der Finanzierung von Zahnersatz vom 15. Dezember 2004 … angestrebte Senkung des Beitragssatzniveaus und damit auch der Lohnnebenkosten ist ein Regelungsziel, das im öffentlichen Interesse liegt, denn mit der finanziellen Entlastung der Arbeitgeber und auch der Rentenversicherung sollte die Reform der gesetzlichen Krankenversicherung dazu beitragen, Beschäftigung zu fördern, was wiederum zu mehr Einnahmen und damit zu einer Stabilisierung der Finanzgrundlagen der Sozialversicherung insgesamt führen sollte (vgl. BTDrucks 15/1525, S. 72)."
Hier plappert das Bundesverfassungsgericht ungeprüft nach, dass die "Lohnnebenkosten" so hoch seien, dass sie Arbeitsplätze gefährdeten oder Investitionen in neue Arbeitsplätze verhinderten. Zahlreiche Analysen in den letzten 20 Jahren (siehe dazu u.a. die unter dem Suchbegriff zu findenden Beiträge in diesem Forum) haben aber nachgewiesen, dass der durch Sozialversicherungsbeträge bestimmte Anteil der Lohnnebenkosten allein wegen seiner geringen Höhe eine für die Wettbewerbsfähigkeit lediglich marginale Kostengröße an den im Wettbewerb einzig relevanten Gesamtkosten eines Produkts oder einer Dienstleistung darstellt - und selbst das nur, wenn es um den gesamten Arbeitgeberbeitrag z.B. zur Krankenversicherung ginge.
• Und noch deutlicher: "Es liegt auch innerhalb des dem Gesetzgeber eingeräumten Gestaltungsermessens, wenn er aus arbeitsmarktpolitischen Gründen der Senkung des Beitragssatzniveaus und damit auch der Lohnnebenkosten Priorität einräumt. Dabei liegt die Annahme, dass hohe Lohnnebenkosten zum Wegfall oder zum Nichtentstehen versicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse beitragen, in der Einschätzungsprärogative des zur Gestaltung des Sozialstaats berufenen Gesetzgebers …. Ein milderes Mittel stand ihm nach eigener Einschätzung vor dem Hintergrund der zeitgleich in die Wege geleiteten strukturellen Reformen nicht zur Verfügung; zentrale medizinische Leistungen zu rationieren, konnte von ihm von Verfassungs wegen nicht verlangt werden."
Es ist das gute Recht aller BürgerInnen und auch der Verfassungsrichter in politischen Debatten je nach politischer Couleur die Einschätzungen von Politikern über die Alternativlosigkeit ihrer Entscheidungen zu teilen oder auch nicht. Die "eigene Einschätzung" der Mehrheitsparteien im Bundestag kein "milderes Mittel" gehabt zu haben als die genannten Verschlechterungen, zum allein geltenden Maßstab für eine Entscheidung über dessen Verfassungsmäßigkeit zu erheben, legimiert allerdings die Feigheit oder Einfallslosigkeit der Politik. Die Verfassungsrichter ignorieren damit z.B. eine seit Jahren diskutierte politische Alternative zur Rationierung zentraler medizinischer Leistungen, in Gestalt der milliardenschweren Fülle von Über- und Fehlversorgung mit gesundheitlich nicht notwendigen Diagnosen und Therapien. Deren Abbau könnte doch durchaus "von Verfassungs wegen … verlangt" werden!?
• Angesichts der mehrfach betonten staats- und systemtragenden Bedeutung der Lohnnebenkosten verwundert die folgende Schlussfolgerung des BVerfG kaum mehr: "Bei einem Vergleich der Schwere der - unterstellten - grundrechtlichen Beeinträchtigung und der Bedeutung des mit der Gesetzesänderung verfolgten öffentlichen Belangs ist den Rentnern die ihnen auferlegte zusätzliche Beitragslast zumutbar. Sie ist nicht derart gravierend, dass sie von ihnen nicht getragen werden könnte, zumal die auferlegte zusätzliche Belastung einkommensproportional ausgestaltet ist."
Die komplette Begründung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts mit dem Aktenzeichen 1 BvR 79/09 vom 3.6.2014 ist kostenlos erhältlich.
Bernard Braun, 30.7.14
Kann Gutes zu viel sein aber ist das sprichwörtliche "gesunde Mittelmaß" wirklich gesund!?
Sowohl wenig körperliche Bewegung als auch sehr häufige oder sehr intensive körperliche Bewegung können bei gesunden Personen das gesundheitliche Risiko von Herz-Vorhofflimmern als auch bei bereits an einer koronaren Herzerkrankung leidenden Personen gefährliche kardiologische Ereignisse erhöhen - so jedenfalls das Ergebnis zweier Studien, die in der Fachzeitschrift "Heart" in den letzten Monaten erschienen sind.
In der ersten Studien erhoben Wissenschaftler 1996 die körperliche Aktivität von 44.410 schwedischen Männern (45 bis 79 Jahre alt) mit einem Fragebogen und verknüpften diese Daten mit deren medizinischen Daten aus den Folgejahren. Die Männer litten zu Beginn der Studie nicht an Vorhofflimmern. Die Beobachtungszeit betrug rund 12 Jahre. Die Männer, die im Alter von 30 Jahren mehr als 5 Stunden pro Woche intensiven Bewegungssport machten, hatten ein signifikant höheres Risiko (Risikorate RR=1,19), im weiteren Lebensverlauf an kardiologisch relevantem Vorhofflimmern zu erkranken als die Gleichaltrigen, die sich weniger als eine Stunde pro Woche intensiv sportlich betätigten. Dieses signifikante Risiko erhöhte sich sogar dann, wenn die intensiv übenden Männer in höheren Lebensjahren damit aufhörten (RR=1,49).
In der zweiten Studie wurden das Bewegungsverhalten und das Auftreten schwerer kardiologischer Ereignisse von 1.038 Männer mit einer koronaren Herzerkrankung über 10 Jahre hinweg beobachtet. Insgesamt hatten die Männer, die sich 2 bis 4 Tage pro Woche sich heftig bewegten, das geringste Risiko zu sterben oder ein kardiovaskuläres Ereignis zu erleben. Bei den Männern, die sich seltener intensiv bewegten als auch bei denen, die dies jeden Tag machten, waren beide Risiken höher. Bei der ersten Gruppe waren die Risiken um das zwei- bis vierfache und bei der zweiten Gruppe um das Zweifache gegenüber der sich moderat bewegenden Gruppe erhöht. Bei der Berechnung wurde der Einfluss möglicher Confounder und unterschiedlicher Trainingsdauern oder -frequenzen kontrolliert und ausgeschlossen.
Für sämtliche beobachteten Phänomene liefern die AutorInnen keine abschließenden Erklärungen oder Ursachen und empfehlen lediglich es in keine Intensitätsrichtung zu übertreiben.
Der Aufsatz mit den 1.038 Studienangehörigen A reverse J-shaped association of leisure time physical activity with prognosis in patients with stable coronary heart disease: evidence from a large cohort with repeated measurements von Ute Mons, Harry Hahmann und Hermann Brenner ist am 18. März 2014 online in der Zeitschrift "Heart" erschienen.
Die Studienergebnisse der Kohorte von fast 45.000 schwedischen Männer Atrial fibrillation is associated with different levels of physical activity levels at different ages in men von Nikola Drca, Alicja Wolk, Mats Jensen-Urstad und Susanna C Larsson ist online am 14. Mai 2014 ebenfalls in der Zeitschrift "Heart" erschienen. Für beide Aufsätze gibt es kostenlos nur das Abstract.
Bernard Braun, 19.5.14
"Schluss mit der Schlapphutmentalität" (Ärztezeitg.) des Gemeinsamen Bundesausschusses und mehr Professionalität - fordert OVG NRW
Eines der Grundprinzipien im deutschen Gesundheitssystem ist das der Selbstverwaltung der Körperschaften öffentlichen Rechts durch von den Versicherten und Arbeitgeber gewählte oder per Mitgliedschaft in einem sachkompetenten Verband oder einer Korporation berufene und ehrenamtlich tätige Personen.
Dieses Prinzip gilt mit diversen Abstrichen auch in der wesentlich jüngeren Einrichtung des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) als Hauptinstitution der Gemeinsamen Selbstverwaltung. Das Mitsprache- und -bestimmungsrecht der dort aktiven aber nicht aktiv z.B. durch Wahlen demokratisch legitimierten Vertretern der Leistungsanbieter, Krankenkassen und Patienten ist umso wichtiger, weil der G-BA faktisch eine Art "kleiner Gesetzgeber" ist. Seine auf wissenschaftliche Evidenz bestützten Bewertungen des Nutzens neuer und bis zur Kehrtwende im Koalitionsvertrag der Großen Koalition auch alter Leistungen tragen maßgeblich zur Entscheidung, ob Leistungen für GKV-Versicherte als Sachleistung im Rahmen ihres Versicherungsverhältnisses erhältlich sind oder nicht.
Wie immer, wenn Vertreter die Interessen einer größeren Personengruppe vertreten sollen bzw. Aufgaben übertragen bekommen haben, die sich auf die Lebensqualität der Vertretenen auswirken, ist eine notwendige Voraussetzung für deren dauerhafte Akzeptanz und Nutzen die größtmögliche Transparenz über die Akteure und deren Beratungen und Beschlüsse.
Wie schwierig dies werden kann und woran leitende Akteure des G-BA als zentrales Forum der Gemeinsamen Selbstverwaltung letztlich erst von Richtern erinnert werden müssen, zeigt ein zwischen 2007 und 2014 bis zum letztinstanzlichen Oberverwaltungsgericht (OVG) geführter Rechtsstreit zwischen dem G-BA und einem Pharmaunternehmen.
Letzteres wollte vom G-BA unter Hinweis auf das für Behörden geltende Informationsfreiheitsgesetz im Zusammenhang mit der Änderung eines Therapiehinweises Auskünfte zu dem Wirkstoff Montelukast erhalten, der in einem von ihm vertriebenen Arzneimittel enthalten ist. Erhalten wollte die Firma Firma wollte vor allem den Namen, Titel, akademischer Grad, Berufs- und Funktionsbezeichnung sämtlicher Mitglieder des Unterausschusses Arzneimittel sowie Namen, Titel, akademischer Grad, Berufs- und Funktionsbezeichnung sämtlicher Personen, die als Gutachter, Sachverständige abgegeben haben, die Sitzungsprotokolle aller Beratungen des Unterausschusses Arzneimittel, soweit sie Montelukast betreffen, die Voten der Patientenvertreter sowie die tragenden Gründe der beabsichtigten Entscheidung. Dies lehnte der G-BA mit dem Hinweis ab, das Informationsfreiheitsgesetz sei auf ihn nicht anwendbar, da er zum einen keine Behörde … sei und er zum anderen keine öffentlich-rechtlichen Verwaltungsaufgaben wahrnähme, sondern normsetzend tätig sei - so die Paraphrase seiner Argumente im jetzt veröffentlichten Urteil. "Unabhängig davon seien sämtliche vom Antrag erfassten Informationen einschließlich personenbezogener Daten vom Informationszugang ausgenommen. Dies sei erforderlich, um Versuchen der Einflussnahme durch Dritte entgegenzuwirken. Der Ausschluss gelte nach Abschluss der Beratungen fort, weil anderenfalls bestimmte Meinungsäußerungen einzelnen Mitgliedern des Unterausschusses zugeordnet werden könnten. Die Namen von Gutachtern, die an der Erarbeitung von Therapiehinweisen beteiligt seien, unterlägen … der strikten Geheimhaltung. Dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit sei durch die Veröffentlichung der tragenden Gründe seiner Entscheidung ausreichend Rechnung getragen."
"Zudem bestehe die Gefahr, dass Ausschussmitglieder ohne den Schutz der Vertraulichkeit ihres Namens bei zukünftigen Beratungen fachlich gebotene Meinungsäußerungen aus Furcht unterließen, dass ihre Stellungnahme in der Öffentlichkeit als Ausdruck mangelnder Unabhängigkeit gedeutet werden könnten. … Darüber hinaus befürchtet der Beklagte (G-BA), dass Mitglieder der Unterausschüsse in der Öffentlichkeit für unpopuläre Entscheidungen verantwortlich gemacht werden würden."
Es bestehe schließlich die Gefahr, dass "betroffene Pharmaunternehmen oder Interessengruppen die Kenntnis der Namen der Ausschussmitglieder nutzen würden, um mit diesen in der Absicht Kontakt aufzunehmen, ihre Interessen gezielt in die laufenden Beratungen einzubringen, und auf zu treffende Sachentscheidungen Einfluss zu nehmen. Auf diese Weise könnten Bindungen oder Abhängigkeiten entstehen, die dazu führen könnten, dass Mitglieder fachlich gebotene Meinungsäußerungen unterließen."
Das Oberverwaltungsgericht hat nun in zweiter Instanz und ohne eine Revision zuzulassen entschieden, der GBA sei zum einen sehr wohl eine Behörde im Sinne des Informationsfreiheitsgesetzes. Alle von dem betroffenen Unternehmen geforderten Auskünfte müsse der Bundesausschuss geben. Dies gälte aber nicht für personenbezogene Daten der in beratender Funktion tätigen Patientenvertreter und den Zugang zu Sitzungsprotokollen.
Die hierfür maßgeblichen Gründe waren folgende:
• "(solange Meinungsäußerungen nicht einer bestimmten Person zugeordnet werden können) ist … nicht ersichtlich, inwieweit hierdurch ein unbefangener und freier Meinungsaustausch beeinträchtigt werden soll"
• "Im Übrigen müssen sich die Mitglieder der Unterausschüsse des Beklagten, wie jeder Entscheidungsträger, der Verantwortung für ihr Handeln stellen."
• Es sei "zu berücksichtigen, dass sowohl die Mitglieder des Plenums, die die Richtlinien tatsächlich beschließen, als auch die Vorsitzenden der Unterausschüsse auf der Homepage des Beklagten namentlich genannt werden." Und: "Es ist nicht ersichtlich, dass zwischen diesen Personen und den übrigen Mitgliedern der Unterausschüsse in Bezug auf die Anfälligkeit für Annäherungsversuche interessierter Dritter Unterschiede bestehen."
• Gekrönt wird dieses Plädoyer mit einem offensichtlich nötigen Appell an die professionelle Ehre und das soziale Rückgrat der Akteure in der Gemeinsamen Selbstverwaltung: "Darüber hinaus darf von Mitgliedern der Unterausschüsse ebenso wie von den Mitgliedern des Plenums und anderen Entscheidungsträgern in Parlamenten, Verwaltung und Justiz erwartet werden, dass diese sich professionell verhalten und etwaigen unlauteren Versuchen der Einflussnahme durch Dritte wiederstehen. Dem entspricht, dass der Beklagte (G-BA) nicht vorgetragen hat, dass Mitglieder des Plenums oder die Vorsitzenden der Unterausschüsse, deren Identität bekannt ist, unlauteren Annäherungsversuchen ausgesetzt waren oder solchen Versuchen gar erlegen sind."
Völlig unabhängig von den dem Gericht wichtigen Argumente grenzt die Argumentation, man wolle die im G-BA aktiven Personen durch strikte Anonymität vor unehrenhaften Attacken von außen schützen, im Zeitalter von Internet und Gesichtserkennungs-Software an Weltfremdheit oder Naivität. Wer solchen Einfluss wirklich nehmen will, weiß innerhalb weniger Tage auch ohne Informationsfreiheitsgesetz wer in den Ausschüssen sitzt und verfügt über sämtliche personenbezogenen Angaben. Nur der normale Krankenversicherte oder Patient hat mal wieder keine Ahnung, wer da zu seinen Gunsten oder Ungunsten Entscheidungen fällt!
Das komplette, für Nichtjuristen etwas holprig zu lesende Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen •vom 15. Januar 2014 - Az. 8 A 467/11 ist kostenlos erhältlich.
Bernard Braun, 21.3.14
Polypharmazie bei Allgemeinärzten: Ein Drittel der Arzneimittel hatte keinen Nutzen - CDU/CSU/SPD-Kompromiss: Kasse statt Klasse!!
Polypharmazie, d.h. die gleichzeitige Verordnung von mehr als 5 unterschiedlichen Arzneimitteln in einem definierten Zeitraum, ist wegen der nicht mehr bekannten oder überschaubaren Wechselwirkungen und den praktischen Schwierigkeiten, sie korrekt einzunehmen, ein generelles Versorgungsproblem (vgl. dazu "Viel hilft viel" - Folgenreicher Irrtum über den Nutzen von Arzneimitteln. Polypharmazie-Studie und Leitlinie Multimedikation). Dass dabei von niedergelassenen Allgemeinärzten auch noch bis zu einem Drittel dieser Medikamente ohne eine wissenschaftliche Evidenz für ihren Nutzen verordnet werden, ist der wesentliche Fund einer am 15. November 2013 veröffentlichten Vorabstudie des Instituts für Allgemeinmedizin und Familienmedizin der Universität Witten/Herdecke.
In dieser Studie wurde das Verordnungsgeschehen von 169 Patienten aus 22 allgemeinmedizinischen Praxen untersucht, denen im Durchschnitt täglich rund neun verschiedene Arzneimittel verordnet worden waren.
Die Ergebnisse sahen so aus:
• Im Durchschnitt gab es für 2,7 Arzneimittel pro Patient keine wissenschaftliche Begründung für den Nutzen der Verordnung.
• "Über 90% der Patienten wiesen mindestens eine unbegründete Arzneimittelverschreibung auf."
• Bei 56% der Patienten gab es Dosierungsfehler, relevante Interaktionen zwischen den Medikamenten traten bei 59% der Patienten auf und Medikamente, die bei alten Menschen nicht verordnet werden sollten erhielten trotzdem 37% der über 65jährigen.
Die Forschergruppe um Andreas Sönnichsen halten als ERklärung die Hausärzte für "überfordert" die Medikamente kritisch zu durchforsten, vor allem wenn Patienten mit "langen Medikationslisten aus der Klinik entlassen werden oder von verschiedenen Fachärzten zurückkommen: "Wie sollen sie entscheiden, welches Medikament wirklich erforderlich ist".
"In einer neuen europaweiten Studie des Instituts für Allgemeinmedizin der Universität Witten/Herdecke soll den Hausärzten nun geholfen werden. Unter Berücksichtigung von Diagnosen, Laborwerten und Begleiterkrankungen wird eine elektronische Entscheidungshilfe Vorschläge machen, welche Medikamente am ehesten entbehrlich oder gar schädlich sind."
Dem Wissensansatz dieser Studie ist Erfolg zu wünschen. Zu bedenken ist allerdings dass besseres und elektronisch verfügbares Wissen allein nicht verlässlich die Verordnung von unwirkksamen, nicht indizierten oder zu vielen Arzneimitteln verhindert (vgl. dazu die aktuellen Studien zur besonderen Dynamik der Arzneimittel-Verordnung: "Overrides of medication-related clinical decision support alerts in outpatients" und 'Too much, too late': mixed methods multi-channel video recording study of computerized decision support systems and GP prescribing).
In diesem Zusammenhang sei schließlich daran erinnert, dass in Deutschland gegen die Verordnung von zu vielen Arzneimitteln, die keinen nachweisbaren Nutzen haben, nicht nur eine bessere Arztinformation helfen könnte. Seit 2011 schrieb ein Gesetz zunächst für neue, aber tendenziell auch für Altbestand-Medikamente vor, diese Medikamente bei fehlendem Zusatznutzen nur zu einem niedrigeren Preis als dem, den sich die Hersteller gedacht hatten, auf den Markt kommen zu lassen. Dies nahm in Kauf, dass Hersteller wegen Unrentabilität auch komplett auf das Angebot verzichten könnten.
Wie notwendig eine harte Prüfung des Nutzens ist und wie groß qualitative Effekte sein könnten, zeigten die ersten zwei Praxis-Jahre des Gesetzes. Selbst als jedem Hersteller klar war, seine neuen Medikamente würden nach den Kriterien und Methoden des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) aus dem Jahr 2011 auf ihren Zusatznutzen geprüft und ihr erzielbarer Preis hinge davon, waren von den 50 Medikamenten mit 78 Anwendungsmöglichkeiten, die der Gemeinsame Bundesausschuss bis Ende September 2013 bewertete, 55% ohne Zusatznutzen und nur 12% hatten einen beträchtlichen Zusatznutzen.
Um so unsinniger ist daher allerdings das zwischen den CDU/CSU und SPD-KoalitionsunterhändlerInnen erzielte "Verhandlungsergebnis(se) Gesundheit - Pflege, Stand: 18.11.2013; 23:08 Uhr". Dort wird auf die bisherige qualitative Nutzenbewertung für die Unmassen von bereits zugelassenen Arzneimitteln zu Gunsten einiger finanzieller Vorteile für die GKV verzichtet: "Die mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz eingeführte Nutzenbewertung und die an schließende Verhandlung von Erstattungsbeträgen für innovative Arzneimittel ist ein entscheidender Schritt für eine qualitätsorientierte und wirtschaftliche Arzneimittelversorgung. Allerdings zeigen sich beim Aufruf des so genannten Bestandsmarktes eine Reihe rechtlicher, verfahrenstechnischer und praktischer Probleme. Daher werden wir den gesamten Bestandsmarktaufruf nach § 35a Abs. 6 SGB V beenden. Dies gilt auch für laufende Verfahren. Um das hier ursprünglich geplante Einsparvolumen doch zu erreichen, werden wir das Preismoratorium auf dem Niveau der Preise vom 1.8. 2009 nahtlos fortführen und den Herstellerrabatt auf verschreibungspflichtige Arzneimittel nach § 130a Abs. 1 SGB V ab dem Jahr 2014 von sechs auf sieben Prozent erhöhen." Man muss sich auf der Zunge zergehen lassen, dass hier ein von der immer als pharmanah kritisierten FDP und der CDU/CSU verabschiedetes Gesetz mit aktiver Unterstützung der SPD gekippt bzw. an einem elementaren Punkt entschärft wird.
Einen Überblick über die Witten-Herdecker Vorabstudie vermittelt eine Pressemitteilung der Universität.
Über das Ziel der Hauptstudie Medikationscheck per Software gibt ein Artikel in einer Branchenzeitschrift etwas Auskunft.
Bernard Braun, 25.11.13
Aktuelle Chronologien der gesetzlichen Neuregelungen für Kranken- und Pflegeversicherung 1998-2013
Das Politikermantra "Nach der Reform ist vor der Reform" gilt in besonderem Maße für die gesetzliche Regulierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und des über sie zugänglichen Leistungs- und Anbietersystems. Seit dem Beginn der neueren Gesundheitspolitik im Jahr 1977 vergeht daher kein Jahr ohne wesentliche neue oder novellierte alte Gesetze mit Tausenden neuer Bestimmungen und einigen Strukturreformen (z.B. Einführung der Kassenwahlfreiheit, Fallpauschalen/DRG-Finanzierung der stationären Versorgung, Einführung des Gemeinsamen Bundesausschuss als "kleinem Gesetzgeber"). Darüber auch nur grob den Überblick zu behalten ist für alle die am und im Gesundheitssystem interessiert und aktiv sind, von ihm betroffen und an ihm interessiert sind, nicht einfach.
Hier erste Hilfe zu verschaffen war und ist u.a. das Ziel der in diesem Forum zugänglichen "Meilensteine". Leider sind diese im Moment nicht über das Jahr 2009 hinaus aktuell.
Deshalb ist es erfreulich, dass die Macher der Website "Sozialpolitik aktuell" aus dem Institut für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg/Essen neben vielen anderen wichtigen und hilfreichen Dokumenten, Übersichten und grafischen Darstellungen auch chronologische Übersichten zu Gesetzen in wichtigen Bereichen der Sozialversicherung mit ausführlichen Zusammenfassungen der wichtigsten Inhalte erstellen und veröffentlichen.
Wer also für die Zeit ab 2009 Informationen zu gesetzlichen Neuregelungen in der Krankenversicherung sucht, findet diese in der kostenlos erhältlichen Chronologie gesetzlicher Neuregelungen - Krankenversicherung und Gesundheitswesen 1998 - 2013. Die umfangreiche Dokumentation mit Stand September 2013 reicht vom "Dritten Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften" aus dem August 2013 bis zum Gesetz zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung - GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz (GKV-SolG) aus dem Dezember 1998 zurück.
Wer bei der Gelegenheit auch noch wissen will, welche gesetzlichen Regelungen in der Pflegeversicherung zwischen 1999 und 2013 kamen und gingen, kann dies in der ebenfalls aktuellen Chronologie gesetzlicher Neuregelungen Pflegeversicherung 1999 - 2013 in Erfahrung bringen. Die deutlich kürzere Sammlung reicht vom Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz aus dem Oktober 2010 bis zum pflegerelevanten Haushaltssanierungsgesetz aus dem Dezember 1999.
Und wer diese Chronologien auch noch in der Darstellungsform und mit weiteren Informationen angereichert in den "Meilensteinen" nachlesen will, findet sie dank der freundlichen Unterstützung der KollegInnen der Universität Duisburg/Essen demnächst auch dort.
Bernard Braun, 31.10.13
Bundessozialgericht: Warum darf der G-BA nicht einfach die Mindestmengen für die Geburt und Behandlung von Frühgeborenen erhöhen?!
Bereits am 18. Dezember 2012 hatte das Bundessozialgericht (BSG) einen Revisionsantrag des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) gegen ein Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Berlin-Brandenburg zum G-BA-Beschluss die Mindestmenge für die Versorgung von Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht von unter 1250 Gramm (so genannte Level 1-Geburten) von 14 auf 30 solcher Geburten zu erhöhen, abgelehnt. Der G-BA hatte sich wie immer bei solchen Entscheidungen auf einen Bericht des "Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)" gestützt. Darin sah sich das IQWiG aber aufgrund der Studienlage und in den Worten des BSG "nachvollziehbar außerstande, Schwellenwerte, eine bestimmte Mindestmenge oder auch nur einen Mindestmengenkorridor vorzuschlagen."
Welche maßgeblichen Gründe bei seiner Entscheidung eine Rolle gespielt haben, veröffentlichte jetzt das BSG schriftlich.
Für die im Urteil vollzogene Gratwanderung sind folgende Argumente die wichtigsten:
• Generell unterstreicht das BSG, der G-BA habe seit 2004 das gesetzliche Recht "planbare Leistungen zu beschließen, bei denen die Qualität des Behandlungsergebnisses in besonderem Maße von der Menge der erbrachten Leistungen abhängig ist." Dies bedeute Mindestmengen je Arzt oder Krankenhaus. Und bei der Leistung der Level-1-Geburten sei die Festlegung auf 14 Geburten aus mehreren Gründen zulässig.
• Der Vorrang von Qualitätssicherung: "Die Abwägung der Bedeutung des Interesses der Kinderkliniken, uneingeschränkt Kinder von Level-1-Geburten zu versorgen, mit dem Interesse an einer besseren Versorgungsqualität für Frühgeborene ergibt einen Vorrang der Qualitätssicherung zugunsten der hiervon betroffenen Individual- und Gemeinwohlbelange."
• Die notwendige Qualitätsorientierung der Berufsausübung: "Art 12 Abs 1 S 1 GG schützt - neben der Freiheit der Berufswahl - die Freiheit der Berufsausübung. Zu den Rahmenbedingungen der Berufsausübung gehört für Krankenhäuser auch, dass sie bestimmte Qualitätsanforderungen erfüllen müssen, um einzelne Operationen und Prozeduren, aber auch um eine aus einer Vielheit von Einzelmaßnahmen bestehende Behandlung eines bestimmten Krankheitsbildes erbringen zu dürfen."
• Das BSG beginnt mit der Feststellung, dass es für eine Mindestmengenentscheidung keiner "'besonderen' Kausalität zwischen Leistungsmenge und Ergebnisqualität" bedarf. "Vielmehr genügt ein nach wissenschaftlichen Maßstäben wahrscheinlicher Zusammenhang zwischen Behandlungsmenge und -qualität."
• Ist der hier zu bewertende Zusammenhang "nicht statistisch (u.a. durch risikoadjustiert bewertete Korrelationen) bewiesen, ist er anhand medizinischer Erfahrungssätze ergänzend zu untermauern." Dabei reicht aber "nicht schon die landläufige Erfahrung, dass routinierte Praxis im Allgemeinen eine bessere Ergebnisqualität sichert als deren Fehlen."
• Für das BSG "ermittelte (der G-BA - Einfügung des Verfassers) den zugrunde liegenden Sachverhalt unzureichend" als er die Mindestmenge konkret von 14 auf 30 erhöhte. Dadurch gelangte er "fehlerhaft zu der Überzeugung, dass die neue höhere Mindestmenge die Mortalität bei der Behandlung von Level-1-Geburten bundesweit einheitlich stärker reduzieren könne." Die Heraufsetzung sei daher "nichtig".
Die Entscheidung und die ihr zugrundegelegten Kriterien mögen nach den immer wieder publik werdenden tödlichen Risiken für Frühgeborenen vielleicht zu hart erscheinen. Hier auf einen besonders schlüssigen wissenschaftlichen Nutzennachweis zu verzichten, könnte aber entsprechend oberflächlich begründeten und wissenschaftlich unzulänglichen Entscheidungen für nutzlose Leistungen oder sinnlose Leistungsmengen durch andere Akteure oder Leistungsanbieter Tür und Tor öffnen.
Die vollständige schriftliche Begründung für das Mindestmengenurteil des BSG vom 18.12.2012, B 1 KR 34/12 R ist kostenlos erhältlich.
Bernard Braun, 12.10.13
Wo Gesundheit suggeriert wird, muss welche drin sein: Werbung für "bekömmlichen" Wein endgültig auch in Deutschland unzulässig
Mit einem am 14. Februar 2013 veröffentlichten Urteil schloss sich das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig einer zuvor vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) nach europäischem Recht gefällten Entscheidung an, und erklärte die Weinwerbung mit dem Prädikat "bekömmlich" auch in Deutschland verbindlich für unzulässig.
Damit unterlag endgültig eine Winzergenossenschaft aus Rheinland-Pfalz, die ihre Weine unter der Bezeichnung "Edition Mild bekömmlich" mit dem Zusatz "sanfte Säure" vermarktet hatte. Auf dem Etikett hieß es: "Zum milden Genuss wird er durch Anwendung unseres besonderen (..) Schonverfahrens zur biologischen Säurereduzierung."
Sowohl die zuständige Behörde, zwei bundesrepublikanische gerichtliche Instanzen und schließlich der EuGH waren der Ansicht, der normale Verbraucher verstehe unter dem Prädikat "bekömmlich" einen Hinweis auf die besondere Magenverträglichkeit dieser Weine und damit eine gesundheitsbezogene Angabe. Damit verstoße die Werbung gegen die so genannte Health-Claims-Verordnung über die Verwendung nährwert- und gesundheitsbezogener Angaben bei Lebensmitteln (Nr. 1924/2006), die bei alkoholischen Getränken mit einem höheren Alkoholgehalt als 1,2 Volumenprozent generell unzulässig sei.
In der Mitteilung über das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts wird der weitere Rechtsweg bis zum EuGH so zusammengefasst: "Auf die Revision der Klägerin legte das Bundesverwaltungsgericht dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) im Jahr 2010 mehrere Fragen zur Auslegung des Begriffs der gesundheitsbezogenen Angabe vor (Pressemitteilung Nr. 82/2010 vom 23. September 2010). Mit Urteil vom 6. September 2012 (Rs. C-544/10) hat der EuGH entschieden, dass eine Bezeichnung wie "bekömmlich" verbunden mit dem Hinweis auf einen reduzierten Gehalt eines Stoffes, der von einer Vielzahl von Verbrauchern als nachteilig angesehen wird, eine gesundheitsbezogene Angabe im Sinne der Verordnung darstellt. Der EuGH hat ferner festgestellt, dass das ausnahmslose Verbot, eine solche Angabe bei der Vermarktung von Wein zu verwenden, mit den durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten der Berufsfreiheit und der unternehmerischen Freiheit vereinbar ist."
Und: "Auf dieser Grundlage hat das Bundesverwaltungsgericht nunmehr die Revision zurückgewiesen (Aktenzeichen 3 C 23.12) und die Entscheidungen der Vorinstanzen bestätigt."
Die Pressemitteilung 9/2013 des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Februar 2013 steht kostenlos zur Verfügung. Und auch das schriftliche Urteil ist komplett kostenlos erhältlich.
Das komplette Urteil des EuGH vom 6. September 2012 kann kostenlos heruntergeladen werden.
Die Health Claims-Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel (ABl. L 404, S. 9) in der zuletzt durch die Verordnung (EU) Nr. 116/2010 der Kommission vom 9. Februar 2010 (ABl. L 37, S. 16) geänderten Fassung hat eigentlich anders als EU-Richtlinien unmittelbare Geltung in allen EU-Mitgliedsländern.
Zur Konkretisierung der Health Claimsverordnung setzte die EU-Kommission am 16. Mai 2012 eine weitere Verordnung, nämlich die Verordnung (EU) Nr. 432/2012 der Kommission zur Festlegung einer Liste zulässiger anderer gesundheitsbezogener Angaben über Lebensmittel als Angaben über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos sowie die Entwicklung und die Gesundheit von Kindern in Kraft. Darin finden sich auf 40 Seiten, die aus rund 44.000 eingereichten oder recherchierten durch Experten extrahierten gesundheitsbezogenen Angaben, die in der EU uneingeschränkt oder mit präzisen zusätzlichen Angaben zu Werbezwecken benutzt werden dürfen.
Mit Sicherheit ist zu erwarten, dass auf der Basis dieser Verordnung, unabhängig davon, wie verlässlich und vollständig sie ist, auch künftig Werbeaussagen mit gesundheitsbezogenen Angaben insbesondere von Unternehmen der Gesundheitswirtschaft untersagt werden können.
Bernard Braun, 16.2.13
Wie der Streit zweier Arzneimittelhersteller die Werbung für Arzneimittel zukünftig verlässlicher machen könnte - oder auch nicht!
Erneut hat ein deutsches Gericht, und dieses Mal sogar der Bundesgerichtshof (BGH), etwas zu regeln versucht, was eigentlich Aufgabe der Gesundheitspolitik sein müsste. In einem Urteil (Aktenzeichen: I ZR 62/11 - Basisinsulin mit Gewichtsvorteil) dessen Kernaussagen in der Pressemitteilung 22/2013 des BGH vom 6. Februar 2013 veröffentlicht wurden, stellt das Gericht in einem Rechtsstreit zwischen den Insulin-Produzenten Sanofi-Pasteur und Novo Nordisk folgendes Kriterium für die "Zulässigkeit einer Heilmittelwerbung" auf: "Studienergebnisse, die in der Werbung oder im Prozess als Beleg einer gesundheitsbezogenen Aussage angeführt werden, (sind) grundsätzlich nur dann hinreichend aussagekräftig, wenn sie nach den anerkannten Regeln und Grundsätzen wissenschaftlicher Forschung durchgeführt und ausgewertet wurden. Dafür ist im Regelfall erforderlich, dass eine randomisierte, placebokontrollierte Doppelblindstudie mit einer adäquaten statistischen Auswertung vorliegt, die durch die Veröffentlichung in den Diskussionsprozess der Fachwelt einbezogen worden ist."
In dem Rechtsstreit ging es darum, dass der dänische Pharmakonzern für sein Insulin zur Behandlung von Diabetes mellitus mit den Ergebnissen einer Metaanalysen-Studie geworben hatte, nach der es weniger dick mache als andere Insuline. Dies hielt der französische Pharmakonzern Sanofi-Pasteur, der ebenfalls Insulinpräparate anbietet, für irreführende Werbung und versuchte seit 2009 diese per Gerichtsurteil verbieten zu lassen. Über zwei Vorinstanzen landete das Verfahren jetzt beim BGH.
Dieses Gericht stellte nicht nur den zitierten Qualitätsmaßstab für die Arzneimittelwerbung auf, sondern kritisierte konkret, dass die Werbeaussage von Novo Nordisk sich auf eine Subgruppenanalyse bzw. eine Metaanalyse mehrerer wissenschaftlicher Untersuchungen gestützt habe, deren grundsätzlicher methodischer Charakter und konkrete Hinweise auf begrenzte Aussagefähigkeit unerwähnt geblieben seien.
Ob Ergebnisse einer Metaanalyse "eine Werbeaussage tragen können, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Dabei kommt es für die Frage der Irreführung neben der Einhaltung der für diese Studien geltenden wissenschaftlichen Regeln vor allem darauf an, ob der Verkehr in der Werbung hinreichend deutlich auf die Besonderheiten der Art, Durchführung oder Auswertung dieser Studie und gegebenenfalls die in der Studie selbst gemachten Einschränkungen im Hinblick auf die Validität und Bedeutung der gefundenen Ergebnisse hingewiesen und ihm damit die nur eingeschränkte wissenschaftliche Aussagekraft der Studie vor Augen geführt wird. Solche aufklärenden Hinweise enthält die beanstandete Werbung nicht, obwohl die in Bezug genommene Studie Anlass dazu gegeben hat."
Der BGH hält also in dieser Hinsicht die Klage von Sanofi-Pasteur für berechtigt und verweist den Fall zur endgültigen Entscheidung an das zuvor urteilende Kammergericht Berlin zurück. Dieses hat nun unter Berücksichtigung der Maßstäbe des BGH endgültig die Qualität der Metaanalyse zu prüfen.
Der zusätzliche Hinweis des BGH, die Behauptung des Gewichtsvorteils wäre "ohne konkreten Bezug zu der Studie … im Streitfall rechtlich nicht zu beanstanden", da sich dies "aus der arzneimittelrechtlichen Zulassung und der Fachinformation entnehmen lässt", ist aber aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht sehr problematisch und entschärft die hohen wissenschaftlichen Anforderungen des Gerichts erheblich. Denn der Hinweis, ein Hersteller könne sich bei der Werbung für sein Produkt "zum wissenschaftlichen Nachweis der Richtigkeit seiner Werbebehauptung auf den Inhalt der Zulassung und der Fachinformation berufen, weil diese Unterlagen Gegenstand der Überprüfung durch die Zulassungsbehörde sind" ignoriert die seit vielen Jahren in der Fachliteratur vielfach kritisierten Qualitätsmängel der Zulassungspraxis in Deutschland und auf europäischer Ebene. Die Lektüre mehrerer Jahrgänge des renommierten "Arznei-Telegramm" bzw. eine Googlerecherche mit den Suchworten "Arzneimittelzulassung, Fachinformation, Arznei-Telegramm" zeigt, dass viele Arzneimittel trotz unzulänglicher Studien zugelassen wurden, deutliche Warnungen vor massiven unerwünschten Wirkungen ignoriert werden, Arzneimittel in Deutschland oder Europa zugelassen werden, deren Zulassung z.B. die Zulassungsbehörde in den USA explizit verweigert hat und Fachinformationen unvollständig sind oder unerwünschte Wirkungen hartnäckig verschweigen.
Die vom BGH vertretene Meinung, die einzige Möglichkeit die Wissenschaftlichkeit der Zulassungspraxis zu erschüttern, wären neue wissenschaftliche Erkenntnisse, "die gegen die wissenschaftliche Tragfähigkeit der durch die Zulassung belegten Aussagen sprechen" ist daher im Lichte einer kritischen Sichtung der Zulassungspraxis selbst nicht wissenschaftlich abgesichert. Der Hinweis des Gerichtes, Sanofi-Pasteur habe keine neuen Erkenntnisse über das Präparat ihres Konkurrenten geltend gemacht und damit sei die Klageabweisung in der Vorinstanz in dieser Hinsicht rechtens gewesen, mag zwar juristisch stimmen, doch könnte Sanofi-Pasteur immerhin auch versuchen die Wissenschaftlichkeit der Zulassungsbasis in Zweifel zu ziehen.
Die Mitteilung 22/2013 der Pressestelle des BGH "Bundesgerichtshof zum Merkmal der gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnis als Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Heilmittelwerbung" vom 6. Februar 2013 ist kostenlos erhältlich. Wer auch den Text BGH-Entscheidung lesen will - was sicherlich auch für Nichtjuristen zu empfehlen ist -, kann sich auf der Website des BGH bereits jetzt und unaufwändig für den Empfang per E-Mail anmelden.
Bernard Braun, 8.2.13
GKV-Mitglieder müssen nicht lückenlos Leistungsrecht kennen und Kassen haften für "Versicherungsvertretertricks" ihrer Mitarbeiter
Ein letztinstanzliches Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Karlsruhe vom 18. Dezember 2012 vermittelt einen interessanten Einblick in das Klima des in der GKV herrschenden Wettbewerbs um neue Mitglieder und den u.a. durch Zielvereinbarungen aufgebauten Druck auf die mit der Mitgliedergewinnung beauftragten Mitarbeiter in den GKV-Kassen. Auch wenn es dabei zu offensichtlich falschen oder ungesetzlichen Zusagen an künftige Mitglieder und zum Einsatz teilweise absurder Mittel kommt, bedeutet dies noch lange nicht, dass der "schwarze Peter" beim Mitglied hängen bleiben muss.
In dem jetzt rechtlich geklärten Fall wechselte eine Frau mit einer Krebserkrankung nach einem Beratungsgespräch mit einem Kassenmitarbeiter ihre Kasse. Das künftige Mitglied ließ sich wegen ihrer Krebserkrankung naturheilkundlich behandeln und kaufte unter anderem Nahrungsergänzungsmittel, Vitamine, Dinkelkaffee, Kräuterblut, Natron, Mineraltabletten und Bierhefe. Die Frau konnte u.a. auch durch Zeugen belegen, dass ihr der Mitarbeiter mündlich die Erstattung der Kosten für diese Mittel durch ihre neue Kasse zugesagt hatte. Die Belege für die von ihr zum Teil verauslagten Kosten für diese naturheilkundliche ärztliche Behandlung, die Nahrungsergänzungsmittel, auch für Zahnreinigung, Praxisgebühren sowie Zuzahlungen für Massagen und für Medikamente reichte sie bei dem Kassenmitarbeiter ein und bat darum sie an die Kasse weiterzuleiten. Da dem Kassenmitarbeiter aber spätestens zu diesem Zeitpunkt klar war, dass die Kostenerstattung in diesem Fall unmöglich war, griff er zu einem absurden Mittel: Er beglich die Beträge aus seiner eigenen Tasche - ohne dass die spätere Klägerin dies erkennen konnte! Nachdem dies offensichtlich nach einer Weile nicht mehr finanzierbar war, stoppte er die Erstattung. Als sich daraufhin das Neumitglied direkt an ihre Krankenkasse wandte, flog der Schwindel auf. Die Krankenkasse weigerte sich dann aber unter Berufung auf die angeblich für jedes Mitglied bekannte Rechtslage zu den engen Grenzen der Kostenerstattung, einen Betrag von mehreren Tausend Euro zu begleichen. Dabei spielten Argumente ein Rolle, die das OLG in seinem Urteil so zusammenfasste: "Unabhängig von einem Wechsel der Krankenkasse seien die geltend gemachten Kostenpositionen nicht erstattungsfähig und medizinisch nicht erforderlich. Die Klägerin treffe ein weit überwiegendes, eine Schadensersatzpflicht ausschließendes Mitverschulden. Die behauptete Zusage des Zeugen K (der Kassenmitarbeiter) sei derart lebensfremd gewesen, der Umfang der gesetzlichen Leistungen auch allgemeinhin bekannt, so dass die Klägerin nicht auf die Zusage habe vertrauen dürfen, zumindest aber darauf hätte bestehen müssen, dass ihr diese schriftlich gegeben werde."
So kam es zur Klage, die über ein vor dem Landgericht gewonnenes Verfahren zuletzt zum OLG Karlsruhe führte. Beide Gerichte hielten die Schadenersatzansprüche der Frau für rechtens.
Das OLG stellte bei dieser Gelegenheit grundsätzlich drei Dinge zum Verhältnis zwischen gesetzlichen Krankenkassen und ihren Mitgliedern fest:
• Krankenkassen sind keine Wirtschaftsunternehmen, sondern Körperschaften öffentlichen Rechts, deren Handeln besonderen Ansprüchen genügen muss. Den von Kassen mit der Gewinnung neuer Mitglieder beauftragten Mitarbeiter muss dies unmissverständlich klar gemacht werden und vor unseriösen Versprechungen als Mittel gewarnt werden. Im OLG-Urteil steht dazu u.a.: "Bei Wahrnehmung der ihr übertragenen Aufgaben im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung obliegt der Beklagten bzw. ihren zuständigen Amtsträgern - …- die Verpflichtung zu gesetzeskonformen Verwaltungshandeln. Nach § 14 SGB I sind die Sozialleistungsträger zu einer zutreffenden Beratung der Versicherten über die Rechte und Pflichte in der gesetzlichen Krankenversicherung verpflichtet. Auskünfte und Belehrungen sind grundsätzlich richtig, klar, unmissverständlich, eindeutig und vollständig zu erteilen … . Die damit im Vorfeld des Wechsels der Klägerin zur Beklagten sowie die danach entfaltete Beratungstätigkeit des Zeugen K im Rahmen von § 14 SGB I ist als hoheitliches Handeln anzusehen."
• Die in der Tat immer unübersichtlicher werdende Welt des SGB V darf sich nicht zu Lasten des Krankenversicherten auswirken. Dazu das OLG: "Aufgrund der Komplexität des Sozialversicherungsrechts und der Verzahnung der gesetzlichen Krankenversicherung mit anderen Sozialversicherungsbereichen (Pflege, Rentenrecht, Sozialhilfe) kann nicht davon ausgegangen werden, dass in der Öffentlichkeit der Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung auch in den Details in der Weise bekannt ist, dass sich die Unrichtigkeit der Auskünfte des Zeugen K der Klägerin aufdrängen musste."
• Daraus folgt dann auch, dass dem Versicherten aus seiner Unkenntnis der Rechtslage grundsätzlich kein (finanzieller) Nachteil entstehen darf. Daher schließt das OLG seine Begründung folgendermaßen: "Nach dem Schutzzweck der verletzten Amtspflicht kann die Klägerin Erstattung der Kosten verlangen, die ihr entstanden sind, weil sie nicht zutreffend über den Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung informiert worden ist und daher nicht erstattungsfähige Leistungen in Anspruch genommen hat. Gerade die Beratungspflicht nach § 14 SGB I soll Nachteilen des Versicherten vorbeugen, die ihm dadurch entstehen können, dass er sich in Unkenntnis der Leistungen des Sozialleistungsträgers befindet."
Da nicht jeder künftige Fall von Falschauskünften zum Zwecke der Mitgliedergewinnung so ablaufen muss wie der vorliegende, empfehlen Kommentatoren jeder Person in ähnlicher Konstellation, sich Leistungszusagen vor einem Kassenwechsel schriftlich geben zu lassen oder Zeugen beizuziehen.
Das Urteil des OLG Karlsruhe Urteil vom 18.12.2012, 12 U 105/12: Amtshaftung einer gesetzlichen Krankenkasse wegen unrichtiger Auskunft der Mitarbeiter über den Leistungsumfang; Gegenstand des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ist komplett kostenlos auf dem Urteils-Server der baden-württembergischen Justiz herunterladbar.
Bernard Braun, 13.1.13
Was wäre, wenn kommunale Krankenhäuser Weihnachtsmärkte wären? Schluss mit ihrer Privatisierung!?
Es "steht…nicht im freien Ermessen einer Gemeinde, 'freie Selbstverwaltungsangelegenheiten' zu übernehmen oder sich auch jeder Zeit wieder dieser Aufgaben zu entledigen. Gehören Aufgaben zu den Angelegenheiten des örtlichen Wirkungskreises, so darf sich die Gemeinde im Interesse einer wirksamen Wahrnehmung dieses örtlichen Wirkungskreises, der ausschließlich der Gemeinde, letztlich zum Wohle der Gemeindeangehörigen, anvertraut ist, nicht ihrer gemeinwohlorientierten Handlungsspielräume begeben. Der Gemeinde steht es damit nicht grundsätzlich zu, sich ohne Weiteres der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zu entledigen. Anderenfalls hätten es die Gemeinden selbst in der Hand, den Inhalt der kommunalen Selbstverwaltung durch Abstoßen oder Nichtwahrnehmung ihrer ureigenen Aufgaben auszuhöhlen. Um ein Unterlaufen des ihr anvertrauten Aufgabenbereichs zu verhindern, muss sich die Gemeinde grundsätzlich zumindest Einwirkungs- und Steuerungsmöglichkeiten vorbehalten, wenn sie die Angelegenheiten des örtlichen Wirkungskreises anderen übertragen will. Sie kann sich damit nicht ihres genuinen Verantwortungsbereichs für die Wahrnehmung ihrer Angelegenheiten des örtlichen Wirkungskreises entziehen. Will sie Dritte bei der Verwaltung bestimmter Bereiche ihres eigenen Aufgabenbereichs einschalten, die gerade das Zusammenleben und das Zusammenwohnen der Menschen in der politischen Gemeinschaft betreffen, so muss sie ihren Einflussbereich über die Entscheidung etwa über die Zulassung im Grundsatz behalten. Der Gemeinde ist es verwehrt, gewissermaßen den Inhalt der Selbstverwaltungsaufgaben selbst zu beschneiden oder an Dritte abzugeben."
Wer glaubt, hier handle es sich um eine Passage aus dem neuesten kommunalpolitischen Grundsatzpapier der Gewerkschaft Ver.di irrt und darf ein zweites Mal raten.
"Aus der bundesverfassungsrechtlichen Garantie der kommunalen Selbstverwaltung folgt, dass sich eine Gemeinde im Interesse einer wirksamen Wahrnehmung der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft nicht ihrer gemeinwohlorientierten Handlungsspielräume begeben darf. Eine materielle Privatisierung eines kulturell, sozial und traditionsmäßig bedeutsamen" Bereichs, "der bisher in alleiniger kommunaler Verantwortung betrieben wurde, widerspricht dem. Eine Gemeinde kann sich nicht ihrer hierfür bestehenden Aufgabenverantwortung entziehen. Ihr obliegt vielmehr auch die Sicherung und Wahrung ihres Aufgabenbereichs, um eine wirkungsvolle Selbstverwaltung und Wahrnehmung der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zu gewährleisten."
Wer immer noch an Ver.di oder eine kommunalpolitische Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialisten in der SPD denkt, aber das Gefühl hat, das passe "irgendwie" nicht zu den in seiner Gemeinde laufenden Absichten ein bisher kommunales Krankenhaus an einen privaten Krankenhaus-Träger zu verkaufen oder zu verscherbeln, irrt erneut, aber goldrichtig.
Beide Zitate stammen aus einem Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Mai 2009. Und auch wenn es sich konkret um ein letztinstanzliches Urteil zur Privatisierung des lange Zeit in alleiniger kommunaler Verantwortung betriebenen Offenbacher Weihnachtsmarktes handelt, gehören natürlich Krankenhäuser ohne Zweifel zu den sozial bedeutsamen Bereichen einer Kommune.
Und wem dies zu spekulativ erscheint, kann sich durch den Kommentar der privaten Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers (PwC) eines besseren belehren lassen: "Diese Grundsatzentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts könnte sich auch auf andere Angelegenheiten der kommunalen Selbstverwaltung auswirken. Das Urteil beschränkt die Privatisierungsmöglichkeiten einer Gemeinde zumindest auf kulturell, sozial und traditionsmäßig bedeutsame Aufgabenbereiche….Ferner ist nun das rechtliche Risiko deutlich gestiegen, dass private Dritte Privatisierungsentscheidungen einer Gemeinde gerichtlich angreifen und womöglich ganz verhindern."
Und wie viele "gerichtlichen Angriffe" auf Privatisierungen kommunaler Krankenhäuser oder Schwimmbäder gibt es seit 2009? Richtig geraten: keine (bekannt gewordenen).
Die "Entdeckung" dieses Urteils ist dem Geschäftsführer der Frankfurter Nicht-Regierungsorganisation medico international zu verdanken, der im medico Rundschreiben 03/2012 mit seinem Beitrag Bescherung im Gesundheitswesen darauf aufmerksam machte. Zu weiterer Verbreitung dieses Wissens trug nun der
Frankfurter Chirurg Bernd Hontschik bei, der neben seiner Praxis auch noch wöchentlich in der "Frankfurter Rundschau" engagierte und meist kluge Kommentare zur gesundheitspolitischen Situation in Deutschland verfasst und Herausgeber der im Suhrkamp-Verlag erscheinenden Buchreihe "Medizin Human" ist. Die Kommentare kann man entweder in der FR lesen oder sie sich regelmäßig kostenlos zumailen lassen (chirurg@hontschik.de).
Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts mit dem Aktenzeichen 8 C 10.08 kann komplett kostenlos heruntergeladen werden und ist auch außerhalb der zitierten Passagen für Nichtjuristen interessant und verständlich.
Und auch der PwC-Kommentar "Privatisierung öffentlicher Einrichtungen durch die Gemeinde" ist in Gänze auf der Website der wahrscheinlich auch gelegentlich mit Krankenhaus-Privatisierungen befassten Beratungsfirma kostenlos erhältlich.
Bernard Braun, 30.9.12
"Wo Gesundheit drauf steht, muss auch nachweisbar Gesundheit drin sein" - Wie ein Gericht "Gesundheits"wirtschaft beim Wort nimmt
Einem nicht kleinen Teil der allenthalben von ihren Anbietern aber auch von wissenschaftlichen Experten gepriesenen Expansion der Gesundheitswirtschaft könnte die werbewirksame Gesundheitsbezogenheit verloren gehen, wenn die Kernargumente eines bereits im November letzten Jahres gefällten Urteils des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt/Main durch den als Revisionsinstanz zuständigen Bundesgerichtshof bestätigt werden und dann Schule machen werden.
In dem Verfahren ging es darum, unter welchen Voraussetzungen gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel, konkret ging es um einen Pilzextrakt, mit der EU-weiten so genannten "Health-Claims-Verordnung (HCV)" und mit weiteren Verordnungen des Europäischen Parla-ments und des Rates (so genannte "Novel-Food-Verordnung") vereinbar sind, die verlangt, dass das Versprechen gesundheitlicher Wirkungen wissenschaftlich abgesichert sein muss.
Ein Kläger betrachtete entsprechende Aussagen eines Anbieters dieses Pilzextraktes als wettbewerbswidrig und klagte auf Unterlassung.
Das Landgericht hatte dem entsprochen und für eine Reihe der Vitalpilz-Lebensmittel zahlreiche gesundheitsbezogene Werbeaussagen (z.B. "Zur Unterstützung eines gesunden Herz-Kreislaufs verbessert dieser Vitalpilz die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit bei Stress." oder "Vitalpilz zur Unterstützung einer gesunden Verdauung.") untersagt.
Dagegen hatte der Anbieter der Vitalpilzpräparate vor dem Oberlandesgericht weiter geklagt.
Dieses Gericht wies jetzt diese Klage ab und gab dem Kläger u.a.mit folgenden Argumenten recht:
• "Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bezeichnet der Begriff "gesundheits-bezogene Angabe" für die Zwecke der HCV jede Angabe, mit der erklärt, suggeriert oder auch nur mittelbar zum Ausdruck gebracht wird, dass ein Zusammenhang zwischen einer Lebensmittelkategorie, einem Lebensmittel oder einem seiner Bestandteile einerseits und der Gesundheit andererseits besteht … . Darüber hinaus erfasst die HCV auch Verweise auf nichtspezifische allgemeine Vorteile des Nährstoffs oder Lebensmittels für die Gesundheit im Allgemeinen oder das gesundheitsbezogene Wohlbefinden … ."
• "Die streitgegenständlichen Aussagen sind ausnahmslos gesundheitsbezogene Angaben im Sinne dieser Definition. Denn sie stellen einen Zusammenhang zwischen dem Konsum der beworbenen Produkte und der Gesundheit des Anwenders her. Das gilt auch für die Aussagen, bei denen ein ausdrücklicher Gesundheitsbezug nicht gegeben ist, so bei den Aussagen gemäß Ziffer 5 "zur Unterstützung der optimalen Leistungsfähigkeit", "…erhöht die Ausdauer und Leistungsfähigkeit" und Ziffer 10."Zur Vorbeugung gegen natürlichen Haarausfall", "Zur unterstützenden Vorbeugung gegen Wassereinlagerungen" und "Unter anderem unterstützt dieser Vitalpilz die Neubildung von gesundem kräftigem Haar". Angaben, die sich auf das allgemeine Wohlbefinden beziehen, fallen zwar nicht unter den Begriff der gesundheitsbezogenen Angabe. Gleichwohl ist dieser Begriff im Interesse des Schutzzwecks der HCV, die Verbraucherinnen und Verbraucher vor dem Konsum solcher Produkte zu bewahren, denen in der Werbung eine positive gesundheitliche Wirkung zugeschrieben wird, die ihnen tatsächlich nicht zukommt, weit auszulegen. Die Schwelle zur gesundheitsbezogenen Angabe soll daher bereits bei Aussagen wie "reinigt Ihren Organismus", "hält Sie jung" oder "verlangsamt den Alterungsprozess" überschritten sein (…). Auch der Bundesgerichtshof hat die Bewerbung eines Kräuterlikörs als "wohltuend" als gesundheitsbezogene Angabe im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Nr. 5 HCV angesehen. Denn mit einer solchen Aussage werde zwar nicht erklärt, wohl aber suggeriert, zumindest jedoch mittelbar zum Ausdruck gebracht, dass der Genuss des Kräuterlikörs geeignet ist, den Gesundheitszustand des Verbrauchers zu verbessern."
• "Der Senat folgt dem Landgericht auch in seiner Auffassung, dass die beanstandeten Aussagen nach Art. 10 Abs. 1 HCV verboten sind, weil die Beklagte die Richtigkeit der von ihr für ihre Produkte in Anspruch genommenen gesundheitsbezogenen Angaben entgegen Art. 5 Abs. 1 lit. a) HCV nicht anhand allgemein anerkannter wissenschaftlicher Nachweise bewiesen hat."
• "Alle genannten Voraussetzungen müssen sich auf allgemein anerkannte wissenschaftli-che Nachweise stützen lassen und durch diese abgesichert sein (Art. 6 Abs. 1 HCV). Die Anforderungen, die an einen solchen Nachweis zu stellen sind, sind nach Auffassung des Senats grundsätzlich nicht weniger streng als die Anforderungen, die auch an den Nachweis der Wirksamkeit eines Arzneimittels oder einer bilanzierten Diät gelten."
• "Der Nachweis der Richtigkeit einer gesundheitsbezogenen Angabe im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Nr. 5 HCV ist daher - soweit sich die wissenschaftliche Anerkennung nicht anders belegen lässt - durch Vorlage von Studien zu erbringen, die nach allgemein anerkannten wissenschaftlichen Grundsätzen erstellt worden sind. Dem werden grundsätzlich nur randomisierte und placebokontrollierte Doppelblindstudien mit einer adäquaten statistischen Auswertung, die durch Veröffentlichung in den Diskussionsprozess in die Fachwelt einbezogen sind, gerecht."
• "Dabei besteht, soweit für Lebensmittel mit nährwert- oder gesundheitsbezogenen Angaben beworben wird,… die Gefahr, dass sich Verbraucher auf die Richtigkeit solcher Angaben verlassen und es deshalb nicht oder nur verspätet zur einer Behandlung der Funktionsstörung oder Krankheit kommt."
• Für die weitere Debatte über die Zulässigkeit und Haltbarkeit gesundheitsbezogener Aussagen für andere Lebensmittel, Nahrungsergänzungsmittel und Dienstleistungsangebote wird aber erst die nächste Instanz, also der Bundesgerichtshof, und möglicherweise der Europäiusche Gerichtshof entscheiden: "Die Revision war zuzulassen, weil die Fragen der Auslegung des Begriffs der "gesundheitsbezogenen Angabe" im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Nr. 5 HCV - insoweit ist ein Ersuchen des Bundesgerichtshofs um Vorabentscheidung beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften anhängig (…) - und der Anforderungen, die an den Nachweis der Richtigkeit einer solchen gesundheitsbezogenen Angabe im Sinne der Art. 5 und 6 HCV zu stellen sind, grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO haben. Die Beurteilung der Frage, ob in diesem Zusammenhang ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union erforderlich ist, soll … dem Bundesgerichtshof vorbehalten bleiben."
Wer die weitreichenden Folgen einer Bestätigung der auch gesundheitswissenschaftlich berechtigten Argumentation des OLG Frankfurt ermessen will, braucht sich lediglich eine halbe Stunde der TV-Werbung für diverse Lebensmittel anzuschauen oder die Werbeseiten einschlägiger Illustrierten durchlesen. Wenn zahlreiche massenhaft verkauften Riegel, Cremes, Tropfen, Übungen oder "medical wellness"-Produkte künftig nur noch reine Lebensmittel oder Produkte ohne das Etikett "Gesundheit" sein dürfen, würden viele der vom "Gesundheits"versprechen angelockten Käufer andere Kaufentscheidungen treffen und vollkommen auf "ver- und gekaufte Gesundheit" verzichten.
Wer Näheres zu den Rechtsgründen des OLG-Urteils und den hier ausgelassenen juristischen Details wissen will, kann dies in dem komplett kostenlos zugänglichen Urteil des OLG Frankfurt mit dem Aktenzeichen 6 U 174/10 vom 10.11. 2011 nachlesen.
Wer hofft oder fürchtet, dass der Bundesgerichtshof dem OLG folgt, muss sich mit Geduld wappnen und einen Suchauftrag für die entsprechende Entscheidung des BGH starten.
Bernard Braun, 13.2.12
Welche Rolle spielen Recht und Evidenz im Gesundheitswesen der USA? Mehr als man denkt!
Wer Verrechtlichung im deutschen Gesundheitswesen angesichts der immer dicker werdenden Sozialgesetzbücher, Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Normen sonstiger "kleiner" und "großer" Gesetzgeber für ein typisch deutsches Phänomen hält, irrt.
Auch und gerade "public health" wird selbst in angeblich weniger regulierten, freiheitlicheren und marktlicher orientierten Staaten wie den USA intensiv durch Gesetze, Verordnungen und rigide Standards reguliert. Wie detailliert dies erfolgt ließ sich nicht zuletzt an dem großen Gesetz zur Reform der us-amerikanischen Versicherungs- und Versorgungslandschaft, dem "Affordable Care Act" ablesen.
Einen guten Überblick über das insgesamt für den Bereich öffentlicher Gesundheit in den USA geltende Recht verschafft jetzt ein Report des "Committee on Public Health Strategies to improve Health" beim "Institute of Medicine (IOM)" der "Nationalen Akademie der Wissenschaften" der USA.
Der Report beschäftigt sich nach Klärung der Frage "why law and why now" mit dem Zusammenhang/-spiel von Recht und Public Health-Infrastruktur und der Bedeutung von Recht als Tool für die Verbesserung der Bevölkerungsgesundheit. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der intersektoralen Aktion der zahlreichen öffentlichen und privaten Einrichtungen und "stakeholder" im Gesundheitswesen und den dafür relevanten Rechtsbestimmungen.
Abschließend enthält der Report 10 Empfehlungen, die zum Teil auch für die weitere Entwicklung der Regulierung durch Recht und Politik im deutschen Gesundheitswesen interessant sind. So führt z.B. die neunte Empfehlung zur evidence-based public policy or politics aus "that state and federal governments evaluate the health effects and costs of major lefgislation, regulations, and policies that could habe a meaningful impact on health. This evaluation should occur before and after enactment."
Wer die mühselige und immer verspätete Entwicklung der Politikfolgenforschung in Deutschland erlebt, kann hier erkennen, dass es bei der Forderung nach mehr Gesundheitspolitik-Begleitforschung in Deutschland um den Anschluss an andernorts wesentlich entwickeltere Debatten und Planungen geht.
Der 154 Seiten umfassende Report "For the Public's Health: Revitalizing Law and Policy to meet new challenges" ist gerade erschienen und komplett kostenlos nach einer etwas komplizierten aber folgenfreien Anmeldung zum Download erhältlich.
Wer sich noch mehr für weitere Publikationen interessiert, die zu Gesundheits- und Systemfragen in der "National Academies Press" erschienen sind, kann seit drei Wochen praktisch alle Titel nach der bereits erwähnten Anmeldung kostenlos herunterladen. Dies gilt z.B. auch für die älteren IOM-Klassiker zur Versorgungsqualität im US-Gesundheitssystem "Crossing the Quality Chasm: A New Health System for the 21st Century" aus dem Jahr 2001 und "To Err Is Human: Building a Safer Health System" aus dem Jahr 2000 oder eine aktuelle Studie aus 2011 zur "The Future of Nursing: Leading Change, Advancing Health".
Bernard Braun, 5.7.11
Wirtschaftlichkeitsgebot einer gesetzlichen Krankenkasse muss gegen ihre Pflicht zur "humanen Krankenbehandlung" abgewogen werden!
"Hiernach erschiene es nicht nur inhuman, sondern geradezu verwerflich, eine Patientin mit Herzbeschwerden und Luftnot unter Hinweis auf den ohnehin bevorstehenden Tod nicht in die Krankenhausbehandlung aufzunehmen." So lautet der Tenor eines Urteils des Sozialgerichts Hannover vom 28.04.2010 (S 19 KR 961/08) gegen eine Krankenkasse, die sich gestützt auf mehrere Gutachten ihres Medizinischen Dienstes geweigert hatte, die Rechnung für die akutmedizinische Krankenhausbehandlung einer bei ihr versicherten Frau zu bezahlen, die nach dieser Behandlung verstorben war.
Die zentrale Begründung für diese Krankenkasse lautete, dass das Krankenhaus die verschiedenen therapeutischen Leistungen bei einer Reihe von schwerwiegenden Herz-/Kreislaufzuständen (Zusammenfassung des gesundheitlichen Zustands im Urteil: "globale Herzinsuffizienz, eine Linksherzinsuffizienz mit Beschwerden in Ruhe, eine akute respiratorische Insuffizienz, eine Aortenklappenstenose mit Insuffizienz, ein Diabetes mellitus, eine arterielle Hypertonie, ein Delia und eine Hypokaliämie") unnötigerweise erbracht hätte, da das Versterben absehbar gewesen wäre. Auch wenn der Hausarzt dieser Patientin diese als Notfall durch den Rettungsdienst ins Krankenhaus bringen ließ, wären für die Schmerzbehandlung und die angeblich einzig notwendige Sterbebegleitung einzig nur ambulante oder Leistungen eines Hospizes notwendig gewesen - so die Krankenkasse.
Für das Gericht waren nach der Einholung eines weiteren Gutachtens zwei Argumente von zentraler Bedeutung für sein Urteil, die Krankenkasse müsse die Krankenhaus-Rechnung bezahlen:
• "Im Rahmen der Behandlung sind die besonderen Mittel des Krankenhauses durch ärztliche Behandlung und aufwändige pflegerische Versorgung zum Einsatz gekommen. Die Krankenhausbehandlung ist medizinisch begründet gewesen und stand nicht im Widerspruch zur allgemeinen oder besonderen ärztlichen Erfahrung. Aufgrund der durchgeführten therapeutischen Maßnahmen ist die Behandlung auch nicht als Sterbebegleitung, sondern vielmehr als stationäre Krankenhausbehandlung zu qualifizieren. Eine Versorgung im ambulanten Bereich ist aufgrund der besonderen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen nicht möglich gewesen. Eine Hospizbehandlung ist ebenfalls nicht angezeigt gewesen, da die instabile Gesundheitssituation der Patientin eine durchgehende Arztpräsenz notwendig gemacht hat."
• Sein zweites Argument würdigt eine in Zeichen knapper Kassen und des Wettbewerbs allzu leicht vergessene Bestimmung des Paragraphen 70 SGB V: "Unabhängig von der festgestellten medizinischen Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung stützt sich der Vergütungsanspruch der Klägerin ergänzend auf § 70 Abs.2 SGBV. Die Leistungsverweigerung der Beklagten verstößt in eklatanter Weise gegen das Humanitätsgebot. Nach der Vorschrift des § 70 Abs. 2 SGB V haben die Krankenkassen und die Leistungserbringer durch geeignete Maßnahmen auf eine humane Krankenbehandlung ihrer Versicherten hinzuwirken. Die Vorschrift richtet sich an Krankenkassen und Leistungserbringer und ist bei der Auslegung, ob und in welcher Weise Versicherte Anspruch auf eine bestimmte Art der Krankenbehandlung haben, als Auslegungsrichtlinie zu berücksichtigen … . Dabei kommt der Verpflichtung zur Herbeiführung einer humanen Krankenbehandlung gerade Bedeutung bei der Abwägung mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot zu. Sie wird demgemäß in gerichtlichen Auseinandersetzungen über einen Anspruch auf eine bestimmte Leistung in der Weise herangezogen, dass sie diesen stützen soll."
Krankenkassen achten einerseits und auch im Interesse vieler schwer kranker alter Versicherter zu Recht darauf, dass nicht die Humanität der Behandlung dadurch gefährdet wird, dass Sterbende mit unnötigen und oftmals nur quälenden Leistungen überschüttet werden und völlig unsinnige Ausgaben entstehen. Andererseits sollten sie dabei aber nicht die Regeln des gesunden Menschenverstands vergessen und aktiv das qualvolle Ableben eines Versicherten provozieren oder billigend eine Verkürzung des Lebens in Kauf nehmen.
Das Urteil des SG Hannover ist komplett kostenlos zugänglich.
Bernard Braun, 27.2.11
Fachgesellschaft der Gesundheitsökonomen pfeift auf wissenschaftliche Empirie
Die Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsökonomie fühlte sich im vergangenen September anlässlich der Reformideen von Gesundheitsminister Philipp Rösler veranlasst, die Öffentlichkeit mit einer Presseerklärung mit dem Titel Gegen ein "Weiter so!" in der Gesundheitspolitik zu beglücken. Explizit beziehen sich die Wirtschaftfachleute auf die folgenden sechs Reformelemente:
1. Wiederanhebung des allgemeinen Beitragsatzes zur GKV auf 15,5%;
2. Festschreibung des Arbeitgeberbeitrags auf den neuen Wert von 7,3 Prozent;
3. Aufhebung der "Überforderungsgrenze" bei den Zusatzbeiträgen,
4. Einführung eines Sozialausgleichs bei Überforderung (> 2 % des Einkommens)
5. Verbot des Anstiegs der Verwaltungskosten der Krankenkassen bis 2012,
6. Begrenzungen der Ausgabenzuwächse in mehreren Leistungsbereichen.
Unter Bezugnahme auf die darin vorgesehenen und mittlerweile umgesetzten Maßnahmen kritisieren deutsche Gesundheitsökonomen diese Maßnahmen als ungeeignet, "Qualität und Wirtschaftlichkeit der Gesundheitsversorgung in Deutschland zu steigern" und vermissen das "im Koalitionsvertrag angekündigte neue Finanzierungsmodell" der schwarz-gelben Regierung. Namentlich unterzeichnet ist die Presseerklärung von Stefan Willich (Berlin), Volker Ulrich (Bayreuth), Friedrich Breyer (Konstanz) und Stefan Felder (Duisburg-Essen).
Nicht die Kritik an der halbherzigen und seine Ankündigungen eines "robusten Gesundheitswesens, dass nicht alle 2-3 Jahre reformierte werden müsse" ad absurdum führenden Reform ist überraschend, sondern es sind vielmehr die Begründungen, die aufhorchen lassen. Hier ein paar Kostproben:
• Eine stärkere Steuerfinanzierung mögen die vier Herren allenfalls kurzfristig akzeptieren, langfristig aber sei das nicht gut, denn: Eine Umwegfinanzierung über Steuern verringert die Transparenz von Kosten und Leistungen. Als wenn Kranke gesundeten, wenn sie nur wüssten, wie teuer die Behandlungen sind.
• Den Arbeitgeberanteil hätten die vier Ökonomen lieber auf dem alten, niedrigen Niveau eingefroren - sonst belaste er ja die Arbeitskosten. Dass dies nach allen empirischen Untersuchungen völlig vernachlässigbar ist, scheint an den Herren vorbeigegangen zu sein.
• Der Zusatzbeitrag sei gut, aber die Beschränkungen in der Höhe und auf Mitglieder verhindere, dass er zu einem echten Preis wird. Das sollten sich alle Zusatzbeitragszahler hinter die Ohren schreiben: Sie werde immer einen unechten Preis zahlen - was immer das sein mag.
• Die vier Krankheitsökonomen vermissen den Einstieg in die Kopfpauschale - spätestens hier wird klar, wohin die Reise eigentlich gehen soll.
Neben weiteren Kritikpunkten vermissen die Sprecher der DGGÖ selbstverständlich auch Wettbewerbselemente nicht nur im Krankenhauswesen, sondern vor allem bei den Krankenkassen und fordern eine weitere Flexibilisierung aller Vertragsgestaltungsbedingungen. Besonders bedenkenswert liest sich dabei der Satz: " Der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen könnte hier als Entdeckungsverfahren wirken, ...". Das ist wirklich eine intellektuelle Höchstleistung: Abenteuerspielplatz Gesundheitswesen für abgehobene Wirtschaftstheoretiker. Dass dabei Viele auf der Strecke bleiben und kläglich am System scheitern werden, kommt den Herren nicht in den Sinn - sie haben ja ihre Festanstellung auf Lebenszeit und lassen sich ihre Professorengehälter zum Teil noch stattlich von der Pharma-Industrie aufstocken. Vielleicht würde da mal ein Blick in Länder wie Chile, Kolumbien oder auch in die Schweiz helfen, und zwei jenseits ökonomischer Modellrechnungen und Zahlenkolonnen auf das, was sich mache Bürger nicht leisten können oder sie in die Armut treibt.
Auch wenn man angesichts solcher Statements schon arge Zweifel an der wissenschaftlichen Zurechnungsfähigkeit einer ganzen Fachgesellschaft bekommen kann - es gibt auch andere Stimmen im Land. Spät, aber dennoch reagierten Rolf Rosenbrock, der Leiter der Forschungsgruppe Public Health am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), und Hartmut Reiners, ein gesundheitspolitischer Pragmatiker mit langjähriger Berufserfahrung in Ministerien und nicht in Elfenbeintürmen. Ihr Vorwurf an die vier Wirtschaftsprofessoren lautet kurz und prägnant: "Ihre Presseerklärung enthält eine ganze Reihe von Aussagen, die auf empirisch widerlegten Ideologemen beruhen ". In ihrem Anfang Januar 2011 an die DGGÖ geschickten offenen Brief stellen Rosenbrock und Reiners die Kernaussagen und vor allem die wissenschaftliche Grundlage der DGGÖ-Presseerklärung in Frage: "Es ist absolut legitim, gesellschaftspolitische Positionen zu beziehen, nicht jedoch, diese als wissenschaftliche Paradigmen zu tarnen ".
Auf insgesamt acht Seiten setzen sich die beiden Autoren mit unverkennbarer Liebe zum Detail mit den Forderungen, Wünschen und Kritikpunkten der vier Ökonomen auseinander. Beispielsweise mit der aufgeworfenen Forderung nach mehr Transparenz und den unterstellten Effekten: "Es erscheint uns seltsam, diesen angeblichen Transparenzgewinn als einziges Kriterium in der ordnungspolitischen (und damit zutiefst ökonomischen) Grundfrage Steuer- und Beitragfinanzierung zu wählen. Warum soll diese Transparenz für die Versicherten überhaupt wichtig sein? Doch wohl nur, wenn man annimmt, sie würden sonst Leistungen ohne Grund und Not in Anspruch genommen. Auf welchem wissenschaftlichen Fundament steht diese Aussage? Wo sind die empirischen Befunde über relevantes moral hazard-Verhalten durch die Versicherten der GKV? Und noch mehr: wo sind die Befunde die zeigen, dass einem solchen Verhalten - so es denn wirklich relevant ist - durch mehr Transparenz über die Quellen des GKV-Budgets beizukommen sei?"
Auch zur Forderung nach Einfrieren des Arbeitgeberbeitrags auf niedrigem Niveau schreiben Rosenbrock und Reiners den Autoren mangelnde Wissenschaftlichkeit in Stammbuch: "Sie stellen hier einen Zusammenhang von GKV-Ausgaben und Arbeitskosten her, der in mehrfacher Hinsicht wissenschaftlich nicht belegbar ist und eher einer Presseerklärung des Arbeitgeberverbandes entspricht als der einer wissenschaftlichen Fachgesellschaft." Weiter geht es mit der Bedeutung des Zusatzbeitrags als "echter Preis": "Mit dem Postulat, der Zusatzbeitrag müsse ein "echter Preis"sein, machen Sie die Erfüllung eines Dogmas der neoklassischen Preistheorie zum Maß der Dinge und nicht die Lösung realer Probleme. Was, bitte schön, macht einen "echten" Preis aus? Und was ist dann ein "unechter"?
Auch bei der Grundsatzfrage des Einstiegs in ein neues Finanzierungsmodell sind der Leiter der Public-Health-Abteilung im WZB und der Autor des für ForumsleserInnen zweifellos überaus informativen und spannenden Buches Mythen der Gesundheitspolitiknicht zimperlich in ihrer kritik an der DGGÖ-Erklärung: "Im Gegensatz zu Ihnen sind wir aber keineswegs der Meinung, dass die Regierung ... eine langfristige Strategie vermissen (lässt), ob der Ausbau der Zusatzbeiträge einen Einstieg in die Gesundheitsprämie bedeuten soll oder nicht. Haben Sie wirklich nicht verstanden, dass die im GKVFinG enthaltene Konstruktion des Zusatzbeitrages und des Sozialausgleichs der pfeilgerade Weg in die (von Ihnen gewünschte?) "Gesundheitsprämie" ist, und zwar letztlich ohne einen Sozialausgleich?" Die Autoren bieten sogleich Nachhilfe an. Wer ihre Ausführungen zu dieser und zu anderen Thesen der vier Wirtschaftsprofessoren genauer kennen lernen möchte, sollte lieber selber nachlesen.
Dafür stellen wir auf dieser Seite sowohl die Presseerklärung der DGGO als auch den offenen Brief von Rolf Rosenbrock und Hartmut Reiners zum Download zur Verfügung.
Mittlerweile liegt auch eine Antwort des Vorsitzenden der DGGÖ} vor, die per Mail an die beiden Autoren des offenen Briefs ging. Unter dem Hinweis, "die Homepage der DGGÖ (sei) nicht als Plattform für kontroverse Diskussionen gedacht", geht das Antwortschreiben des DGGÖ-Vorstands auf zweieinhalb Einzelpunkte ein und versucht, sie eher lustlos zu widerlegen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung sieht anders aus. Aber die glaubt manch einer im DGGÖ-Vorstand ohnehin nicht nötig zu haben, sondern wähnt sich über jeden Zweifel erhaben. Selbst bei den abstrusesten Vorstellungen und Ansätze fordert man schlicht die Umkehr der Beweislast. So behauptet DGGÖ-Vorstandsmitgöied Stefan Felder in einem Interview im KVH Journal, Gesundheitsökonomen müssten ihre Thesen gar nicht belegen: "Nicht wir Ökonomen müssen etwas nachweisen. Die Leistungserbringer, die Kassen und ihre Verbände müssen begründete Argumente vorbringen, weshalb im Gesundheitsbereich andere Regeln gelten sollen als im übrigen Teil der Wirtschaft." Hier können Sie auch die gesamte Februar-Ausgabe 2009 der Mitgliederzeitschrift der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg herunterladen.
Angesichts solcher und anderer Einschätzungen muss man die Forderung von Wirtschaftsressort-Chef Robert von Heusinger am Ende seiner Analyse Ökonomen auf dem Holzweg in der Berliner Zeitung bzw. der Frankfurter Rundschau wohl auch auf eine andere Sparte der Wirtschaftswissenschaften übertragen: Deutschland braucht dringend neue Gesundheitsökonomen. Und - ebenfalls in Anlehnung an von Heusinger - empiriegestützte Aufklärung anstatt glaubensbasierter und selbstreferenzieller Folklore.
Jens Holst, 13.1.11
Patientenrecht auf fachgerechte Behandlung à la Bundesgerichtshof: Wundheilbehandlung zwischen Antibiotika und Zitronensaft
Nach § 2 Abs. 1 SGB V (Fünftes Buch des Sozialgesetzbuchs) haben die "Qualität und Wirksamkeit der Leistungen … dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen." Und nach dem § 70 SGB V "(haben) … Krankenkassen und Leistungserbringer … eine … dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Versorgung der Versicherten zu gewährleisten". Außerdem "muss" die Versorgung "in der fachlich gebotenen Qualität … erbracht werden" und zu einer "humanen Krankenbehandlung" beitragen.
Auch wenn dieser trotz aller Offenheit unbestimmter Rechtsbegriffe eigentlich unmissverständliche gesetzliche Rahmen bei weitem nicht die Versorgungswirklichkeit für GKV-Versicherte bestimmt, hat der Bundesgerichtshof (BGH) kurz vor Weihnachten 2010 ein bemerkenswertes und aus Patientensicht bedenkliches Urteil gefällt.
Seinem Urteil als Revisionsinstanz lag in den Worten der BGH-Pressemitteilung zum Urteil vom 22. Dezember 2010 folgender vom Landgericht (LG) Mönchengladbach (Urteil vom 15. Januar 2010 - 27 Ks 2/10) ermittelte Sachverhalt zugrunde:
Der Angeklagte, Chefarzt und Eigentümer einer privaten Klinik in Nordrhein-Westfalen, hatte "eine (80-jährige) Patientin, bei der er eine Darmoperation kunstgerecht durchführte, vor diesem Eingriff nicht darüber aufgeklärt, dass er zur Behandlung einer nach dieser Operation eventuell auftretenden Wundinfektion auch Zitronensaft verwenden würde. Er war von dessen desinfizierenden Wirkung überzeugt und ließ ihn daher unter nicht sterilen Bedingungen mit üblichen Haushaltsgeräten in der Stationsküche gewinnen. Jedoch konnte es durch den unsterilen Zitronensaft zu einer weiteren bakteriellen Belastung damit behandelter Wunden kommen. Nachdem bei der Patientin tatsächlich eine massive Wundheilungsstörung aufgetreten war, nahm der Angeklagte eine zweite Operation (sog. Reoperation) vor und brachte hierbei sowie in der Folgezeit - neben dem Einsatz herkömmlicher Medikamente (insbesondere von Antibiotika) - mehrfach Zitronensaft in die Wunde ein. Auch jetzt informierte er die Patientin hierüber nicht. Diese verstarb rund zwei Wochen nach dem ersten Eingriff an den Folgen der Wundinfektion."
Auch wenn das LG "keinen hinreichenden Anhalt" gefunden hat, dass die Verwendung des Zitronensaftes für den Eintritt des septischen Herz-Kreislaufversagens mitursächlich war, "hätte der Angeklagte die Patientin aber über den möglichen späteren Einsatz von Zitronensaft schon vor der ersten Operation aufklären müssen. Daher hat es bereits die Einwilligung der Patientin in die Vornahme dieses Eingriffes als unwirksam angesehen und diesen daher als rechtswidrige Körperverletzung gewertet. Weil die durch die Erstoperation bedingte Wundinfektion zum Tode der Patientin geführt hat, hat es den Angeklagten der Körperverletzung mit Todesfolge für schuldig erachtet."
Dazu, so der der 3. Strafsenat des BGH, sei der behandelnde Chefarzt nicht verpflichtet gewesen: "Birgt ein ärztlicher Heileingriff das Risiko, dass sich in seiner Folge eine weitere behandlungsbedürftige Erkrankung oder körperliche Schädigung einstellt, so muss der Arzt den Patienten vor dem ersten Eingriff nur dann über die Art und die Gefahren einer bei Verwirklichung des Risikos notwendigen Nachbehandlung aufklären, wenn dieser ein schwerwiegendes, die Lebensführung eines Patienten besonders belastendes Risiko anhaftet, etwa der Verlust eines Organs. Eine derartige Konstellation lag hier nicht vor."
Selbst wenn die Annahme richtig sein mag, das wiederholte Einbringen von nicht sterilen Zitronenstreifen und Zitronensaft in die Wunde, sei nicht die Ursache für den Tod der Patientin, kümmert zumindest die BGH-Richter noch nicht einmal die Tatsache, dass es sich hier weder um ein für diese Zwecke medizinisch "allgemein" anerkanntes Therapeutikum handelt noch das Einbringen insteriler Mittel in eine offene Wunde etwas mit fachlich gebotener Qualität zu tun hat. In seiner Lesart stellt dies alles vielmehr eine "unerprobte Außenseitermethode" dar. Und der tödliche Ausgang der stationären Behandlung könnte dann als ein "schicksalhafter Krankheitsverlauf" bezeichnet werden.
Gerade weil ein Patient von einem behandelnden Arzt eine wissenschaftlich gesichert wirksame Behandlung und nicht eine selbst nach Ansicht des angeklagten Chefarztes nur selten hilfreiche "unerprobte Außenseitermethode" erwartet, gingen die Richter des LG von einer Aufklärungspflicht vor der ersten Operation aus. Diese Information hätte nämlich "bei der Patientin Zweifel an seiner Fachkompetenz … wecken können mit der Folge, dass sie den Eingriff nicht vom Angeklagten hätte vornehmen lassen." Dieser Überlegung schließen sich aber die BGH-Richter ausdrücklich nicht an.
Damit ist es nur konsequent, dass nahezu alle weiteren Besonderheiten ihrer Behandlung strikt und angesichts ihres Todes fast schon zynisch gegen die Patientin ver- und gewendet werden:
• Die Patientin habe immerhin zuerst und als Alternative zur Zitronensaft-Therapie Antibiotika erhalten,
• es wäre "grundsätzlich noch genügend Zeit vorhanden (gewesen), um die Patientin auf den beabsichtigten Einsatz von Zitronensaft hinzuweisen" (ob dies geschah, bleibt im Moment unklar und auch nicht ermittelbar) und
• sie sei "trotz ihrer erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen sogar noch in der Lage (gewesen), eigenverantwortlich ihre Einwilligung in die Reoperation zu erteilen".
Dies gipfelt in der Feststellung, dass das "maßgebliche Risiko" der Zitronensaftbehandlung "ausschließlich eine gewisse zusätzliche bakterielle Belastung" gewesen sei, "was nicht mit der Gefahr für die künftige Lebensführung eines Patienten vergleichbar ist, dem durch die Nachbehandlung etwa ein Organverlust droht."
Der Chefarzt hätte also vom LG nach Ansicht des BGH wegen der fehlenden Aufklärung des Einsatzes von Zitronensaft nach der ersten Operation nicht wegen Körperverletzung noch insgesamt wegen einer Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt werden dürfen. Da er seine Patientin aber zumindest vor der zweiten Operation über die beabsichtigte Behandlung mit Zitronensaft hätte aufklären müssen (warum, ist der Pressemitteilung nicht zu entnehmen), ordnet der BGH eine erneute Verhandlung des Falles vor dem LG an. Auf "anderer Tatsachengrundlage" wäre nämlich nicht auszuschließen, dass z.B. wegen anderer Fehler bei der Operation doch eine Körperverletzung mit Todesfolge vorläge.
Angesichts dessen, was der BGH hier mit höchstinstanzlicher Autorität und Bedeutung zu Gunsten der "Therapiefreiheit" des Arztes und zu Ungunsten des Anspruchs von Patienten auf eine fachlich wirksame und anerkannte Behandlung geurteilt hat, kann man sich allerdings kaum etwas vorstellen, was die LG-Richter zu einem solchen Urteil bewegen könnte.
Da sich derselbe Chefarzt aber noch wegen zahlreicher weiterer möglicher Fälle von Körperverletzung vor dem LG zu verantworten hat, besteht immer noch die Chance, dass sich die Waage der Rechtsprechung in diesem Fall noch etwas anders einpendelt.
Wer das für Patientenrechte schlechte Signal zum Ende des Jahres 2010 noch etwas genauer erkunden will, ist im Moment ausschließlich auf die offizielle "Pressemitteilung 246/2010 des BGH" angewiesen, die frei zugänglich ist.
Auch wenn sich durch das ausführliche schriftliche Urteil am Ergebnis und der Argumentationsführung des Urteils nichts mehr ändern wird, sollte es in jedem Fall - und das gilt auch ausdrücklich für Nichtjuristen - für die abschließende Bewertung seiner Argumente und Tragweite genau gelesen werden. Der Text lag aber nach Angaben des BGH vom 30.12. 2010 noch nicht in gedruckter Form vor.
Bernard Braun, 1.1.11
Wie frei dürfen Privatkrankenversicherungen mit ihren Kunden umgehen? Bundesverwaltungsgericht zieht Grenze zugunsten Altkunden
Vor einigen Wochen wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft ein Gutachten des Berliner IGES-Instituts und des Ökonomen Rürup vorgelegt, das die Private Krankenversicherung u.a. dafür kritisiert, dass sie sich mehr um Neumitglieder kümmert als um Bestandskunden: Indem PKV-Unternehmen die "Spielräume, mit ihrer Tarifangebotspolitik Versichertengruppen mit … systematisch unterschiedlicher Risikostruktur wirksam voneinander zu trennen" nutzen, gelingt es ihnen "den Wettbewerb um Versicherte ganz auf Neukunden zu konzentrieren". Dies führt dazu, dass sie "die Ineffizienzen im Versicherungsangebot noch verstärken."
Das im Zeichen der Kassenwahlfreiheit oftmals für die GKV beklagte vorrangige Kümmern um die "guten Risiken" oder die so genannte "Rosinenpickerei" und entsprechende Wohlfühlangebote für relativ gesunde Versicherte gibt es also auch in der PKV nicht nur bei der Aufnahme, sondern auch dann, wenn man bereits Versicherter ist. Anders als in der GKV kann sich in der PKV nicht der Staat damit beschäftigen, diese Konzentration auf "gute Risiken" und die damit mehr oder weniger stark verbundene Vernachlässigung der "schlechten Risiken" (meist ältere, sozial schwächere und schwerer Kranke) zu unterbinden. Gesundheitsfonds und morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich, d.h. die - unabhängig ob sie wirklich wie erwünscht wirken - entsprechenden Anreizsysteme für die GKV gibt es für die PKV nicht.
Trotzdem kann auch die PKV nicht so uneingeschränkt zum Nachteil einiger ihrer Kunden operieren wie es sich vielleicht ihre Versicherungs-Betriebswirte wünschen würden. Dies zeigt ein am 23.6.2010 gefälltes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in dem die Rechtsprechung der Praxis eines PKV-Unternehmens einen deutlichen und spürbaren Riegel vorschiebt.
In dem Verfahren ging es darum, dass die private "Allianz"-Krankenversicherung seit März 2007 den neuen Krankenversicherungstarif "Aktimed ("für Kunden, die gerade am Beginn ihrer beruflichen Karriere stehen oder sich selbständig gemacht haben") anbot. Er sieht im Gegensatz zu den bisher bestehenden Tarifen vor, eine niedrigere Grundprämie für sogenannte "beste Risiken" mit einem korrespondierend ausgeweiteten Bereich von individuellen Risikozuschlägen vor. Die Versicherung gewährte diesen Tarif aber lediglich Neukunden.
Die für die Aufsicht von privaten Versicherungsunternehmen auch zuständige BaFin (Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht) verpflichtete darauf die Klägerin, Anträge ihrer Alt-Versicherungsnehmer auf Wechsel aus Tarifen mit gleichartigem Versicherungsschutz in die neuen Tarife ohne Erhebung eines Tarifstrukturzuschlages anzunehmen. Dies dann, soweit bei Vertragsbeginn des alten Vertrags keinerlei Vorerkrankungen, Beschwerden oder sonstige gefahrerhöhende Umstände dokumentiert wurden, die nach den Annahmegrundsätzen für die neuen Tarife zu einem Risikozuschlag führen. Gegen diese Auflage erhob die "Allianz" vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt am Main Klage, die auch erfolgreich ausging.
In dem Revisionsverfahren der BaFin hat das Bundesverwaltungsgericht nun das Urteil des Verwaltungsgerichts aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Das entscheidende Argument lautete: "Die Erhebung eines Tarifstrukturzuschlags für Versicherungsnehmer der privaten Krankenversicherung bei Tarifwechsel verstößt gegen zwingendes Versicherungsvertragsrecht. Danach erwirbt der Versicherungsnehmer mit dem Abschluss des Versicherungsvertrages das Recht, dass der vom Versicherer bei Vertragsbeginn festgestellte Gesundheitszustand im Fall eines Tarifwechsels für die Risikoeinstufung im neuen Tarif maßgeblich bleibt. Die Erhebung eines pauschalen Risikozuschlags aus Anlass des Tarifwechsels ist unzulässig."
Unabhängig davon, ob man gesundheitspolitisch die PKV wirklich kundenfreundlicher haben oder machen will, werden die "Allianz" und eventuelle Nachahmer ihrer bisherigen Praxis jetzt wohl ihre Versicherungskonditionen ändern müssen.
Zu dem Urteil (Aktenzeichen: BVerwG 8 C 42.09) liegt noch keine schriftliche Begründung vor sodass im Moment lediglich die offizielle Gerichts-Pressemitteilung Nr. 50/2010 zum Urteil kostenlos zugänglich ist. Wer an der Begründung interessiert ist, muss nur ab und zu auf die Entscheidungs-Seite des Bundesverwaltungsgerichts schauen.
Bernard Braun, 28.6.10
Müssen Gehörlose auf Kassenkosten Klingeltöne sehen können? Warum eine AOK 5 Jahre durch alle Instanzen prozessiert und verliert!
"Versicherte, die wegen einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit die Klingel ihrer Wohnung auch mit den vorhandenen Hörgeräten nicht wahrnehmen können, haben grundsätzlich Anspruch auf Versorgung mit einer Lichtsignalanlage, durch die akustische Signale einer Türklingel in optische Signale umgewandelt werden." Wer dem zustimmt, hat seit dem 29. April 2010 das Bundessozialgericht (BSG) auf seiner Seite, das in einem Revisionsverfahren zu diesem Schluss kommt und eine Klage abwies, die diesen Anspruch verneinte.
Es bedurfte aber schon des BSGs um die AOK Niedersachsen zu stoppen, die seit dem Dezember 2005 einer ihrer 1963 geborenen Versicherten mit der beschriebenen und auch nie bestrittenen Behinderung die Versorgung mit einer Lichtsignalanlage verweigerte und an dieser Entscheidung sowohl im Sozialgerichts- (Aurich), im Landessozialgerichtsverfahren (Niedersachsen-Bremen) und schließlich im Verfahren vor dem BSG festhielt. Mit dieser Anlage können ohne aufwändige Installationen akustische Signale von Telefonanlage und Türklingel in Lichtsignale und Vibrationen umgesetzt und damit erst von der behinderten Person wahrgenommen werden. Während die Position der AOK noch durch das Sozialgericht bestätigt wurde, legte bereits das Landessozialgericht ausführlich dar, warum die Position der AOK nicht dem geltenden Leistungsrecht der sozialen Krankenversicherung entspricht, ließ aber die Revision vor dem BSG zu.
Nach dem Kostenvoranschlag einer Fachfirma vom 22.12. 2005 sollte übrigens die Anlage 780 Euro kosten.
Die Argumentation der AOK bestand im Wesentlichen aus drei Annahmen oder Behauptungen:
• Erstens stelle die Lichtsignalanlage kein Hilfsmittel nach dem für die gesetzlichen Krankenkassen geltenden SGB V dar und dürfe daher gar nicht von einer Krankenkasse bezahlt werden. Bei der Anlage handle es sich nämlich um eine technische Hilfe zur Anpassung des individuellen Wohnumfeldes an einen Bewohner und nicht um etwas, was den Behinderten den Erfordernissen der Umwelt anpassen würde. Die Anlage wäre fest mit der Wohnung verbunden und könne vom behinderten Versicherten nicht auch noch nach einem Umzug in einer anderen Wohnung benutzt werden. Dabei stützt sich die AOK auf ein Grundsatzurteil des BSG, in dem es zur Definition des GKV-Hilfsmittels nach der Zusammenfassung des LSG heißt: "Nach dem … Urteil des BSG vom 6. August 1998 - B 3 KR 14/97 R = SozR 3-2500 § 33 Nr. 30 S. 179 ff ergibt sich aus der Gegenüberstellung der in § 33 Abs. 1 SGB V ausdrücklich genannten Hilfsmittel, Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken und orthopädische Hilfsmitteln einerseits und der nicht näher konkretisierten anderen Hilfsmittel andererseits, dass nur solche technischen Hilfen als Hilfsmittel im Sinne dieser Vorschrift anzuerkennen sind, die vom Behinderten getragen oder mitgeführt, bei einem Wohnungswechsel auch mitgenommen und benutzt werden können, um sich im jeweiligen Umfeld zu bewegen, zurecht zu finden und die elementaren Grundbedürfnisse des täglichen Lebens zu befriedigen. Das Hilfsmittel soll die Körperfunktionen des Behinderten ersetzen, ergänzen oder verbessern, die für die möglichst selbstständige Durchführung der Alltagsverrichtungen notwendig sind. Der Behinderte wird dadurch den Erfordernissen der Umwelt angepasst, nicht aber das Umfeld an die Bedürfnisse des Behinderten angeglichen."
• Zweitens vertrat die AOK die Position, bei einer Lichtsignalanlage handle es sich um einen allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Ohne offensichtlich auch nur einen Gedanken über die Lebenssituation eines derartig hörbehinderten Menschens zu verschwenden, erwiesen sich die AOK-Vertreter als wesentlich kundiger, wenn es um den Einsatz solcher Anlagen in Tonstudios und Call-Centers geht oder wenn sie insinuierten, solche Anlagen könnten und würden auch von Menschen mit intaktem Hörsinn im Alltag verwendet.
• Hilfsweise wurde drittens behauptet, die beantragte Ausstattung mit drei Blitzlampen (Gesamtpreis 348 Euro) in der Mehrzimmerwohnung der AOK-Versicherten sei unverhältnismäßig. Die Begründung lautet in der Zusammenfassung des LSG so: "Eine Lichtsignalanlage mit drei Blitzlampen benötige die Klägerin nur wegen der individuellen Größe ihrer Wohnung. Für einen Versicherten mit gleicher Behinderung, der in einer kleineren Wohnung wohne, ergäbe sich die Notwendigkeit einer solchen Lichtsignalanlage nicht."
Dies ist leider nicht der erste Fall, dass eine gesetzliche Krankenkasse jeden Sinn für die realen Bedürfnisse schwer kranker und behinderter Versicherten verloren hat (vgl. dazu das auch schon im Forum-Gesundheitspolitik vorgestellte höchstinstanzliche "Elektro-Rollstuhlurteil" gegen die Barmer Ersatzkasse) und gegen Buchstaben und Geist der gesetzlichen Vorschriften des SGB IX (vor allem § 4 Abs. 1 Nr. 4 und § 9 Abs. 3 SGB IX) verstößt. Dort wird seit 2001 das Recht von Kranken zur gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft und auf eine selbstständige und selbstbestimmte Lebensführung festgeschrieben. Daher verdienen auch einige Passagen des vom BSG bestätigten LSG-Urteil in aller Ausführlichkeit und präventiv verbreitet zu werden.
Zur Frage der Hilfsmittel aus Krankenversicherungsmitteln stellt das LSG fest (in unseren Zitaten wird aus Gründen der Übersichtlichkeit für Nichtjuristen auf die ausführlichen Rechtsverweise verzichtet. Diese können aber im Original jederzeit nachgelesen werden):
• "Ein Hilfsmittel ist von der GKV immer dann zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis betrifft. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG … gehören zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, die Nahrungsaufnahme, das Ausscheiden, die (elementare) Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie das Erschließen eines körperlichen Freiraums im Nahbereich der Wohnung und das Bedürfnis bei Krankheit oder Behinderung Ärzte und Therapeuten aufzusuchen. Zum Grundbedürfnis der Erschließung eines geistigen Freiraums gehört u.a. das Aufnehmen von Informationen, die Kommunikation mit anderen Menschen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens bzw. Schulwissens … . Nach der Rechtsprechung des BSG gehört zu diesen Grundbedürfnissen auch die passive Erreichbarkeit des Versicherten in seinem Wohnbereich. Hierzu zählt etwa die Wahrnehmung unangekündigter, spontaner Besuche oder von Besuch, der die genaue Uhrzeit seines Erscheinens nicht vorhersagen kann (etwa Arztbesuche) … . Für Gehörlose ist der lebenswichtige Kontakt mit anderen Menschen jedoch stark eingeschränkt. Deshalb ist für einen Gehörlosen jeder ihm noch mögliche Kontakt mit anderen Menschen besonders wichtig … . Im vorliegenden Fall sind die Grundbedürfnisse des täglichen Lebens Kommunikation und selbstständiges Wohnen betroffen."
Was dies heißt wird dann in den folgenden Sätzen konkretisiert, wo aber auch deutlich wird, dass sich Krankenkassen offensichtlich auch über andere, in ihrer Funktion aber ähnliche Hilfsmittel bis zum BSG durchprozessieren:
• "Das Hilfsmittel ist zum Ausgleich der Behinderung der Klägerin erforderlich. Während die ältere Rechtsprechung des BSG darauf abgestellt hat, ob das Hilfsmittel für die in Abs 1 Satz 1 des § 33 SGB V genannten Zwecke unentbehrlich oder unverzichtbar war …, wird es jetzt für ausreichend gehalten, dass das Hilfsmittel die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wesentlich fördert … . Zwar haben Versicherte keinen Anspruch auf optimale Hilfsmittelversorgung, es ist jedoch ein wesentliches Ziel der Hilfsmittelversorgung, dass behinderte Menschen nach Möglichkeit von der Hilfe anderer Menschen unabhängig, zumindest aber deutlich weniger abhängig werden … . Nach der Rechtsprechung des BSG ist es die spezielle Pflicht der Krankenkassen, behinderten Menschen durch eine angemessenen Hilfsmittelversorgung eine möglichst selbstständige Lebensführung zu erhalten und ihnen zu ermöglichen, ein selbst bestimmtes Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht (BSG, Urteil vom 15. November 2007 - 3 P 9/06 R "Einmalservietten"). Zur selbstständigen und selbstbestimmten Lebensführung gehört es, bestimmten Personen (Bekannte, Ärzte) jederzeit und selbstständig Einlass gewähren zu können (so BSG SozR 3 - 3300 § 40 Nr. 6 S. 32 "Gegensprechanlage")."
Auch bei der Entscheidung, ob diese Lichtsignalanlage so fest eingebaut wird, dass sie nicht mitgenommen werden könnte, reicht der AOK nicht der Augenschein, der gesunde Menschenverstand oder ein Gespräch mit einem Tonanlagenmeister um das Unsinnige dieser Annahme festzustellen. Mehrere höhere und höchste Sozialrichter müssen stattdessen jahrelang ermitteln und schließlich verkünden, die Anlage könne durch einfaches Entfernen aus einer Steckdose an jeden anderen Ort mit Stromanschluss verbracht werden.
Warum die Frage der Portabilität aus Sicht der AOK so wichtig ist, erschließt sich erst, wenn man etwas in das Innenleben des Sozialversicherungssystems eindringt: Wenn die Anlage eingebaut worden wäre und damit eine feste Maßnahme zur Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes darstellte, fiele diese Art einer Maßnahme nach § 40 SGB XI in die Zuständigkeit der sozialen Pflegeversicherung. Diese könnte aber auch erst dann aktiv werden, wenn die Pflegebedürftigkeit der behinderten Person festgestellt worden ist. Deutlicher kann man eigentlich nicht die zynische Bemerkung illustrieren, der Patient stünde zwar immer im Mittelpunkt, aber damit auch stets allen Akteuren im Wege.
Zu dem "Argument", eine solche Anlage könnte durchaus auch im Alltag von Menschen mit intaktem Hörsinn als eine Art "Lichtorgel" benutzt werden, verweisen die LSG- und BSG-Richter die AOK und ihre potenziellen Nachahmer auf den lebenspraktischen Unsinn und die aus ihrer Sicht einzig zulässigen Ermittlungsverfahren: "Bei der von der Klägerin begehrten Lichtklingelanlage handelt es sich auch nicht um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Zur Ermittlung des Vorliegens der Eigenschaft eines Hilfsmittels in der gesetzlichen Krankenversicherung ist maßgeblich auf die Zweckbestimmung des Gegenstandes abzustellen, die einerseits aus der Sicht der Hersteller, andererseits aus der Sicht der tatsächlichen Benutzer zu bestimmen ist."
Offensichtlich durch allerdings nicht öffentlich bekannten Bemerkungen der AOK-Vertreter in den Verfahren und Schriftsätzen (das ist also reine Spekulation, aber grundlos formulieren Richter den folgenden Satz wahrscheinlich nicht) oder durch andere konkrete Erfahrungen sensibiliert, hatten die LSG-Richter diesen und anderen GKV-Vertretern einen denkbaren Ausweg aus der Leistungspflicht ausdrücklich verwehrt: "Die Klägerin (die behinderte AOK-Versicherte) kann auch nicht darauf verwiesen werden, ihre Tür dauerhaft offen stehen zu lassen oder andere Personen mit einem Wohnungsschlüssel auszustatten."
Auch wenn wir nicht wissen, wie die Klägerin, die jetzt vor dem BSG endgültig gegen die AOK Niedersachsen gewonnen hat, seit dem Dezember 2005 gemerkt hat, wann Besuch vor ihrer Wohnungsklingel stand oder ihr behandelnder Arzt anrief, ihre verminderte oder verhinderte Teilhabe am Lebens und ihre Möglichkeiten zur selbstbestimmten Lebensführung werden noch ein Weilchen anhalten: Um prüfen zu lassen, ob der Kostenvoranschlag in allen Teilen dem Grundsatz der Notwendigkeit (3 Lichtblitze!?) und Wirtschaftlichkeit entspricht, musste das BSG den Fall an das LSG zurückverweisen.
Theoretisch, aber durchaus nicht wirklichkeitsfern, könnte dort noch ein Streit darüber ausbrechen, ob die beantragten "Vibrationskissen (inkl. 3 Mignon Batterien)" zum Preis von 34,00 € wirklich diesen Grundsätzen entsprechen. Möglicher Tenor: Zumindest die 3 Mignonbatterien sind eigentlich Gegenstände des täglichen Lebens und könnten auch in MP 3-Playern verwendet werden.
Der Text des BSG-Urteil ist zwar noch nicht veröffentlicht, aber der inhaltliche Tenor findet sich im veröffentlichten "Terminbericht Nr. 21/10 des 3. Senat des Bundessozialgerichts über seine Sitzung vom 29. April 2010".
Nachtrag aktuell: Mittlerweile ist der komplette Urteilstext veröffentlicht und kostenlos erhältlich.
Das komplett 13 Seiten umfassende Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 25.2.2009 (Aktenzeichen: L 1 KR 201/07), dessen Kernaussagen das BSG nun bestätigt hat, ist dagegen vollständig veröffentlicht und kostenlos erhältlich. Seine Lektüre ist auch für Nichtjuristen und Mitarbeiter von Leistungsabteilungen gesetzlicher Krankenkassen uneingeschränkt empfehlenswert.
Bernard Braun, 14.5.10
Wozu diente die Altersgrenze für Vertrags(zahn)ärzte und warum ist ein EuGH-Urteil zu einem alten SGB V-Paragraphen interessant?
Dass ein Gericht, und dazu noch der Europäische Gerichtshof (EuGH), nicht immer die Frage beantwortet, die ihm von einem "vorlegenden" nationalen Gericht gestellt wird und EU-Richtlinien durchaus auch über nationalen Gesetze und obersten Gerichtsurteilen stehen können, zeigt ein Urteil des EuGH vom 12.1.2010 zum Thema Höchstalter für Vertrags(zahn)ärzte, also Ärzten, die zur Behandlung der 90% gesetzlich Krankenversicherten zugelassen sind.
In der Bundesrepublik Deutschland hat das Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 21. Dezember 1992 (GSG 1993) eine auf Vertragsärzte anzuwendende Höchstaltersgrenze eingeführt, die seit dem 14. November 2003 in § 95 Abs. 7 Satz 3 des Fünften Buchs des Sozialgesetzbuchs zu finden war. Der § 95 Abs. 7 Satz 3 SGB V sah vor, dass ab 1. Januar 1999 die Zulassung zur Ausübung der Tätigkeit eines Vertragsarztes mit Ablauf des Kalendervierteljahrs endet, in dem der Vertragsarzt das 68. Lebensjahr vollendet. Dies war gesetzlich geregelt auch auf Vertragszahnärzte anzuwenden.
Wichtig: Im SGB V wurde diese Vorschrift für die Zeit nach dem 30. September 2008 abgeschafft, d.h. die "Zulassung endet mit dem Tod, mit dem Wirksamwerden eines Verzichts oder mit dem Wegzug des Berechtigten aus dem Bezirk seines Kassenarztsitzes" (§ 95 Absatz 7 Satz 1 SGB V in der gültigen Fassung).
Für den deutschen Gesetzgeber und das Bundesverfassungsgericht waren für die alte Regelung sowohl der Schutz des Patienten vor den gesundheitlichen Risiken einer altersbedingten eingeschränkten Leistungsfähigkeit von Ärzten als auch das Berufseintrittsinteresse des Ärztenachwuchses maßgeblich.
So hatte der Gesetzgeber zur Begründung der entsprechenden Regelung im SGB V vermerkt: "Die Entwicklung der Vertragsarztzahl stellt eine wesentliche Ursache für überhöhte Ausgabenzuwächse in der gesetzlichen Krankenversicherung dar. Angesichts einer ständig steigenden Zahl von Vertragsärzten besteht die Notwendigkeit, die Anzahl der Vertragsärzte zu begrenzen. Die Überversorgung kann nicht nur durch Zulassungsbeschränkungen und damit zu Lasten der jungen Ärztegeneration eingedämmt werden. Hierzu ist auch die Einführung einer obligatorischen Altersgrenze für Vertragsärzte erforderlich."
Das Bundesverfassungsgericht hatte in einem Urteil vom 7. August 2007 die Altersgrenze durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, die Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung vor den Gefährdungen durch ältere, nicht mehr voll leistungsfähigen Vertragszahnärzte zu schützen. Das Bundesverfassungsgericht hat dabei - so die Zusammenfassung im EuGH-Urteil - an einer 1998 entwickelten Auffassung festgehalten und entschieden, der Gesetzgeber sei angesichts des ihm eingeräumten Gestaltungsspielraums nicht verpflichtet, eine individuelle Prüfung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit jedes Vertragsarztes, der das 68. Lebensjahr vollendet habe, vorzusehen. Er habe vielmehr auf der Grundlage von Erfahrungswerten eine generalisierende Regelung erlassen dürfen. Das Bundesverfassungsgericht hat es auch als unerheblich angesehen, dass der Gesundheitsschutz der Versicherten nicht in der Gesetzesbegründung erwähnt werde, und habe daran erinnert, dass es bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Regelung alle Gesichtspunkte berücksichtige und durch diese Begründung nicht eingeschränkt sei.
Gegen diese Bestimmung des deutschen Sozialrechts und das Rechtsverständnis des Bundesverfassungsgerichts hatte sich eine Zahnärztin vor dem Sozialgericht gewehrt und auf der individuellen Prüfung ihrer Leistungsfähigkeit mit dem Ziel bestanden, auch künftig Kassenpatienten behandeln zu dürfen. Sie begründete dies u.a. mit der EU-Richtlinie 2000/78/EG, die eine Diskriminierung aus Altersgründen verbietet.
Das Sozialgericht wollte oder konnte dies nicht selber abschließend beurteilen und legte den Fall zur Entscheidung dem Europäischen Gerichtshof vor. Seine Kernfrage lautete: "Kann die gesetzliche Regelung einer Höchstaltersgrenze für die Zulassung zur Berufsausübung (hier: für die Tätigkeit als Vertragszahnärztin) im Sinne des Art. 6 der eine objektive und angemessene Maßnahme zum Schutz eines legitimen Zieles (hier: der Gesundheit der gesetzlich krankenversicherten Patienten) und ein zur Erreichung dieses Zieles angemessenes und erforderliches Mittel sein1, wenn sie ausschließlich aus einer auf "allgemeine Lebenserfahrung" gestützten Annahme eines ab einem bestimmten Lebensalter eintretenden generellen Leistungsabfalls hergeleitet wird, ohne dass dabei dem individuellen Leistungsvermögen des konkret Betroffenen in irgendeiner Weise Rechnung getragen werden kann?"
Der EuGH verkündete nun ein klares Urteil und nutzte die Gelegenheit, um einige auch für die Zukunft interessanten Rechtsvorstellungen zu äußern:
• Es hielt die Klage und sein Urteil trotz der bereits genannten geänderten rechtlichen Lage für zulässig und hat sich dabei, wie gleich klar wird, etwas gedacht.
• Generell berührt ein Höchstalter "die Bedingungen für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie sowie die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen im Sinne ihres Art. 3 Abs. 1 Buchst. c."
• Nach den Antidiskriminierungs- und Gleichbehandlungsbestimmungen der EU liegt "eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne von Abs. 1 vor, wenn eine Person … eine weniger günstige Behandlung erfährt als eine andere Person, die sich in einer vergleichbaren Situation befindet". Dies bedeutet für deutsche Vertragsärzte nach Ansicht des EuGH, dass die "Anwendung einer Bestimmung wie § 95 Abs. 7 Satz 3 SGB V … dazu (führt), dass Personen, hier Vertragszahnärzte, deshalb eine weniger günstige Behandlung erfahren als andere Personen, die den gleichen Beruf ausüben, weil sie älter sind als 68 Jahre. Mit einer solchen Bestimmung wird eine Ungleichbehandlung wegen des Alters im Sinne der Richtlinie eingeführt." Gemeint ist hier die Möglichkeit, dass auch Ärzte, die älter als 68 Jahre sind, Patienten privat behandeln dürfen.
• Ausdrücklich erinnert der EuGH zunächst daran, "dass … die Mitgliedstaaten die Zuständigkeit für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit und insbesondere für den Erlass von Vorschriften zur Organisation und Erbringung von Dienstleistungen im Gesundheitswesen und der medizinischen Versorgung behalten. Bei der Ausübung dieser Zuständigkeit haben die Mitgliedstaaten zwar das Gemeinschaftsrecht zu wahren, doch ist bei der Prüfung, ob das genannte Gebot beachtet worden ist, zu berücksichtigen, dass der Mitgliedstaat bestimmen kann, auf welchem Niveau er den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten will und wie dieses Niveau erreicht werden kann. Da sich dieses Niveau von einem Mitgliedstaat zum anderen unterscheiden kann, ist den Mitgliedstaaten ein Wertungsspielraum zuzuerkennen."
Trotzdem nimmt der EuGH dann aber die ausführlich dargelegte lückenhafte und inkonsistente Begründung des Höchstalters für Ärzte durch den deutschen Gesetzgeber zum Anlass, dieses als unvereinbar mit den EU-Bestimmungen abzulehnen:
• Er legt Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie so aus, "dass er einer nationalen Maßnahme wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, mit der für die Ausübung des Berufs des Vertragszahnarztes eine Höchstaltersgrenze, im vorliegenden Fall 68 Jahre, festgelegt wird, entgegensteht, wenn diese Maßnahme nur das Ziel hat, die Gesundheit der Patienten vor dem Nachlassen der Leistungsfähigkeit von Vertragszahnärzten, die dieses Alter überschritten haben, zu schützen, da diese Altersgrenze nicht für Zahnärzte außerhalb des Vertragszahnarztsystems gilt".
• Der Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie ist dahingehend "auszulegen …, dass er einer solchen Maßnahme nicht entgegensteht, wenn diese die Verteilung der Berufschancen zwischen den Generationen innerhalb der Berufsgruppe der Vertragszahnärzte zum Ziel hat und wenn sie unter Berücksichtigung der Situation auf dem betreffenden Arbeitsmarkt zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich ist."
Welche Ziele mit der konkreten alten Regelung des Höchstalters verfolgt würden und ob daher der klagenden Zahnärztin Recht gegeben werden müsse oder nicht, sei aber "Sache des vorlegenden Gerichts". Dieses müsse feststellen," welches Ziel mit der Maßnahme zur Festlegung dieser Altersgrenze verfolgt wird, indem es den Grund für ihre Aufrechterhaltung ermittelt."
Angesichts der seit 2008 gestrichenen Höchstalterbestimmung könnte man zum Schluss kommen, sich eigentlich gar nicht praktisch mit dem Urteil befassen zu müssen und sich wichtigeren Dingen zuwenden zu können. Dies könnte vorschnell sein, weil das Urteil und seine Begründung Aussagen enthalten, die aus gesundheitspolitischer wie -wissenschaftlicher Sicht nachdenklich stimmen und künftig praktisch werden könnten: Es geht sowohl um die im Urteil des EuGH explizit nachrangige Relevanz ("nur (!) das Ziel hat, die Gesundheit der Patienten … zu schützen") der Patientengesundheit und die Bereitschaft des Gerichts unklare, ambivalente und unvollständige nationale Bestimmungen zu nutzen, um sich sehr konkret in Bedingungen nationaler Gesundheits- und Sozialsysteme einzumischen.
Wenn man beispielsweise sieht, wie sich immer mehr gesetzliche Krankenkassen wie Wirtschaftsunternehmen verhalten oder sich bei der Diskussion der Höhe ihrer Vorstandsgehälter unverblümt mit DAX- und damit Aktienunternehmen mit ihren auf dem freien Markt zu erwirtschaftenden Umsätzen vergleichen (so gerade die neue Vorstandsvorsitzende der Barmer GEK, Birgit Fischer) darf sich niemand wundern, wenn die EU-Wettbewerbskommissare das ernst nehmen und nationale Schutzzäune wie der der gesetzlichen Krankenkassen als "Körperschaft öffentlichen Rechts" demnächst auch für mit der europäischen Unternehmensordnung unvereinbar erklärt werden.
Vor dieser Tendenz des selbstverschuldeten Verlusts traditioneller Profile und Stärken der GKV im europäischen Kontext hat der Regensburger Sozialrechtler Kingreen bereits vor Jahren gewarnt.
Bleibt zum Schluss noch die Frage, warum die alte Höchstalterregelung abgeschafft wurde, sofern der deutsche Gesetzgeber das Schutzinteresse der Patienten selber ernst nimmt? Der Hinweis der Bundesregierungsvertreter, man habe da "etwas überprüfen wollen", wirkt so lange unglaubwürdig wie es keine veröffentlichte Analyse der Behandlungsergebnisse jüngerer und älterer Ärzte unter kontrollierten Bedingungen gibt. Vielleicht ging es aber auch - so auch Andeutungen des EuGH - durchweg nur um wirtschaftliche Interessen der Ärzte oder der GKV und nicht wirklich um die Gesundheit von Patienten!?
Das "Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs vom 12. Januar 2010 "Richtlinie 2000/78/EG - Art. 2 Abs. 5 und Art. 6 Abs. 1 - Verbot der Diskriminierung wegen des Alters - Nationale Bestimmung, die das Höchstalter für die Ausübung des Berufs eines Vertragszahnarztes auf 68 Jahre festlegt - Verfolgtes Ziel - Begriff 'für den Gesundheitsschutz erforderliche Maßnahme' - Kohärenz - Geeignetheit und Angemessenheit der Maßnahme" ist komplett im Internet zugänglich und selbst für Nichtjuristen über weite Strecken hinweg spannend zu lesen.
Bernard Braun, 19.1.10
Was soll sektorenübergreifende externe Qualitätssicherung wie machen? "Sagen Sie es bis zum 25.1.2010!"
Die Qualitätssicherungs-Landschaft im deutschen Gesundheitswesen ist zumindest was ihre Institutionen betrifft in Bewegung. Ob dies auch für die inhaltliche Entwicklung gilt, kann man fast vom Startblock der neuen Institution für die sektorenübergreifende Qualitätssicherung gemäß §137a SGB V weg mit verfolgen und beeinflussen. Konkret geht es darum, dass seit dem 1. Januar 2010 das Göttinger "Aqua-Institut" das für diese Aufgaben zuständige "interessenunabhängige und neutrale Dienstleistungsunternehmen" ist - im Auftrag von und mit Richtlinien des "Gemeinsamen Bundesausschusses". Das Institut hat sich auf Qualitätsförderungsprojekte spezialisiert und ging 1995 aus der 1993 gegründeten "Arbeitsgemeinschaft Qualitätssicherung in der ambulanten Versorgung" hervor.
Die im Wesentlichen zuletzt durch das Wettbewerbsstärkungsgesetz (WSG) aus dem Jahr 2007 in den gesundheitspolitischen Vordergrund geschobene sektorenübergreifende externe Qualitätssicherung ist insbesondere aus den folgenden Gründen notwendig: Stationäre Aufenthalte werden immer kürzer, Patienten werden häufig ambulant und stationär sowie zum Teil auch in verschiedenen Bundesländern behandelt. Behandlungsverläufe sind in der bisherigen gesetzlichen Qualitätssicherung kaum sichtbar, Ergebnisse daher schwer interpretierbar. Informationsbrüche und Kommunikationsprobleme zwischen den Sektoren führen zu Qualitäts- und Sicherheitsmängeln.
Die eingangs des Methodenpapiers bereits genannten wichtigen Herausforderungen an die sektorenübergreifende Qualitätssicherung sind daher:
• Die Priorisierung von Themen und Bereichen der Qualitätssicherung in einem offenen Prozess, in den einerseits wissenschaftliche Erkenntnisse von Experten und den beteiligten Institutionen nach § 137a SGB V einfließen, andererseits aber auch die weitere Öffentlichkeit Vorschläge einbringen kann.
• Die Veränderung des bisherigen strukturierten Dialoges von einem Kontrollverfahren mit Konzentration auf "Auffälligkeiten" (sog. "bad apples") zu einer kontinuierlichen Qualitätsförderung, die Anreize und Motivation zur ständigen Weiterentwicklung des internen Quali-tätsmanagements gibt.
• Die Schaffung eines transparenten Koordinatensystems zur Abbildung der Qualität, das Wahlentscheidungen der Versicherten unterstützt.
• Die Schaffung von Möglichkeiten zum Benchmarking auf der Ebene von Regionen, Einrichtungen und Abteilungen.
• Die Umsetzung eines transparenten und wissenschaftlich abgesicherten Entwicklungsprozesses von Qualitätsindikatoren und Messinstrumenten, der sich über Publikationen auch der internationalen Diskussion und Kritik stellt.
Obwohl es in vielen ausländischen Gesundheitssystemen auch eine Sektoralisierung der Behandlung gibt und damit Defizite in Behandlungsverläufen, gibt es nach Angaben von AQUA "weltweit bisher kein Vorbild für ein indikatorengestütztes, umfassendes sektorenübergreifendes Koordinatensystem zur Abbildung der Qualität der Versorgung."
Zu seinen ersten Arbeitsschritten, dies für die Bundesrepublik zu ändern, gehört daher der am 5. Januar 2010 von AQUA veröffentlichte erste Entwurf eines Methodenpapiers, das im Rahmen des gesetzlich vorgeschriebenen Stellungnahmeverfahrens bis zum 25. Januar 2010 von den nach § 137 a SGB V zu beteiligenden Organisationen sowie von der interessierten Öffentlichkeit erörtert und kritisiert werden kann. Wer will und es für notwendig hält, kann auf diesem Weg auch Vorschläge einreichen, die in einem förmlichen Verfahren darauf hin geprüft werden, ob sie in das künftige Routineverfahren zur Qualitätssicherung aufgenommen werden können.
Welche Schritte mit welchen Zielen und mit der Unterstützung welcher Experten und Versorgungsakteure dafür gemacht werden müssen, um die entsprechenden Qualitäts-Indikatoren zu entwickeln und sie in den Versorgungsalltag zu implementieren, sind zwei Kerninhalte des Methodenpapiers. Dabei bleibt manches notwendigerweise abstrakt. Das Papier versucht dies etwas zu lindern indem am Beispiel eines denkbaren Auftrags des G-BA die Qualitätssicherung im Bereich von Harninkontinenz aufzubauen, die von AQUA als Entwicklungsschritte vorgeschlagenen Institutionen und Verfahren vorgestellt und mit Leben gefüllt werden.
Der Ende November 2009 erstellte erste Entwurf des Methodenpapiers "Allgemeine Methoden für die wissenschaftliche Entwicklung von Instrumenten und Indikatoren im Rahmen der sektorenübergreifenden Qualitätssicherung im Gesundheitswesen nach § 137a SGB V" mit 127 Seiten Umfang ist kostenlos zu erhalten. Zugleich ist dies ein guter und auch für die Implementationsphasen anderer Innovationen wünschenswerter Einstand für die hoffentlich dauerhafte Transparenz in der ja keineswegs konfliktarmen Qualitätsberichterstattung und -sicherung.
Bernard Braun, 8.1.10
Wettbewerb à la GKV oder wie kritisch darf eine gesetzliche Krankenkasse mit Direktverträgen anderer gesetzlichen Kassen umgehen?
Im 5. Buch des Sozialgesetzbuchs finden sich spätestens seit dem Wettbewerbsstärkungsgesetz aus dem Jahr 2007 eine Fülle von Möglichkeiten, dass einzelne Krankenkassen mit einzelnen Leistungserbringern so genannte Direkt- oder Selektivverträge abschließen können. Der Wettbewerb sollte nach dem Willen des Gesetzgebers nicht mehr länger mit niedrigen Beiträgen um möglichst junge und gesunde Mitglieder stattfinden, sondern z.B. auch mit guten Versorgungsangeboten für chronisch Kranke. Bis Mitte 2009 gehörte auch die hausarztzentrierte Versorgung zu den Möglichkeiten einzelner Kassen durch tatsächlich oder vermutlich gute ambulante Versorgung aufzufallen und Mitglieder zu gewinnen oder zu halten. Nachdem diese Wettbewerbsmöglichkeit von relativ wenigen Krankenkassen genutzt wurde und dazu noch äußerst phantasielos, müssen seit dem 1.7.2009 alle gesetzlichen Krankenkassen hausarztzentrierte Versorgung anbieten.
Aus der Zeit des möglichen "echten" Wettbewerbs um Hausarztversorgung stammt nun ein Rechtsstreit zwischen mehreren gesetzlichen Krankenkassen, der am 2. November 2009 durch ein Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg abgeschlossen wurde und bemerkenswerte Grundsätze für das Wettbewerbsverständnis in der GKV enthält.
Zu den Requisiten des Rechtsstreites gehören:
• Eine kritische Veröffentlichung der BKK-Verbund Plus über einen Hausarztvertrag einer konkurrierenden Innungskrankenkasse. Dort hieß es auf komparativen Krawall gebürstet unter der Überschrift "Schlucken Sie nicht jede Pille! - Gut versorgt beim Hausarzt? - eine Versicherten-Information Ihrer Krankenkassen" u.a.: "In Hausarztmodellen sind Sie in der Wahl Ihres Arztes eingeschränkt! Sie binden sich damit vertraglich für mindestens 1 Jahr an einen Hausarzt. Als Patient ist es Ihr gutes Recht, Ihren Arzt selbst und frei zu wählen! Wir schreiben Ihnen die Wahl Ihres Arztes nicht vor. Der richtige Arzt für Sie nimmt sich ausreichend Zeit für das Gespräch mit Ihnen, informiert Sie über alle Schritte und lässt Sie nicht warten.
Kein Hausarzt ohne Facharzt! Neben der qualifizierten hausärztlichen Behandlung halten wir für Sie eine umfassende und optimale Therapie auch mit Fachärzten und Klinischer Therapie für notwendig. Mit dieser "Hand in Hand-Versorgung" haben Sie die besten Möglichkeiten zur Genesung. Therapiefreiheit für Ihren Hausarzt! In Hausarztmodellen wird auf die Therapiefreiheit von Ärzten aktiv Einfluss genommen. Mit dem dadurch eingesparten Geld, soll ein Hausarztmodell vorwiegend finanziert werden."
• In diesen Äußerungen sah eine konkurrierende Krankenkasse mit Hausarztvertrag einen unzulässigen Eingriff in ihren Geschäftsbetrieb und versuchte der BKK-Verbund Plus diese Werbeaussagen durch ein einstweiliges Anordnungsverfahren vor dem Sozialgericht untersagen zu lassen. Vor allem enthielten die Äußerungen der BKK unwahre Tatsachenbehauptungen. Vor allem gehe die hausarztzentrierte Versorgung mit keiner Einschränkung der ärztlichen Therapiefreiheit einher.
• Sowohl das Sozialgericht als auch das danach angerufene Landessozialgericht sahen allerdings keinen Anlass für eine einstweilige Anordnung. Das zentrale Argument lautete: Auf das Verhältnis der gesetzlichen Krankenkassen untereinander, also alles Körperschaften öffentlichen Rechts, könne das klassische Wettbewerbsrecht zwischen Unternehmen nicht angewendet werden. Jedem der immer zahlreicher werdenden, mit Mitgliederhalte- und gewinnungsaufgaben betrauten KassenmitarbeiterInnen schreiben die LSG-Richter in ihrer Urteilsbegründung ein paar bemerkenswert wirklichkeitsnahe Merksätze ins Stammbuch: "Der Antragstellerin drohen keine gegenwärtigen Nachteile durch das von den Antragsgegnern vertriebene Informationsblatt. Denn die streitigen Informationen sind bereits am 12. Mai 2009 von der betreffenden Internetseite der Antragsgegnerin zu 2 gelöscht worden und diese wurde angewiesen, das Informationsblatt nicht mehr zu verwenden. Die Antragstellerin weist zwar zutreffend darauf hin, dass allein damit eine Wiederholungsgefahr nicht beseitigt wird. Das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr als Voraussetzung für einen Unterlassungsanspruch begründet in Fallkonstellationen der vorliegenden Art jedoch noch keinen Anordnungsgrund. Zur Durchsetzung eines Unterlassungsanspruches gegen ein tatsächliches oder vermeintliches Fehlverhalten einer Krankenkasse oder ihres Verbandes im Bereich der Mitgliederwerbung - hierzu rechnet der Senat das von den Antragsgegnerinnen herausgegebene Informationsblatt - kann den Beteiligten grundsätzlich die Klärung der streitigen Fragen in einem Hauptsacheverfahren zugemutet werden, da eine mögliche Reaktion der Versicherten auf das beanstandete Verhalten in der Regel nicht sofort zu größeren wirtschaftlichen Nachteilen bei einer Krankenkasse führt. Solche wirtschaftlichen Nachteile sind im Übrigen auch nicht konkret bezeichnet und belegt worden".
• Trotz der Nichtdringlichkeit einer Entscheidung kommen die Richter dann aber zu einem Urteil bzw. aus seiner Sicht einzuhaltenden Wettbewerbsregeln, die wahrscheinlich die wettbewerbseifrigen Marketingabteilungen der gesetzlichen Krankenkassen noch mehr erschüttern. Die Entscheidung gegen die Verbreiterin der Informationsbroschüre wird u.a. mit folgenden Argumenten begründet: "Die [BKKen] könnten mit den von der Antragstellerin beanstandeten Aussagen [...] gegen das öffentlich-rechtliche Gebot der Rücksichtnahme und die Pflicht zur sachbezogenen Information verstoßen. Schon der Umstand, dass die Antragsgegner die hausarztzentrierte Versorgung nahezu ausschließlich negativ darstellen, dürfte mit einer sachbezogenen Information kaum vereinbar sein, da es sich dabei um ein besondere Versorgungsform handelt, die nicht nur im Gesetz vorgesehen ist, sondern die nach § 73b Abs. 1 SGB V alle Krankenkassen anbieten müssen. Darüber hinaus spricht viel dafür, dass die Antragsgegner mit diesen Äußerungen den Eindruck erwecken, den Versicherten werde die Wahl ihres Arztes vorgeschrieben. Dabei ist die Teilnahme an der hausarztzentrierten Versorgung freiwillig (§ 73b Abs. 3 Satz 1 SGB V). Die Aussagen zur Therapiefreiheit in Hausarztmodellen entsprechen wohl ebenfalls nicht den Tatsachen. Denn die ärztliche Therapiefreiheit darf in der hausarztzentrierten Versorgung nicht eingeschränkt werden und wird es auch nicht. Die Behauptung der Antragsgegner, das Informationsblatt sei als interne Argumentationshilfe für Mitarbeiter herausgegeben worden, dürfte schon durch die Überschrift widerlegt werden. Darin werden die Ausführungen als "Versicherten-Information Ihrer Krankenkassen" bezeichnet; außerdem werden die Versicherten auch an anderer Stelle direkt angesprochen."
Der juristische Kommentator Robert Kazemi bewertet auf der Fach-Website "medizinRecht" das Urteil dann auch am 2. November 2009 so: "Meinungsfreiheit auf Seiten der gesetzlichen Krankenversicherung hat Grenzen. Anders als grundrechtsgeschützte Privatpersonen und Vereinigungen sind die gesetzlichen Krankenkassen in hohem Maße der Neutralität verpflichtet. Offene Kritik am System steht ihnen nicht zu".
Rechnet man zu diesen Besonderheiten gesetzlicher Krankenkassen auch noch die besondere Verpflichtung zur Wahrheit und Bedarfsgerechtigkeit der ihren Versicherten angebotenen Leistungen hinzu, kann sich jeder gesetzlich Krankenversicherte anhand der Broschürenberge seiner Kasse ein Bild über die Größe der Diskrepanz zwischen Norm und Wirklichkeit machen.
Den Beschluss des LSG Baden-Württemberg vom 02.11.2009 (AZ L 11 KR 3727-09 ER/B) können Interessenten kostenlos nachlesen.
Bernard Braun, 18.12.09
Bedenkliche Schlagseite gesundheitspolitischer Ziele im Koalitionsvertrag
Die gesundheitspolitischen Vereinbarungen von CDU/CSU und FDP für die 17. Legislaturperiode 2009-2013 haben es in sich. Nicht nur, weil sich die Koalitionäre die Umsetzung vieler Allgemeinplätze vorgenommen haben, wie sie gleich zu Beginn zeigen: "Wir werden das deutsche Gesundheitswesen innovationsfreundlich, leistungsgerecht und demographiefest gestalten. Wir benötigen eine zukunftsfeste Finanzierung, Planbarkeit und Verlässlichkeit sowie Solidarität und Eigenverantwortung." Vor allem aber wegen der inhaltlichen Akzentsetzungen im Bereich der zukünftigen Gesundheitsfinanzierung, die unübersehbar eine liberale Handschrift tragen. So bekennt sich die Koalition uneingeschränkt zu mehr Wettbewerb als "ordnendem Prinzip" im Krankenversicherungsmarkt. Der Koalitionsvertrag erwähnt dabei indes nur eine Seite der Medaille, nämlich die Möglichkeit für die Kassen, "gute Verträge"gestalten zu können", erwähnt aber mit keinem Wort, wie sie den unerwünschten Wirkungen des Kassenwettbewerbs wie Risikoselektion und Rosinenpickerei zu begegnen gedenkt. Im Gegenteil, die Koalition kündigt sogar die Abschaffung des von den Vorgängerregierungen weit vorangetriebenen, an Leistungsausgaben orientierten Risikostrukturausgleichs an, der die größten Verwerfungen auffangen und Fehlanreize vermeiden sollte: "Wir wollen einen Einstieg in ein gerechteres, transparenteres Finanzierungssystem. Der Morbi-RSA wird auf das notwendige Maß reduziert, vereinfacht sowie unbürokratisch und unanfällig für Manipulationen gestaltet." Wobei der abschließende Nebensatz eine gehörige Dosis Naivität erahnen lässt - eine manipulationsunanfällige gesundheitspolitische Erfindung wäre dringendst Nobelpreisverdächtig und gehört wohl eher in den Bereich der Wunschträume.
Ohnehin gehörte und gehörte die Gesundheitspolitik offenbar zu den unübersehbarsten Beziehungsproblemen der vermeintlichen Traumehe zwischen CDU/CSU und FDP, wie schon im Oktober das Deutsche Ärzteblatt unter dem Titel Zankapfel Gesundheitspolitik schrieb. Von der tageszeitung über die Süddeutsche Zeitung bis zur Wirtschaftswoche sind die Unterschiede zwischen CDU/CSU auf der einen und FDP auf der anderen Seite medial seit Beginn der schwarz-gelben Koalition präsent.
Ein auf den ersten Blick eher unauffälliger Satz der Koalitionsvereinbarung hat es besonders in sich, worauf bereits die Berliner Zeitung in dem Kommentar Röslers Big Bang hinwies. Wer das sozialpolitische Ziel anstrebt, "Beitrag und Leistung müssen in einem adäquaten Verhältnis stehen," kündigt damit nicht weniger als das Ende der sozialen Krankenversicherung an. Dass sich der Leistungsanspruch nach dem Bedarf, aber eben nicht nach dem gezahlten Einkommen richtet, ist ein Grundprinzip der sozialen Krankenversicherung. Dieses etablierte Solidarprinzip will die CDU/CSU-FDP-Koalition nun nach eigenem Bekunden in der Gesetzlichen Krankenkasse (GKV) abschaffen und durch ein Äquivalenzprinzip ersetzen, nämlich eine Finanzierungsform, bei der eine Äquivalenz bzw. Gleichwertigkeit zwischen Beitrag und Leistung besteht.
Das geht naturgemäß nicht mit der bisherigen einkommensbezogenen Beitragserhebung zusammen, sondern entweder mit einer Kopfpauschale mit einem für alle einheitlichen Leistungspaket oder mit verschiedenen Versicherungspaketen zu unterschiedlichen Preisen. Man darf gespannt sein, welche Option sich durchsetzen kann - Einheitsbeitrag oder Private Krankenversicherung für alle, natürlich mit Schmalspurpaketen für Hartz-IV-EmpfängerInnen. Der von Gesundheitsminister Rösler in Deutschen Ärzteblatt Anfang 2010 erneut bekräftige Wunsch nach einem "stärker wettbewerblichen System" lässt für die wachsende Schar der Billiglöhner und Sozialhilfeempfänger ebenfalls nicht Gutes ahnen.
Die Arbeitgeberbeiträge will die konservativ-liberale Regierung nach eigenem Bekunden einfrieren, um die Gesundheit- von den Lohn"zusatz"kosten zu entkoppeln. Das ist seit vielen Jahren eine zentrale gesundheitspolitische Forderung von Arbeitgeberverbänden und Unternehmern, um nicht durch hohe Sozialabgaben die Konkurrenzfähigkeit zu verlieren und im härter werden internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Dass diese Erwartung wenig mit der Realität zu tun hat, ist seit Längeren in diesem Forum nachzulesen, und zwar in dem Forums-Artikel aus der Reihe "Märchen von der Kostenexplosion" oder eingehend und ausführlich in Ein Spiel mit der Angst - das Märchen von der Gefährdung des Standortes. Der Effekt des Arbeitgeberanteils an den Endpreisen deutscher Exportartikel ist selbst bei erheblichen Beitragssatzsteigerungen nur marginal. Ein Einfrieren des Arbeitgeberanteils, wie ihn nun CDU/CSU und FDP anstreben, wird allenfalls einen gefühlten, aber keinen realen Effekt auf die deutsche Volkswirtschaft haben.
Auch die Frage von Kosten-Nutzen-Bewertungen kommt im Koalitionsvertrag zur Sprache. Besonderes Augenmerk legt die Regierung dabei auf das mittlerweile international anerkannte IQWIG in Köln: "Die Arbeit des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) werden wir auch unter dem Gesichtspunkt stringenter, transparenter Verfahren überprüfen und damit die Akzeptanz von Entscheidungen für Patienten und Patienten, Leistungserbringer und Hersteller verbessern." (Doppelung im Original, Hervorhebung JH). Die Akzeptanz der Empfehlungen des IQWIG auch auf Seiten der Hersteller zu erhöhen, mag ein hehres Ziel sein, für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung ist allerdings weniger tauglich, denn dies verspricht eine deutliche Verbesserung der ohnehin nicht unerheblichen Einflussmöglichkeiten der Pharmaindustrie und anderer Hersteller.
Als Beleg für die angestrebte Klientelpolitik mag der folgende Satz gelten: "Die Freiberuflichkeit der ärztlichen Tätigkeit ist ein tragendes Prinzip unsere(r) Gesundheitsversorgung und sichert die Therapiefreiheit." Klingt gut, vor allem in den Ohren niedergelassner Ärztinnen und Ärzte, die seit Jahren Einnahmerückgänge verzeichnen und gerne die "Staatsmedizin" an den Pranger stellen. Ob die Sicherung der Therapiefreiheit aber außer den Ärzten auch Versicherten und Patienten zu Gute kommt, steht auf einem anderen Blatt. Jüngste Ergebnisse einer internationalen Vergleichsstudie lassen erhebliche Zweifel aufkommen. Vor wenigen Wochen verwies das Forum Gesundheitspolitik auf eine Befragung von über 10.000 Allgemeinärzten, in der sich zeigte, dass niedergelassen Ärzte in Deutschland insbesondere bei chronischen Krankheiten erheblich seltener leitliniengerecht behandeln - eine derartige Therapiefreiheit kann nicht im Sine einer guten Gesundheitspolitik sein.
Die Koalitionsvereinbarung enthält noch eine Reihe anderer Ankündigungen, die in Fachkreisen Diskussionen hervorgerufen haben. Mehrere Gruppierungen und Vereinigungen haben mittlerweile Stellungnahmen zur Arbeitsgrundlage der neuen Bundesregierung vorgelegt, so die BundesArbeitsGemeinschaft der PatientInnenstellen und -Initiativen mit der BAGP-Stellungnahme zur Koalitionsvereinbarung von CDU/CSU/FDP und der Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdää).
Der gesamte Koalitionsvertrag Wachstum. Bildung. Zusammenhaltsteht allen Interessierten kostenfrei zur Verfügung; Auszüge sind nachzulesen im nachzulesen in der Novemberausgabe vom AOK-Medienservice.
Die gesundheitspolitisch relevanten Passagen des Koalitionsvertrags zwischen CDU/CSU und FDP finden Sie exklusiv auf der Homepage vom Forum Gesundheitspolitik.
Jens Holst, 16.12.09
Kein Rechtsanspruch auf Widerruf einer ärztlichen Diagnose - OVG: "Alkohol-Missbrauch" ist ein Werturteil
Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Nordrhein-Westfalen hat in einem bereits am 2.12.2008 getroffenen aber erst am 18.10.2009 online veröffentlichten Beschluss (AZ: 13 E 1108/08) eine für Nichtjuristen nicht unmittelbar verständliche Argumentationskette mit interessantem Schluss für rechtens erklärt. In dem zur Entscheidung anhängigen Fall ging es darum, dass eine von einem Amtsarzt in einem Gutachten als Alkoholmissbraucherin diagnostizierte Frau, diese Diagnose als ehrverletzend ansah und ihren Widerruf verlangte.
Das OVG lehnte dieses Begehren ab und führte folgende Gründe an:
• Gegenstand eines Widerrufsanspruchs können "nur Tatsachenbehauptungen sein …, nicht aber Werturteile".
• "Anerkannt ist des Weiteren, dass es sich bei ärztlichen Diagnosen grundsätzlich um Werturteile handelt. Zwar werden in entsprechenden ärztlichen Äußerungen regelmäßig auch Tatsachen behauptet, etwa die Beobachtung bestimmter, der Diagnose zugrunde liegender Symptome. Der Schluss, den ein Arzt mit einer Diagnose aus den vorliegenden Fakten zieht, ist jedoch eine aus seiner fachlichen Einschätzung gewonnene Bewertung und nicht die Behauptung einer Tatsache."
• Nur wenn die Erhebung des Befundes, der die Schlussfolgerung des Arztes trägt, in fachlich-methodischer Hinsicht offensichtlich defizitär oder offenkundige persönliche Inkompetenz vorliegt, liegt eine Tatsachenbehauptung vor, die einem Widerruf zugänglich ist. Dafür muss also die fachliche Grundlage der Diagnose fehlen.
• Der behauptete Alkoholmissbrauch stützt sich auf Blutuntersuchungen nach anerkannten Diagnosekriterien für den Missbrauch und stellt daher keine haltlose Behauptung dar. Dann gilt aber erst recht, dass die Schlussfolgerung des Amtsarztes als Werturteil nicht zum Gegenstand eines Widerrufsbegehrens gemacht werden kann.
• Der Klägerin steht nach Ansicht des OVG natürlich der Weg frei, durch weitere Untersuchungen die Diagnose des Amtsarztes zu "hinterfragen".
Diese ungewohnte Einordnung ärztlicher Diagnosen kann nach Meinung eines Kommentators des Beschlusses auch im Binnenverhältnis zwischen Ärzten eine Rolle spielen. So könnten niedergelassene Ärzte z.B. durch negative Feststellungen anderer Ärzte in MDK-Gutachten betroffen sein. Auch hier würde dann aber die vom OVG dargelegte ständige Rechtsprechung gelten, dass ärztliche Diagnosen regelmäßig Werturteile darstellen und nicht dem Widerruf zugänglich sind.
Die Darstellung des Sachverhalts und wesentliche Gründe der OVG-Entscheidung sind unter der Überschrift " (Kein) Anspruch auf Widerruf der in einem amtsärztlichen Gutachten gestellten Diagnose" in der Zeitschrift Medizinrecht (Oktober/November 2009 27: 618-619) veröffentlicht und dort als "free preview" bis auf wenige Zeilen kostenlos nachlesbar.
Bernard Braun, 17.11.09
Hand- oder Elektrobetrieb: Wo endet für eine Krankenkasse die gesetzliche Pflicht, die Selbständigkeit von Behinderten zu fördern?
Egal, ob es um Rehabilitationsleistungen oder Leistungen der Pflege- und Krankenversicherung geht, verpflichtet der Gesetzgeber die Sozialverwaltungen, durch ihre Leistungen die Selbständigkeit und Selbstbestimmung ihrer betroffenen Versicherten zu fördern:
• "Die Leistungen zur Teilhabe umfassen die notwendigen Sozialleistungen … um … die persönliche Entwicklung ganzheitlich zu fördern und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie eine möglichst selbständige und selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen oder zu erleichtern. (§ 4 Abs. 1 SGB IX)
• "Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen den Pflegebedürftigen helfen, trotz ihres Hilfebedarfs ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht" (§ 2 SGB XI)
• "Den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen ist Rechnung zu tragen." (§ 2a SGB V)
Dennoch verweigerte die Barmer Ersatzkasse einem ihrer an beiden Beinen amputierten und damit schon länger auf einen Rollstuhl angewiesenen Versicherten, der nun wegen Kreislauf- und Herzproblemen und einer durch das ständige Fahren des Rollstuhls verursachten ärztlich attestierten chronischen Entzündung beider Arme auch noch Probleme bekam, sich mit eigener Kraft zu bewegen, die Finanzierung eines Elektrorollstuhl nach § 33 SGB V.
Zentrale Begründung: Der Behinderte könne sich doch durch seine Frau oder seinen Schwiegersohn schieben lassen. Diese Position hielten das zuständige baden-württembergische Sozial- und Landessozialgericht (LSG) auf eine entsprechende Klage des behinderten Versicherten gegen die Barmer für rechtens.
Erst das Bundessozialgericht (BSG) besann sich jetzt auf die eingangs zitierten klaren und auch die Wuppertaler Großkasse verpflichtenden Ziele des Gesetzgebers, den Behinderten wenn irgend möglich unabhängig zu machen und erklärte in einer bereits im August 2009 veröffentlichten Entscheidung: "Zu Unrecht hat das LSG auf die Möglichkeiten der familiären Schiebehilfe verwiesen; wesentliches Ziel der Hilfsmittelversorgung ist es nämlich, den behinderten Menschen von der Hilfe anderer Menschen unabhängig zu machen und ihm eine selbständigere Lebensführung zu ermöglichen. Deshalb besteht grundsätzlich ein Anspruch auf Versorgung mit einem Elektrorollstuhl, wenn ein Versicherter nicht (mehr) in der Lage ist, den Nahbereich der Wohnung mit einem vorhandenen Aktivrollstuhl aus eigener Kraft zu erschließen."
Das LSG müsse nun abschließend ermitteln, dass der Versicherte nicht selbst in der Lage sei, seinen Rollstuhl zu bewegen. Trotz der Hinweise und vorgelegter Atteste des klagenden Behinderten geschah dies im ersten Verfahren wohl nicht. Bestätigt sich dann das Unvermögen des Versicherten, sich mit eigener Kraft zu bewegen, muss ihm nach dem BSG-Urteil die Barmer Ersatzkasse einen Elektrorollstuhl finanzieren.
Dies ist leider kein Einzelfall, sondern es kommt immer wieder ausgerechnet zwischen schwer bedürftigen und damit natürlich so genannten "schlechten Risiken" und ihren Kassen zu derartigen vorgerichtlichen oder auch gerichtlichen Auseinandersetzungen. Daher sei die Frage erlaubt, ob in solchen Fällen bereits die rechts- und sozialblinden Betriebswirte das Sagen haben oder man den Kassenmitarbeitern empfehlen sollte, sich mal eine Stunde von ihrem Schwiegersohn durch die bergige Wuppertaler Innenstadt schieben zu lassen - Sammeln von Versorgungswirklichkeit eben!
Die wesentlichen Argumente zu dem beim BSG unter dem Aktenzeichen B 3 KR 8/08 R geführten Rechtsstreit stehen der Öffentlichkeit innerhalb des BSG-"Terminbericht 44/09" vom 13.8.2009 kostenlos zur Verfügung.
Aktueller Nachtrag: Außerdem ist auch der komplette Text des Urteils samt Begründung veröffentlicht und kostenlos erhältlich.
Bernard Braun, 5.11.09
Gutachten "zur Überwindung des zweigeteilten Krankenversicherungsmarktes" oder wie zukunftssicher ist die PKV?
Die seit einiger Zeit mit hochkarätiger Beteiligung geführte Debatte über die Existenzberechtigung der PKV bzw. die weltweit fast einmalige Koexistenz einer gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für knapp 90% der deutschen Bevölkerung und einer privaten Voll-Krankenversicherung (PKV) für rund 8% BürgerInnen ist weiterhin virulent.
Dafür sorgte gerade die zitierte spekulative Formulierung im Magazin "Focus" über ein angeblich vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten zu den Möglichkeiten, die PKV abzuschaffen.
Auch wenn das BMG bereits dementierte, dieses Gutachten mit diesem Ziel einholen zu wollen, bestätigt sein Sprecher aber immerhin, es solle überprüft werden ob und wie nach den letzten Gesetzen und Urteilen künftig "gegebenenfalls Rücksicht auf schutzwürdige Positionen von Versicherern und Versicherten genommen werde müsse". Das kann man mit Verlaub auch als Auftrag interpretieren, Positionen zu finden, die nicht schutzwürdig sind.
Egal was das BMG von dem Gutachten erwartet oder mit seinen Ergebnissen machen will: Der seit der Verabschiedung des "Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (WSG)" im Jahr 2007 befürchtete empirische Erosionsprozess der PKV findet bisher in einem wichtigen Punkt nicht statt.
Nach Recherchen des "Tagesspiegels" vom 6.9.2009 und Angaben des Verbands der privaten Krankenversicherungsunternehmen hatten am 1. Juli 2009 insgesamt 9.800 Versicherte den so genannten Basistarif gewählt. Der Wechsel von einer anderen Versicherung in einen Basistarif eines PKV-Unternehmens ist verschwindend gering: Bei der DKV machten dies bislang gerade einmal zwei, bei der Debeka 16 Menschen.
Entgegen allen Unkenrufen und Befürchtungen, die u.a. zu mehreren Verfahren privater Krankenversicherer vor dem Bundesverfassungsgericht geführt hatten, scheinen damit die durch das WSG von 2007 eingeführten Wahlmöglichkeiten kaum angenommen worden zu sein.
Nach einigen kleineren Anläufen in den letzten 30 Jahren, das Nebeneinander und Gegeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung zu regulieren und Wettbewerbsnachteile der GKV zu mildern, veränderte erst das WSG eine Reihe grundsätzlicher und seit Jahrzehnten beklagten wettbewerbswidrigen Bedingungen für die PKV.
Die Reform verpflichtete die PKV-Unternehmen, ab 1. Juli 2007 einen modifizierten Standardtarif und ab 1. Januar 2009 einen Basistarif anzubieten, der nicht teurer sein darf als der teuerste Tarif bei einer gesetzlichen Kasse, aber dann auch nur die GKV-Leistungen umfasst. Um die im selben Gesetz eingeführte Krankenversicherungspflicht realisieren zu können, dürfen außerdem Antragsteller für eine PKV-Mitgliedschaft dort nicht wegen Krankheiten oder aus Altersgründen abgelehnt werden - es besteht also Kontrahierungszwang.. Weiterhin muss die Branche beim Wechsel eines Versicherten zu einer anderen privaten Versicherung die Übertragbarkeit eines Teils seiner Altersrückstellungen vom alten in das neue Unternehmen und die Verlängerung der Sperrfristen beim Wechsel von einer gesetzlichen in eine private Versicherung (seit dem 2. Februar 2007 belaufen sich diese auf drei Jahre) akzeptieren.
Außerdem besteht seit dem 1. Januar 2009 für alle substitutiven Krankenvollversicherungen, also auch die in der PKV, ein absolutes Kündigungsverbot.
Der auch für die PKV geltende Kontrahierungszwang im Basistarif spiegelt sich versicherungsvertragsrechtlich in § 193 Abs. 5 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) wider, der einen privatrechtlichen Anspruch auf Abschluss eines Vertrages im Basistarif einräumt. Die Vorschrift lautet: "Der Versicherer ist verpflichtet, 1. allen freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten a) innerhalb von sechs Monaten nach Einführung des Basistarifes, b) innerhalb von sechs Monaten nach Beginn der im Fünften Buch Sozialgesetzbuch vorgesehenen Wechselmöglichkeit im Rahmen ihres freiwilligen Versicherungsverhältnisses, 2. allen Personen mit Wohnsitz in Deutschland, die nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherungspflichtig sind, nicht zum Personenkreis nach Nummer 1 oder Absatz 3 Satz 2 Nr. 3 und 4 gehören und die nicht bereits eine private Krank- heitskostenversicherung mit einem in Deutschland zum Geschäftsbetrieb zugelassenen Versicherungsunternehmen vereinbart haben, die der Pflicht nach Absatz 3 genügt, 3. Personen, die beihilfeberechtigt sind oder vergleichbare Ansprüche haben, soweit sie zur Erfüllung der Pflicht nach Absatz 3 Satz 1 ergänzenden Versicherungsschutz benötigen, 4. allen Personen mit Wohnsitz in Deutschland, die eine private Krankheitskostenversicherung im Sinn des Absatzes 3 mit einem in Deutschland zum Geschäftsbetrieb zugelassenen Versicherungsunternehmen vereinbart haben und deren Vertrag nach dem 31. Dezember 2008 abgeschlossen wird, Versicherung im Basistarif nach § 12 Abs. 1a des Versicherungsaufsichtsgesetzes zu gewähren."
Die dagegen vor dem Bundesverfassungsgericht erhobenen Verfassungsklagen wurden mit dem Urteil vom 10. Juni 2009 im Grunde abgelehnt und die Verfassungsmäßigkeit dieser WSG-Bestimmungen bestätigt.
In drei der vier Leitsätze des Urteils kommt dies so zum Ausdruck: "1. Die Einführung des Basistarifs durch die Gesundheitsreform 2007 zur Sicherstellung eines lebenslangen, umfassenden Schutzes der Mitglieder der privaten Krankenversicherung ist verfassungsgemäß. 2. Der Gesetzgeber durfte zur Erleichterung des Versicherungswechsels und zur Verbesserung des Wettbewerbs in der privaten Krankenversicherung die teilweise Portabilität der Alterungsrückstellungen vorsehen. 3. Die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenkasse darf auf ein dreijähriges Überschreiten der Jahresarbeitsentgeltgrenze ausgedehnt werden."
Das Vorgehen des Gesetzgebers, darunter auch Eingriffe in die Berufsausübungsfreiheit der PKV, sieht das Gericht durch "beachtliche Gemeinwohlinteressen" gerechtfertigt: "Für das im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz formulierte Ziel, allen Bürgern der Bundesrepublik Deutschland einen bezahlbaren Krankenversicherungsschutz in der gesetzlichen oder in der privaten Krankenversicherung zu sichern, kann sich der Gesetzgeber auf das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG berufen. Der Schutz der Bevölkerung vor dem Risiko der Erkrankung ist in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine Kernaufgabe des Staates. Die gesetzgeberische Absicht, einen Krankenversicherungsschutz für alle Einwohner zu schaffen, ist von dem Ziel getragen, ein allgemeines Lebensrisiko abzudecken, welches sich bei jedem und jederzeit realisieren und ihn mit unabsehbaren Kosten belasten kann. Es ist ein legitimes Konzept des zur sozialpolitischen Gestaltung berufenen Gesetzgebers, die für die Abdeckung der dadurch entstehenden Aufwendungen notwendigen Mittel auf der Grundlage einer Pflichtversicherung sicherzustellen."
Allerdings unterstrich das Bundesverfassungsgericht auch, der Gesetzgeber habe eine "Beobachtungspflicht im Hinblick auf die Folgen der Reform für die Versicherungsunternehmen und die bei ihnen Versicherten", und dabei den Weiterbestand der PKV im Auge zu haben.
Um unnötigen Streit über die Ernsthaftigkeit einer "Beobachtungspflicht" zu verhindern, konkretisierte das Gericht seine Vorstellungen, welche Folgen für wen wie verhindert werden sollen in einer anderen Entscheidung vom selben Tag.
Konkret bedeutet dies zweierlei:
• Das absolute Kündigungsverbot "verstößt auch bei den beschwerdeführenden kleineren Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit nicht gegen Art. 9 Abs. 1 GG", der Vereinigungsfreiheit. Auch wenn damit der Schutzbereich der Vereinigungsfreiheit betroffen ist, ist "dieser Eingriff … jedoch auch bei kleineren Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit in gleichem Maße wie bei großen Versicherern grundsätzlich zum Schutz anderer Schutzgüter mit Verfassungsrang aus Gründen des gemeinen Wohls gerechtfertigt."
• Da der "kleinere Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit … auf einen sachlich, örtlich oder dem Personenkreis nach eng begrenzten Wirkungskreis gesetzlich beschränkt (ist)" und sich "diese Beschränkung … in der ihm erteilten Erlaubnis fort(setzt)", würde ein Kontrahierungszwang dazu führen, dass "eine größere Zahl von Personen bei ihnen um Versicherung im Basistarif nachsuchen würde" und damit "die beim kleineren Versicherungsverein gewollte und vom Gesetz vorausgesetzte Beschränkung auf einen bescheidenen Geschäftsbetrieb aufgegeben" werden müsste. Die Kollision von allgemeinen Kontrahierungszwang und Beschränkung der Geschäftstätigkeit löst das Bundesverfassungsgericht insofern "verfassungskonform" als "dass die kleineren Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit dem allgemeinen Kontrahierungszwang im Basistarif nicht unterworfen sind." Dies gilt allerdings auch für diese Art von PKV-Unternehmen nur für Nichtmitglieder also Interessenten für eine Mitgliedschaft.
Bernard Braun, 7.9.09
"GKV-Beitragssatz sinkt bald auf 10%" - Mögliche Konsequenzen eines Urteils des Bundessozialgerichts!?
Am 6. Mai 2009 fällte das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel ein Urteil, das es erlaubt, solche Leistungen aus dem Leistungskatalog der GKV auszuschließen, deren medizinische Wirksamkeit nicht nachgewiesen ist. Folgt man den Argumenten, die das Bundessozialgericht hierzu bewogen haben, dann könnte die spektakulärste, aber keineswegs einzige Folge eine der größten Beitragssatzsenkungen der GKV-Geschichte sein. Der Ausgangspunkt des Rechtsstreites, den jetzt das BSG beendete: Obwohl der G-BA seit einigen Jahren mit den §§ 92 und 94 SGB V ausdrücklich als eine Art "kleiner Gesetzgeber" dazu ermächtigt ist, derartige Entscheidungen nach wissenschaftlichen Evidenzkriterien vorzubereiten und zu treffen, beanstandete das BMG eine der Entscheidung des G-BA und verhinderte damit das Inkrafttreten einer G-BA-Richtlinie.
Hintergrund war ein Streit zwischen dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) über die Zulässigkeit einer Entscheidung des G-BA aus dem Jahr 2004, die so genannte Protonentherapie als einer neuen Bestrahlungsmethode bei Brustkrebs nicht zu Lasten der GKV erbringen zu lassen. Deren Wirksamkeit schien dem G-BA nicht hinreichend durch Studien belegt zu sein. Diese Position teilte das BMG nicht und auch eine Reihe inhaltlicher Bewertungskriterien (z.B. ob die Strahlendosis gegenüber anderen Therapien geringer ist) erschienen ihm vernachlässigt worden zu sein.
Da sich damit der Gesetzgeber bzw. die staatliche Exekutive weit in den inhaltlichen Zuständigkeitsbereich des G-BA einmischte, klagte dieser - Vorsitzender des G-BA ist mit Herrn Hess ein langjährig im Gesundheitswesen erfahrener Jurist - gegen die vermeintliche Kompetenzüberschreitung des BMG.
Das BSG hatte nun letztinstanzlich (alle bisherigen Verfahren in niedrigeren Instanzen verlor das BMG) das Verfahren zu beurteilen und kam zu folgenden weit über den Einzelfall hinausreichenden Kernaussagen:
• Das BSG hat die Beanstandung als rechtswidrig beurteilt und deshalb aufgehoben. Das hat zur Folge, dass die Richtlinie des G-BA jetzt in Kraft treten kann; entsprechende Therapien bei Brustkrebs (!) sind dann nicht mehr von den Krankenkassen zu bezahlen, sondern nur noch im Rahmen klinischer Studien möglich.
• Protonentherapien bei anderen Krebsarten, für die der GBA die Methode als versorgungsnotwendig anerkannt oder eine Entscheidung zurückgestellt hat (z.B bei speziellen Augentumoren oder bei Prostatakarzinomen), bleiben davon unberührt und sind weiterhin Kassenleistung.
• "Das BSG konnte Rechtsfehler des GBA bei dessen Entscheidung zum Ausschluss der Protonentherapie bei Brustkrebs nicht feststellen. Die Einschätzung, dass die Wirksamkeit dieser Therapieform im Falle von Mammakarzinomen noch nicht ausreichend gesichert sei, hält sich im Rahmen der dem GBA zukommenden Gestaltungsfreiheit beim Erlass von Richtlinien."
• "Den Vorwurf, der GBA habe vor seiner Entscheidung den relevanten Sachverhalt nicht ausreichend ermittelt und insbesondere die geringere Strahlenbelastung der Protonentherapie nicht berücksichtigt, hat das Gericht nicht für durchgreifend erachtet."
• "Zu der … Frage, ob das BMG bei Überprüfung der Richtlinienbeschlüsse des G-BA auf eine Rechtsaufsicht beschränkt ist oder weitergehende Befugnisse hat (Fachaufsicht), entschied das BSG, dass dem BMG nur eine Rechtskontrolle dieser Beschlüsse zusteht. Der Vorsitzende des 6. Senats, Prof. Dr. Ulrich Wenner, führte dazu aus: "Könnte das BMG mit Hilfe seiner Aufsichtsbefugnisse den Inhalt der Richtlinien des GBA selbst in allen Einzelheiten festlegen und damit die Gestaltungsfreiheit des GBA aushöhlen, würde dies zwangsläufig die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des Erlasses untergesetzlicher Vorschriften durch ein Ministerium abweichend von den Vorgaben in Artikel 80 Grundgesetz erneut aufwerfen." Und weiter: "Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschuss darf das BMG nicht aus reinen Zweckmäßigkeitserwägungen beanstanden".
Im § 92 Abs. 1 SGB V hat der Gesetzgeber den G-BA ausdrücklich zu folgenden Aufgaben ermächtigt: "Der Gemeinsame Bundesausschuss beschließt die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten; dabei ist den besonderen Erfordernissen der Versorgung behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen und psychisch Kranker Rechnung zu tragen, vor allem bei den Leistungen zur Belastungserprobung und Arbeitstherapie; er kann dabei die Erbringung und Verordnung von Leistungen einschließlich Arzneimitteln oder Maßnahmen einschränken oder ausschließen, wenn nach allgemein anerkanntem Stand der medizinischen Erkenntnisse der diagnostische oder therapeutische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit oder die Wirtschaftlichkeit nicht nachgewiesen sind sowie wenn insbesondere ein Arzneimittel unzweckmäßig oder eine andere, wirtschaftlichere Behandlungsmöglichkeit mit vergleichbarem diagnostischen oder therapeutischen Nutzen verfügbar ist."
Das Verfahren wie mit Richtlinien des G-BA umgegangen werden muss, regelt der § 94 SGB V: "Die vom Gemeinsamen Bundesausschuss beschlossenen Richtlinien sind dem Bundesministerium für Gesundheit vorzulegen. Es kann sie innerhalb von zwei Monaten beanstanden; bei Beschlüssen nach § 35 Abs. 1 innerhalb von vier Wochen. Das Bundesministerium für Gesundheit kann im Rahmen der Richtlinienprüfung vom Gemeinsamen Bundesausschuss zusätzliche Informationen und ergänzende Stellungnahmen anfordern; bis zum Eingang der Auskünfte ist der Lauf der Frist nach Satz 2 unterbrochen. Die Nichtbeanstandung einer Richtlinie kann vom Bundesministerium für Gesundheit mit Auflagen verbunden werden; das Bundesministerium für Gesundheit kann zur Erfüllung einer Auflage eine angemessene Frist setzen. Kommen die für die Sicherstellung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses nicht oder nicht innerhalb einer vom Bundesministerium für Gesundheit gesetzten Frist zustande oder werden die Beanstandungen des Bundesministeriums für Gesundheit nicht innerhalb der von ihm gesetzten Frist behoben, erläßt das Bundesministerium für Gesundheit die Richtlinien."
Die provokante Hoffnung auf eine Beitragssatzsenkung ergibt sich aus der möglichen Übertragung des aus BSG-Sicht für GKV-Leistungen notwendigen Wirksamkeitsnachweises nach den vom G-BA verwendeten Kriterien auf den existierenden Leistungskatalog. Folgt man nämlich versorgungswissenschaftlichen Schätzungen, dass über die Hälfte der diagnostischen und therapeutischen medizinischen Maßnahmen ohne vorliegenden Nutzen- und Wirksamkeitsnachweis zum Einsatz kommen, müsste davon zumindest ein Teil umgehend aus dem Leistungskatalog entfernt werden, ohne dass damit irgendwem ein gesundheitlicher Nachteil entsteht. Das Ergebnis wäre eine Beitragssenkung oder zusätzliche wirksame Leistungen.
Die insgesamt müden Bemühungen der gesundheitspolitischen Akteure in der politischen Administration und der GKV etwas gegen die bekannten Über- und Fehlversorgungen im deutschen Gesundheitswesen zu machen, lassen auch nach dem jetzigen BSG-Urteil wenig aus dieser Ecke erwarten. Die dann noch übrig bleibende Hoffnung auf die Rechtsprechung ist nicht hohl, aber wahrscheinlich zeitraubenderer als alle anderen Wege.
Zum Urteil des BSG "Az.: B 6 A 1/08 R Gemeinsamer Bundesausschuss ./. Bundesrepublik Deutschland" gibt es bisher nur die offizielle Medieninformation Nr. 16/09 des BSG. Es ist davon auszugehen, dass wegen der prinzipiellen Bedeutung des Urteils auch die Begründung des Gerichts veröffentlicht werden wird, die dann hoffentlich auf der Entscheidungen-Seite des BSG kostenlos zugänglich sein wird.
Bernard Braun, 7.5.09
§ 73 Abs. 8 SGB V: Umfassende Arzneimittel-Informationspflichten von Kassenärztlichen Vereinigungen und GKV gegenüber Ärzten.
Der § 73 Abs.8 SGB V verpflichtet "die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen sowie die Krankenkassen und ihre Verbände die Vertragsärzte auch vergleichend über preisgünstige verordnungsfähige Leistungen und Bezugsquellen, einschließlich der jeweiligen Preise und Entgelte zu informieren sowie nach dem allgemeinen anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse Hinweise zu Indikation und therapeutischen Nutzen zu geben. ... In den Informationen und Hinweisen sind Handelsbezeichnung, Indikationen und Preise sowie weitere für die Verordnung von Arzneimitteln bedeutsame Angaben insbesondere auf Grund der Richtlinien (des Gemeinsamen Bundesausschuss) nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 in einer Weise anzugeben, die unmittelbar einen Vergleich ermöglichen; dafür können Arzneimittel ausgewählt werden, die einen maßgeblichen Anteil an der Versorgung der Versicherten im Indikationsgebiet haben. Die Kosten der Arzneimittel je Tagesdosis sind nach den Angaben der anatomisch-therapeutisch-chemischen Klassifikation anzugeben."
Nachdem Arzneimittel sowohl einen größeren Teil der Leistungsausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung kosten als die direkten Leistungen der niedergelassenen Ärzte (Anteil Arzneimittel 2007=19,2 % und Leistungen ambulant tätiger Ärzte=16 %) als auch eine Fülle von Wirksamkeitsschwächen oder gar unerwünschten Wirkungen mit sich bringen, ist jeder Beitrag zur kritischen und praxisgeeigneten Transparenz für verordnende Ärzte von großer finanzieller und gesundheitlicher Bedeutung.
Dazu zählt daher auch das im Internet von allen Interessenten nutzbare Angebot "Wirkstoff AKTUELL", das die Kassenärztliche Bundesvereinigung in Zusammenarbeit mit der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft erstellt. Mit "Wirkstoff AKTUELL" kommt die KBV ihrem "gesetzlichen Auftrag nach, in dem wir Empfehlungen zur wirtschaftlichen Verordnungsweise unter Bewertung des therapeutischen Nutzens des jeweiligen Arzneimittels aussprechen. Unseren Hinweisen liegt eine Bewertung von für das Arzneimittel relevanten Studien und Leitlinien zugrunde."
Diese Hinweise erfolgen in sehr knapper Weise. Dies gilt z.B. auch für die jüngste Wirkstoff-Information zu "Strontiumranelat (Protelos®)", die ihre 2 Seiten mit der folgenden Empfehlung enden lässt: "Für den Wirkstoff Strontiumranelat ist, auch unter Berücksichtigung des anderen Wirkmechanismus, für die Behandlung der kein zusätzlicher Nutzen hinsichtlich der fraktursenkenden Wirkungen im Vergleich zu den Bisphosphonaten belegt."
Angesichts der vielen gleichzeitig in einschlägigen nationalen und internationalen Empfehlungen (hier ist z.B. an die Empfehlungen der "Food and Drug Administration (FDA)" der USA zu denken) enthaltenen Hinweisen auf problematische Wirkstoffe oder Arzneimittel, fällt die bisherige Anzahl von Hinweisen auf der KBV-Seite recht karg aus, ohne dass dafür eine Erklärung gegeben wird. Dies birgt das Risiko in sich, dass informationssuchende Ärzte "für alle Fälle" auch noch in drei, vier anderen Quellen recherchieren müssen, um das Gefühl zu erhalten halbwegs den Überblick über potenziell problematische Verordnungen zu besitzen. Es birgt aber auch das Risiko in sich, dass Ärzte angesichts ihrer knappen Zeitressourcen in gar keiner Infoquelle mehr systematisch und regelmäßig suchen.
Über die Home-Seite von "Wirkstoff AKTUELL" gelangt man leicht zu den chronologisch geordneten und kostenlosen Einzelbeiträgen wie etwa dem über den bei postmenopausaler Osteoporose nicht zusätzlich nützlichen Wirkstoff Strontiumranelat.
Bernard Braun, 27.1.09
LSG Hessen: Grenzen des Gemeinsamen Bundesausschusses und des Hilfsmittelkatalogs bei Mitteln zum Behinderungsausgleich.
Wer sich gerade gemerkt hat, dass seit dem 1. Januar 2004 der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) die zentrale Institution im deutschen GKV-Gesundheitswesen ist, die evidenzbasiert und nutzenorientiert über die Art der als Kassenleistungen erhältlichen medizinischen und nichtmedizinischen Leistungen im Krankheitsfall bestimmt, hat die Rechnung in mancherlei Hinsicht ohne die Rechtsprechung deutscher Gerichte gemacht.
Diese haben nämlich durchaus Möglichkeiten durch Entscheidung von einzelnen Streitfällen in bestimmte Bereiche der Leistungsgestaltung gestaltend einzugreifen und die Zuständigkeit und Reichweite von Entscheidungen des G-BA oder der Krankenkassen einzuschränken - und nutzen diese auch.
Zuletzt machte dies das Hessische Landessozialgericht (LSG) in einem ihm vorgelegten strittigen Verfahren um die Übernahme eines Hilfsmittels für ein behindertes Kind.
Die 1995 geborene Klägerin aus dem Landkreis Offenbach leidet aufgrund einer frühkindlichen Hirnschädigung an einer so genannten infantilen Cerebralparese. Die Zusammenarbeit verschiedener Muskel sowie deren Kontrolle und Steuerung sind gestört. Ein selbstständiges Gehen ist ihr aufgrund der spastischen Lähmung nicht möglich. Um Stehversuche und erste Schritte zu ermöglichen, wurden der heute 12-Jährigen zur Stabilisierung des Beckens und der Beine dynamische GPS-Soft-Orthesen verordnet. Diese Orthesen liegen wie eine zweite Haut dem jeweiligen Körperteil an. Durch den Druck des elastischen Materials auf die Rezeptoren soll die Körperwahrnehmung verbessert werden. Die Krankenkasse bezweifelt jedoch die therapeutische Wirksamkeit. Sie lehnte die Übernahme der Kosten in Höhe von knapp 1.100 € ab und bot feste Orthesen aus Carbonfasermaterial an. Sie machte dabei u.a. geltend, dass die elastischen Orthresen nicht im Hilfsmittelverzeichnis für die GKV stünden und außerdem die Wirksamkeit dieses Hilfsmittels nicht nachgewiesen und vom G-BA akzeptiert worden wäre.
Die Richter beider Instanzen gaben hingegen nach Einholung von Sachverständigengutachten der Klägerin Recht. Die Soft-Orthesen leisteten die notwendige Unterstützung der nur eingeschränkt funktionstüchtigen Körperteile. Im Vergleich zu starren Orthesen ließen die dynamischen Soft-Orthesen mehr Bewegungsfreiheit zu und seien leichter anzuziehen.
Schließlich müsse ein über den bloßen Ausgleich der Behinderung hinaus gehender therapeutischer Nutzen nicht nachgewiesen werden. Klinische Prüfungen seien daher nicht erforderlich. Ärztliches Erfahrungswissen reiche vielmehr aus. Unbeachtlich sei auch, dass die Soft-Orthesen nicht im Hilfsmittelverzeichnis stehen, da dieses Verzeichnis für die Gerichte nur eine unverbindliche Auslegungshilfe darstelle.
Die hierzu wesentliche Argumentation des Landessozialgerichts lautet so: "Wie das Sozialgericht in seinem Urteil zutreffend festgestellt hat, ist für Hilfsmittel, die einen Behinderungsausgleich i.S.d. § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V bewirken sollen und keine Hilfsmittel zu diagnostischen oder therapeutischen Zwecken darstellen, nicht erforderlich, dass die Zweckmäßigkeit, sofern es sich nicht um ein herkömmliches Hilfsmittel handelt, nach den Maßstäben des § 135 SGB V festgestellt wird. Soweit § 139 Abs. 2 SGB V für die Aufnahme von Hilfsmitteln in das Hilfsmittelverzeichnis den Nachweis eines therapeutischen Nutzens verlangt, bedeutet dies nicht, dass für Hilfsmittel jeglicher Art auch die Ergebnisse klinischer Prüfungen vorgelegt werden müssen. Bei Hilfsmitteln zum bloßen Behinderungsausgleich ist der Nachweis eines therapeutischen Nutzens, der über die Funktionstauglichkeit zum Ausgleich der Behinderung hinausgeht, schon von der Zielrichtung des Hilfsmittels nicht geboten und in der Regel auch nicht möglich. Auch nach dem Medizinproduktegesetz (MPG) sind klinische Prüfungen zum Nachweis der vom Hersteller vorgegebenen Leistungen, der Sicherheit und der Unbedenklichkeit nur vorgeschrieben, sofern es sich um implantierbare Medizinprodukte oder um solche der Klasse III handelt (vgl. §§ 19 ff. MPG). Deshalb ist es zulässig, sich zum Nachweis der Vorzüge eines derartigen Hilfsmittels auf Gutachter, die ärztliches Erfahrungswissen und die von ihnen ausgewertete Fachliteratur zu stützen, während es weitergehender klinischer Prüfungen nicht bedarf (Bundessozialgericht, Urteil vom 16. September 2004, B 3 KR 20/04 R, C-Leg). Die Produktsicherheit und Zweckmäßigkeit eines Hilfsmittels wird durch eine Kennzeichnung nach dem Medizinproduktegesetz gewährleistet, die hier in Form einer Konformitätserklärung nach dem Medizinproduktegesetz für Sonderanfertigungen vorliegt."
Zum Argument, es läge zu diesem Hilfsmittel keine Prüfung und Zulassung durch den G-BA vor, stellt das LSG Hessen fest: "Diese Ausführungen stellen … klar, dass derartige Anforderungen nicht gelten, wenn es - wie hier - um ein Hilfsmittel zum bloßen Behinderungsausgleich geht."
Ausdrücklich wies das Gericht auch darauf hin, dass die Bedarfsorientierung in der GKV bedeute, auch spezielle, in diesem Fall altersgruppenspezifische Bedarfe zu beachten und zu befriedigen: "Bei Erwachsenen muss im Bereich der Mobilität die Hilfsmittelversorgung nur gewährleisten, dass der erwachsene Versicherte sich in der eigenen Wohnung bewegen und die Wohnung verlassen kann, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (Bundessozialgericht, Urteil vom 11. Januar 2006 - B 3 KR 44/05 B). Für Kinder und Heranwachsende gilt ein großzügigerer Maßstab: Für sie kommt es darauf an, durch die Hilfsmittelversorgung sich einen gewissen körperlichen Freiraum gefahrlos zu erschließen (Bundessozialgericht, Urteil vom 10. November 2005, B 3 KR 31/04 R)."
Gegen das Urteil wurde keine Revision zugelassen, d.h. es ist rechtskräftig.
Das am 19. Juni 2008 verkündete, 21 Seiten umfassende Urteil (AZ: L 8 KR 69/07) des Hessischen Landessozialgerichts ist kostenfrei im Internet erhältlich.
Bernard Braun, 26.8.2008
Bundesverfassungsgericht: GKV-Kasse muss ausdrücklich und umfassend die gesundheitlichen und sozialen Umstände von Versicherten berücksichtigen.
Wie eine strikte Anwendung gesetzlicher Vorschriften ("Paragraphengerechtigkeit") durch die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) die Einzelfall- und Bedarfsgerechtigkeit verletzen kann und welche Bedeutung dann die Rechtsprechung im sozialen Rechtsstaat hat, zeigt ein bereits am 29. November 2007 veröffentlichter Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (1 BvR 2496/07).
Mit diesem Beschluss beendete das BVerfG die Auseinandersetzung zwischen einer gesetzlichen Krankenkasse und einer 72-jährigen krebskranken Versicherten mit einer monatlichen Rente von 72 Euro.
Diese Versicherte wollte ihre Krebserkrankung durch eine so genannte Hyperthermiebehandlung, d.h. eine kurzfristige Überhitzung ihres Körpers, behandeln lassen und verlangte dies als Sachleistung. Ihre Krankenkasse wies zunächst darauf hin, diese Leistung habe der dafür zuständige Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) noch nicht in den Leistungskatalog der GKV aufgenommen und schlug der Versicherten vor, sie solle auf jeden Fall zunächst mit den 1.300 Euro monatlichen Therapiekosten in Vorleistung treten. Dabei vermutete die Kasse, der behandelnde Arzt würde wahrscheinlich seine Patientin auch ohne umgehende Bezahlung weiterbehandeln.
In seinem Beschluss erklärt nun das oberste Verfassungsgericht eindeutig die Unzulässigkeit beider Argumentationsstränge der Krankenkasse:
• Zum einen muss die Krankenkasse dann die Kosten einer nicht im Katalog der Kassenleistungen enthaltenen Leistung übernehmen, wenn der Patient lebensbedrohlich erkrankt ist und die konventionellen Therapieformen nicht hinreichend sind. Damit bestätigt und erweitert es eine frühere und komplett kostenlos erhältliche Entscheidung (1 BvR 347/98) in der es 2005 feststellte, dass bei lebensbedrohlichen Erkrankungen, für die keine schulmedizinische Behandlungsmethode vorliegt, ein Anspruch auf Kostenerstattung von bestimmten Therapieformen besteht Bei diesen müssen aber konkrete Hinweise vorhanden sein, dass sie "spürbar positiv" auf den Krankheitsverlauf einwirken können.
Einer der Kernsätze dieses insgesamt lesenswerten Urteils lautet: "Es ist mit Art. 2 Abs.1 GG in Verbindung mit dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar, den Einzelnen unter den Voraussetzungen des § 5 SGB V einer Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung zu unterwerfen und für seine an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausgerichteten Beiträge die notwendige Krankheitsbehandlung gesetzlich zuzusagen, ihn andererseits aber, wenn er an einer lebensbedrohlichen oder sogar regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für die schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen, von der Leistung einer bestimmten Behandlungsmethode durch die Krankenkasse auszuschließen und ihn auf eine Finanzierung der Behandlung außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung zu verweisen. Dabei muss allerdings die vom Versicherten gewählte andere Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen."
• Außerdem muss nach Ansicht der Verfassungsrichter eine gesetzliche Krankenkasse lebensbedrohlich erkrankten Versicherten, die arm sind, auch Leistungen, die nicht im Leistungskatalog enthalten sind, als Sachleistung anbieten und darf nicht nach dem Prinzip der Kostenerstattung verfahren.
Leider liegt der Beschluss bzw. die Entscheidung des BVerfG (noch) nicht in Gänze kostenlos vor. Der erste Teil des Beschlusses vom 29. November 2007 ist aber kostenfrei zugänglich. Wer den ganzen Text lesen will, muss ihn sich dort für 2,99 Euro inkl. MWSt. kaufen.
Bernard Braun, 30.4.2008
Bundessozialgericht: Nur "medizinisch vertretbar" reicht nicht als Grund für Krankenhausaufenthalt - Kasse muss nicht zahlen!
In der Klärung gesetzlich oder durch Verträge nicht abschließend und handhabbar geklärter Interessenskonflikte und Vorstellungen vom "richtigen und angemessenen Handeln" spielt im deutschen Gesundheitswesen die Rechtsprechung die entscheidende Rolle - mit weit reichenden konkreten Auswirkungen auf alle Patienten, Beschäftigte und Institutionen.
Dies ist auch in einem seit einiger Zeit unentschiedenen Streit darüber, ob die gesetzlichen Krankenkassen auch für einen "medizinisch vertretbaren" aber nicht "notwendigen" Klinikaufenthalt, der stattdessen ambulant behandelt werden könnte, bezahlen müssen.
Der 3. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hatte dazu in der Vergangenheit in einem Verfahren die Position vertreten, die Krankenversicherung müsse für einen ärztlich angeordneten Klinikaufenthalt zahlen, sobald er nur "medizinisch vertretbar" sei. Die Entscheidung der Klinikärzte dürfe von den Krankenversicherungen kaum angefochten werden oder systematisch überprüft werden. Höchstens dürften die Krankenkassen konkrete Alternativen aufzeigen.
Ein anderer, der 1. Senat des BSG, vertrat dagegen eine völlig andere Meinung. Er billigte den Krankenkassen zahlreiche Rechte zu, die Notwendigkeit einer stationären Behandlung eines Versicherten/Patienten zu überprüfen.
Bei solchen kontroversen Rechtsmeinungen und -sprechungen in einem Bundesgericht entscheidet der so genannte "Große Senat" des Gerichts darüber, welche Rechtsauffassung künftig praktisch von den unteren Instanzen für Streitigkeiten oder Differenzen zwischen Kliniken und Krankenkassen herangezogen werden muss. Dieser Senat schloss sich nun der kassenfreundlichen Sicht des 1. Senats an. Sein Beschluss, dass die medizinische Notwendigkeit einer stationären Behandlung im Streitfall "uneingeschränkt" vor Gericht überprüfbar sei und die ärztliche Einschätzung keinen Vorrang mehr habe, musste jetzt auch vom unterlegenen 3. Senat praktisch umgesetzt werden.
Diese Klärung hatte insofern sofort praktische Bedeutung als der 3. Senat des BSG am 10. April 2008 in einer Entscheidung von seiner bisherigen Rechtsprechung abrückte (Az.: B 3 KR 19/05 R u.a.) und den Druck auf Klinikärzte erhöhte, die medizinische Notwendigkeit einer Krankenhausbehandlung nachzuweisen. Künftig müssen daher die Kassen für einen Klinikaufenthalt nicht mehr zahlen, wenn für die vom Arzt diagnostizierte Krankheit nach dem Stand der Medizin auch eine ambulante Therapie ausgereicht hätte.
Auch wenn die Urteilsgründe noch nicht schriftlich veröffentlicht sind (wenn sie vorliegen, werden wir hier darauf verweisen), erscheint der beruhigende Hinweis, die neue einheitliche Rechtsprechung beträfe nur Kliniken und Krankenkassen und nicht Patienten, etwas weltfremd.
Zwar müssen Patienten selbst dann, wenn sie nach Ansicht ihrer Kasse zu lange stationär behandelt worden sind, nicht selber die dadurch entstandenen Kosten bezahlen (Gegenteiliges steht allerdings in der noch zitierten Pressemitteilung des BSG über die Entscheidungsgründe), aber sie werden mit Sicherheit von Krankenhausärzten, die über die konkrete Grenzziehung verunsichert sind, gar nicht mehr stationär aufgenommen oder zu einem sehr frühen und möglicherweise zu frühen Zeitpunkt entlassen. Ob dies dann dem gesundheitlichen Bedarf der Patienten entspricht und ob diese sofort Zugang zu den ambulanten Leistungen bekommen, könnte unerwünschte gesundheitliche Folgen nach sich ziehen.
Im konkreten Fall ging es um Folgendes:
"Eine bei der beklagten Krankenkasse (AOK Schleswig Holstein) versicherte Patientin war in der Zeit vom 7. 1. bis zum 22. 4. 2002 in einem von der Klägerin betriebenen Krankenhaus zur Behandlung einer langjährigen Alkoholerkrankung und darauf beruhenden Folgeschäden vollstationär untergebracht. Die Beklagte bezahlte die Behandlung aber nur bis zum 31. 1. 2002, weil die weitere Behandlung auch außerhalb eines Krankenhauses hätte durchgeführt werden können. Die von der Klägerin durchgeführten Maßnahmen (z. B. Hirnleistungstraining, Training der Alltagsfähigkeit, medikamentöse Behandlung) zur "Planung und Überprüfung auf Wirklichkeitsgerechtheit der weiterführenden Betreuung in einer Tagesstätte, des Besuchs von Selbsthilfegruppen und der Strukturierung der Resttageszeit durch die Familie in der Wohnung der Patientin sowie die Erstellung eines ausreichenden ambulanten Hilfsnetzes" seien durchaus als sinnvolle rehabilitative Maßnahmen anzusehen, begründeten aber nicht die Notwendigkeit einer Krankenhausbehandlung nach Abschluss der Entgiftung. Im Revisionsverfahren allein noch streitig war der Anspruch auf Vergütung einer vollstationären Krankenhausbehandlung für die Zeit vom 20. 3. bis zum 22. 4. 2002."
Nach wechselnden Entscheidungen des zuständigen Sozial- und des Landessozialgerichts landete der Fall schließlich beim BSG, das jetzt eindeutig die Position der Krankenkasse teilte und stärkte.
Bei zwei Vorschriften darf man gespannt sein wie sie umgesetzt werden und ob sich dahinter nicht erhebliche praktische Härten verbergen.
Zum einen gilt dies für die folgende Vorgabe: "Es kommt nur darauf an, zu welchem Zeitpunkt die Versicherte aus medizinischer Sicht außerhalb des Krankenhauses hätte weiterbehandelt werden können. Organisatorische und administrative Fragen wie die Bestellung eines Betreuers oder die Bereitstellung eines Platzes in einer Wohneinrichtung spielen grundsätzlich keine Rolle. Ebenso hat außer Betracht zu bleiben, ob die Krankenkasse auf eine Versorgungsmöglichkeit außerhalb des Krankenhauses hingewiesen hat. Fehlt es an der medizinischen Notwendigkeit einer vollstationären Krankenhausbehandlung, müssen die Kosten entweder vom Versicherten selbst oder - bei Bedürftigkeit des Versicherten - vom Sozialhilfeträger übernommen werden."
Zum anderen baut das BSG auch die Erkenntnishürden für Gutachter recht hoch: "Bei einem Streit über die Notwendigkeit einer vollstationären Krankenhausbehandlung und/oder deren Dauer im Rahmen eines Abrechnungsverfahrens zwischen Krankenhaus und Krankenkasse hat das Gericht die an den medizinischen Sachverständigen gerichteten Beweisfragen so zu formulieren, dass die Begutachtung nicht aus nachträglicher Sicht erfolgt, sondern aus vorausschauender Sicht zum Zeitpunkt der Aufnahme des Versicherten in das Krankenhaus bzw. zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Fortdauer einer stationären Behandlung. Dabei muss der Sachverständige von dem im Behandlungszeitpunkt verfügbaren Wissens- und Kenntnisstand des verantwortlichen Krankenhausarztes ausgehen."
Bisher stehen lediglich eine Medien-Information des BSG Nr. 16 v. 10. 4. 2008 kostenfrei öffentlich zur Verfügung.
Bernard Braun, 16.4.2008
Wasserspender versus Patienteninteressen und Vertrauensverhältnis Arzt-Patient - Sind Werbegeschenke an Ärzte unlauter?
Bei manchen rechtlichen Auseinandersetzungen und Klärungen stellt sich die Frage, ob man sich über das (vorübergehende) Ergebnis freuen oder darüber ärgern soll, dass es überhaupt einer Entscheidung eines Gerichts bedurft hat. Dies gilt z. B. über die vielfach bis zur höchsten Instanz durchgestrittene Frage, ob Batterien für ein von der gesetzlichen Kasse gezahltes Hörgerät auch von ihr übernommen oder als Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens vom schwerhörigen Versicherten aus eigener Tasche gezahlt werden müssen.
Gelten tut dies aber auch für den Gegenstand einer vor der 1. Handelskammer des Landgericht Münchens verhandelten Klage, ob Pharmaunternehmen Ärzten teure Geschenke machen dürfen oder nicht. Nach dem noch nicht rechtskräftigen Urteil des Gerichtes vom 31. 1. 2008 (Az. 1 HK O 13279/07), das am 8. Februar 2008 veröffentlicht wurde, darf dies nicht sein.
Geklagt hatte nicht etwa ein Spitzenverband der GKV oder ein Patientenverband, sondern ein Verband von Arzneimittelherstellern, der sich der Lauterkeit des Verhaltens der pharmazeutischen Industrie bei der Zusammenarbeit mit Ärzten angenommen hat. Die Klage richtete sich gegen ein großes Pharma-Unternehmen, das Ärzten im Internet nicht nur einen 700 € teuren Wasserspender zum "exklusiven Vorzugspreis" - einer Ersparnis von bis zu 40 % bei Anschaffung und Wartung -, sondern auch kostenlose Beratungsleistungen externer Unternehmensberater (etwa zum Thema "betriebswirtschaftliches Praxismanagement") anbot. Dies hielt die Klägerin für unlauter, da ein nicht unwesentlicher Teil der angesprochenen Ärzte motiviert werde, als Gegenleistung für das kostenlose Beratungsangebot die Medikamente der Beklagten zu verschreiben. Die Beklagte bestritt eine derartige Beeinflussbarkeit der Ärzte und verwies darauf, dass das Zuwendungsverbot des Heilmittelwerbegesetzes nur für produktbezogene Werbung, nicht aber für reine Imagewerbung gelte.
Dem folgte das Landgericht München I nicht und untersagte der Beklagten derlei Angebote. Das besondere Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient gebiete es - so die Richter -, dass der Arzt sich bei der Verschreibung von Medikamenten allein von den Interessen des Patienten leiten lasse und dabei nicht einmal in den Verdacht einer unsachlichen Beeinflussung durch die Hersteller der Medikamente kommen dürfe. Mit den Zuwendungen der Beklagten, die das Gericht mit mehreren hundert Euro bewertete, beeinflusse diese die Entscheidung der Ärzte bei der Medikamention unangemessen und unsachlich und verstoße somit gegen § 4 Nr. 1 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb. Das hohe Gut des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient rechtfertige es, bereits Handlungen, die geeignet seien, den bösen Schein einer unsachlichen Einflussnahme nahezulegen, als nicht mehr mit den guten Sitten im Wettbewerb vereinbar anzusehen.
Im Übrigen - so das Gericht - entspreche das Verbot von mehr als geringfügigen unentgeltlichen Zuwendungen an Ärzte inzwischen auch den Vorstellungen der Pharmaindustrie selbst, und zwar auch dann, wenn es nicht um produktbezogene Zuwendungen, sondern um bloße Imagewerbung gehe. Dies ergebe sich nicht nur aus dem vom Kläger aufgestellten "Kodex zur Freiwilligen Selbstkontrolle der Arzneimittelindustrie", sondern auch aus den "Verhaltensempfehlungen für die Zusammenarbeit der pharmazeutischen Industrie mit Ärzten".
Diese Selbstverpflichtungen der Pharmaindustrie sind einerseits zu begrüßen, werden aber andererseits immer wieder umgangen und zweckgerichtet modifiziert. Auch die Pharmaindustrie gehe also davon aus, dass nach den "anständigen Gepflogenheiten in Gewerbe und Handel" Geschenke, die über geringwertige produktbezogene Werbegaben hinausgehen, nicht gewährt werden dürfen.
Bleibt zu wünschen, dass das Urteil rechtskräftig wird und nicht weiter durch die Instanzen getrieben wird und diese Maßstäbe auch in anderen Bereichen von Ärztepraxen und -Handlungsbereichen bestimmend werden.
Bleibt ferner zu wünschen, dass derartige Industrieinitiativen künftig vor allem am Desinteresse der Ärzte scheitern, die ihr besonderes Vertrauensverhältnis zum Patient und dessen Interessen so hoch achten, dass sie auch ein Wasserspender nicht beeindrucken kann und nicht erst eine Handelskammer sie an diese zentrale Grundlage ihres professionellen Handelns erinnern muss.
Die hier auch ausgiebig zitierte offizielle Presseerklärung des Landgerichts München zum Urteil ist die bisher einzige Informationsquelle zum Urteil.
Bernard Braun, 9.2.2008
Ver- oder gebietet das Wirtschaftlichkeitsgebot in der GKV bestmögliche, qualitätsgesicherte und wirksame Leistungen?
Zu den am meisten absichtsvoll und gezielt oder aus Unkenntnis einseitig oder falsch verstandenen Paragraphen des für die Belange der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zuständigen fünften Sozialgesetzbuch (SGB V) gehören sein § 12 Absatz 1 und sein § 2 Absatz 4.
Dort heißt es: "Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen." Im § 2 Abs. 4 SGB V wird diese Kombination von Zwecken und Zielen nochmals zusammengefasst und die Verantwortung für ihre Einhaltung allen Akteuren zugewiesen: "Krankenkassen, Leistungserbringer und Versicherte haben darauf zu achten, dass die Leistungen wirksam und wirtschaftlich erbracht und nur im notwendigen Umfang in Anspruch genommen werden."
Nicht nur diejenigen Akteure, die unter "wirtschaftlich" fälschlicherweise verstehen, möglichst wenig Geld auszugeben, und zwar "koste es, was es wolle", sondern auch die, die "schweren Herzens" glauben, den GKV-Versicherten wegen des Wirtschaftlichkeitsgebots nicht mehr die besten, wirksamsten und bestmöglich evidenten Versorgungsleistungen anbieten zu können, sitzen einer politisch motivierten, einseitigen Interpretation dieser und einiger anderer rechtlichen Bestimmungen des Sozialgesetzbuches auf.
Dies ist jedenfalls die Schlussfolgerung eines gerade in der "Zeitschrift für ärztliche Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen (ZaeFQ)" (2007; 101: 447-454) erschienenen Aufsatzes "Sozialrecht und evidenzbasierte Gesundheitsversorgung in Deutschland" des an der Universität Kiel und an der Hochschule Neubrandenburg arbeitenden Sozialrechtlers Felix Welti.
Welti stellt sich am Beispiel der GKV die enorm wichtige und aktuelle Frage, "ob das Sozialrecht fordert oder ermöglicht, bestmögliche Evidenz handlungsleitend zu berücksichtigen" und zieht dazu die bereits zitierten und zwei weitere Bestimmungen des SGB V zu Rate.
Bei der ersten für die Beantwortung seiner Ausgangsfrage zusätzlich wichtigen gesetzlichen Bestimmung handelt es sich um den folgenden Satz aus dem § 2 Abs. 1 des SGB V: "Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen."
Und um der ebenfalls verbreiteten Unterschätzung der praktischen Bedeutung dieser allgemeinen Bestimmungen am Beginn des Sozialgesetzbuches vorzubeugen, zitiert er zweitens die für das "vertragliche Leistungserbringungsrecht" praktisch verbindliche "gesetzliche Grundsatznorm" des § 70 Abs. 1 SGB V, in dem es u.a. heißt: "Die Krankenkassen und die Leistungserbringer haben eine bedarfsgerechte und gleichmäßige, dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Versorgung der Versicherten zu gewährleisten. Die Versorgung der Versicherten muss ausreichend und zweckmäßig sein, darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten und muss in der fachlich gebotenen Qualität sowie wirtschaftlich erbracht werden."
Diese für alle Beteiligten bindenden Vorschriften machen nach Welti keineswegs die Wirtschaftlichkeit oder gar die betriebswirtschaftlich Kostenreduktion zur alles überragenden Orientierungsmarke, sondern eine ganz bestimmte "Verbindung von Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit" als gleichrangige und unauflösbar aufeinander verwiesene "normativen Vorgaben". Dabei gibt es klare Unter- und Obergrenzen für die Wirtschaftlichkeit, nämlich die Untergrenze des "Gebots ausreichender (und zweckmäßiger) Leistungen" und die Obergrenze einer Versorgung mit qualitätsgesicherten und wirksamen Leistungen "mit dem geringstmöglichen Aufwand solidarisch aufgebrachter Mittel". Damit ist es laut Welti eindeutig, "dass das Wirtschaftlichkeitsgebot keine Abstriche an der Wirksamkeit der Leistungen" bedeutet, verlangt oder gar erzwingt.
Auf dieser Grundlage beschäftigt sich Welti im weiteren Verlauf seines Aufsatzes mit den Formen und Methoden, mit denen "zwischen dem individuellen Leistungsanspruch und den gesetzlichen Vorgaben" vermittelt wird: "Dies wird in Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) (§ 92 SGB V) vorgenommen. Der Gesetzgeber hat den G-BA ermächtigt, Leistungen von der Versorgung auszuschließen, die den gesetzlichen Anforderungen nicht genügen. Bei neuen Behandlungsmethoden wird differenziert: Während sie in Krankenhäusern bis zu einer negativen Entscheidung des G-BA zulässig sind, gilt in der vertragsärztlichen Versorgung ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt." Den Entscheidungen der "fachlich legitimierten und daher fachlich weisungsfreien Selbstverwaltungs"-Institution G-BA liegen Erkenntnisse über die Evidenz der Wirksamkeit von Leistungen und deren Relevanz für die Versorgungspraxis zugrunde. Ob dies verfassungsrechtlich und politisch korrekt ist, ist nach Welti "umstritten". Unumstritten ist aber, dass das Sozialrecht es ermöglicht oder gar fordert, diesen Entscheidungen die bestmögliche Evidenz zugrundezulegen und jedwede Verweise auf das dies verbietende Wirtschaftlichkeitsgebot einem Irrtum erliegen oder Falsches verbreiten.
Zum Aufsatz "Sozialrecht und evidenzbasierte Gesundheitsversorgung in Deutschland" gibt es kostenlos lediglich eine längere Zusammenfassung.
Bernard Braun, 20.11.2007
Wo hören ärztliche Beratungs- und Aufklärungspflichten auf und fängt die Eigeninitiative des Versicherten an?
In der gesundheitspolitischen Debatte spielen Appelle an die Eigenverantwortung und Eigeninitiative von Versicherten und Patienten eine größer werdende Rolle. Ähnliches trifft auf die Beratungs- und Aufklärungspflichten von Ärzten und anderen Leistungserbringern zu. In den Konzepten für "informed consent" und "shared decision making" treffen sich die beiden Stränge - im Idealfall zum Vorteil aller Beteiligter.
Dass es in der Praxis manchmal gar nicht so einfach ist, zu bestimmen, ob und wo die Beratungs- und Aufklärungspflicht von Ärzten aufhört und definitiv wie ausschließlich die Eigeninitiative des Versicherten beginnt, zeigt ein Streitfall zwischen einer Patientin und ihrem behandelnden Zahnarzt, der vor einigen Monaten nach einem erstinstanzlichen Verfahren vor dem Landgericht (LG) Duisburg vom Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf (Aktenzeichen I-8 U 120/06) zu Lasten der Patientin entschieden wurde.
Im Streitfall ging es darum, dass bei der Patientin wegen eines u.a. durch starke Parodontose geschädigten Gebisses eine umfangreiche Gebisssanierung mit der Extraktion mehrerer Zähne erfolgen musste. Die Patientin machte für diesen Zustand ihres Gebisses ihren Zahnarzt verantwortlich. Dieser habe sie "obwohl sie sich regelmäßig zu Kontrolluntersuchungen vorgestellt habe, in den Jahren 1990 bis 2004 nicht sachgerecht zahnärztlich betreut; insbesondere habe sie die erforderliche Aufklärung über die von ihr...selbst zu beachtende Mundhygiene unterlassen. Auch habe (der Zahnarzt) nicht auf einen sich verschlechternden Zustand ihres Zahnbestandes hingewiesen." Die Klägerin forderte daher die Übernahme des Eigenanteils an der Behandlung und ein Schmerzensgeld von ihrem Zahnarzt. Dieser wehrte sich dagegen und verwies darauf, dass die "Klägerin die erforderliche Mundhygiene trotz ihr erteilter Hinweise auf den sich verschlechternden Zustand der Zähne und deren erforderliche Pflege vernachlässigt habe" und auch "seit 1995...Kontrolltermine zudem nur unregelmäßig wahrgenommen" habe.
Am Landgericht Duisburg wurde die Klage abgewiesen und musste nach der Berufung der Klägerin daher beim OLG entschieden werden.
Bereits das Landgericht hatte sich substanziell mit der Grenze der Beratungs- und Aufklärungspflicht des Zahnarztes beschäftigt und dazu u.a. folgendes festgestellt: "Ein Zahnarzt sei nicht verpflichtet, seinem Patienten zu erklären, dass und wie er seine Mundhygiene zu betreiben habe. Eine solche Verpflichtung sei einerseits grundsätzlich abzulehnen. Es könne andererseits erwartet werden, dass der Patient Eigeninitiative aufbringe, sich über die anzuwendende Mundhygiene selbst Kenntnis zu verschaffen, was nach Auffassung des Gerichts auch ohne großen Aufwand möglich wäre. Auch aus dem Gesichtspunkt, dass die Maßnahmen des Patienten im Rahmen seiner Mundhygiene nicht ausreichend seien, sah das Gericht keine Hinweispflicht des behandelnden Zahnarztes. Es sei nicht Aufgabe eines Zahnarztes, der feststellt, dass ein Patient sich nicht ordentlich die Zähne putzt, diesen dazu anzuhalten. Etwas anderes könne nach der Auffassung des Landgerichts nur dann gelten, wenn der Patient, für den Zahnarzt erkennbar, zu eigenverantwortlichem Handeln nicht in der Lage sei. Die Eigenverantwortung des Patienten überwiege vorliegend in einem hohen Maße."(so die Zusammenfassung des LG-Urteils durch die Fachanwältin für Medizinrecht, Eva Forster, auf der Website MedizinRecht.de.
Das OLG bestätigte zum einen diese Urteilsbegründung und hob zusätzlich zur Begründung seiner Ablehnung der Klägerin noch einige interessante Argumente hervor:
• Es konzedierte es wegen der bei Patienten "regelmäßig nicht vorhandenen genauen Einsicht in das Behandlungsgeschehen und des Fehlens von erforderlichem Fachwiesen" für die "Substantiierungspflicht eines Klägers im Arzthaftungsprozess" lediglich "maßvolle und verständige Anforderungen".
• Trotzdem müssen aber im Streitfall konkrete Hinweise erfolgen und nicht lediglich pauschale Behauptungen.
• Es könne "im Einzelfall Aufgabe des Zahnarztes sein..., seinen Patienten über eine geeignete Zahnpflege aufzuklären und dabei auch eine Änderung der Reinigungsgewohnheiten anzusprechen."
• Selbst wenn man einen Anspruch auf Aufklärung und Beratung annimmt, hält das OLG es aber insgesamt für die "Sache der Klägerin, das Unterbleiben des von der Beklagten behaupteten Aufklärung über ihre Mundhygiene und die zu treffenden Maßnahmen zu beweisen." Wie dies gehen soll, sagt das Gericht aber nicht.
Der komplette Text des Urteils des OLG Düsseldorf findet sich hier.
Bernard Braun, 16.9.2007
BGH pocht auf Selbstbestimmungsrecht des Patienten: Umfassende ärztliche Aufklärungspflicht bei Medikamentenwechsel
Auch wenn das in der Flut von Gesundheitsreformgesetzen, Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses und den diese umsetzenden Rechtverordnungen etc. und im täglichen Behandlungsgeschehen untergehen mag: Auch die Rechtsprechung beeinflusst in etwas weniger spektakulärer aber manchmal wirksamerer Art und Weise die Bedingungen des gesundheitlichen Versorgung bis in das Arzt-Patientenverhältnis hinein.
Dieses Verhältnis ist jetzt durch ein höchstinstanzliches Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 17. April 2007 (Urteil des BGH vom 17.04.2007 - VI ZR 108/06) (im Volltext von 14 Seiten unter Nutzung des Aktenzeichens über die Website des BGH - Entscheidungen - kostenlos erhältlich) zur Arzthaftung für unerwünschte Arzneimittelwirkungen bei Mittelwechsel im Sinne der Patienten gestärkt worden. Letzteres erfolgt vor allem dadurch, dass das Gericht eindeutig und unmissverständlich eine umfassende Aufklärungspflicht des Arztes festlegt, ohne deren Erfüllung der Arzt entweder kein neues Arzneimittel verordnen darf oder im Falle unerwünschter Wirkungen voll haftbar ist.
Diese Position ist in vier Feststellungen, darunter den beiden Leitsätzen des Urteils, ausformuliert:
• "a) Der Arzt hat den Patienten vor dem ersten Einsatz eines Medikaments, dessen Wirksamkeit in der konkreten Behandlungssituation zunächst erprobt werden soll, über dessen Risiken vollständig aufzuklären, damit der Patient entscheiden kann, ob er in die Erprobung überhaupt einwilligen oder ob er wegen der möglichen Ne-benwirkungen darauf verzichten will.
• b) Kann ein Patient zu der Frage, ob er bei zutreffender ärztlicher Aufklärung in einen Entscheidungskonflikt geraten wäre, nicht persönlich angehört werden (hier: wegen schwerer Hirnschäden), so hat das Gericht aufgrund einer umfassenden Würdigung der Umstände des Einzelfalls festzustellen, ob der Patient aus nachvoll-ziehbaren Gründen in einen ernsthaften Entscheidungskonflikt geraten sein könnte."
• "Der Arzt, der Medikamente, die sich als für die Behandlung der Beschwerden des Patienten ungeeignet erwiesen haben, durch ein anderes Medikament ersetzt, dessen Verabreichung für den Patienten mit dem Risiko erheblicher Nebenwirkungen verbunden ist, hat den Patienten zur Sicherung seines Selbstbestimmungsrechts über den beabsichtigten Einsatz des neuen Medikaments und dessen Risiken aufzuklären (sogenannte Eingriffs- oder Risikoaufklärung). Tut er dies nicht, ist die Behandlung rechtswidrig, auch wenn der Einsatz des Medikaments an sich sachgerecht war."
• Einen eindeutigen Riegel schiebt der BGH auch einer Art wohlgemeintem aber stillschweigenden Experiment vor: "Nicht zu billigen ist auch die Ansicht des Berufungsgerichts (einem Oberlandesgericht), der Einsatz eines neuen Medikaments sei ohne Einwilligung des Patienten vorübergehend zulässig, wenn zunächst ermittelt werden solle, ob das Medikament überhaupt anschlage und sich dessen Risiken in der Erprobungsphase der Medikation noch nicht auswirkten."
Diesen Urteilssätzen liegt der konkrete Fall einer Patientin zugrunde, der Ärzte einer Universitätsklinik zur Behandlung einer Herzstörung ein neues Medikament verabreichten während dessen Einnahme die Patientin eine Woche später einen Kreislaufstillstand mit zurückbleibenden Dauerschäden erlitt. Die Patientin sah ihren Zustand als Folge von Aufklärungs- und Behandlungsfehlern und klagte auf Schmerzensgeld und Schadenersatz. Das zuständige Landgericht und das Oberlandesgericht (OLG) als Berufungsgericht hatten die Klage abgewiesen. Mit den o.g. Argumenten folgt der BGH nicht der Argumentation der beiden niedrigeren Instanzen. Es verweist den konkreten Fall zurück zu einer neuen konkreten Verhandlung an das OLG.
Eine kommentierende juristische Darstellung des Urteils durch den Hamburger Rechtsanwalt Hohmann auf der Website des Fachdienstes "medizinrecht.de" weist noch auf eine sehr weitreichende potenzielle Kollision dieses BGH-Verständnisses von der ärztlichen Aufklärungspflicht mit einigen vom "Wettbewerbsstärkungsgesetz (WSG)" eröffneten ärztlichen Handlungsmöglichkeiten hin:
"Fraglich ist auch, ob unter dieser Rechtssprechung die vom ...WSG ...erhofften Einsparpotentiale durch umfangreiche Rabattverträge ab dem Jahr 2008 noch realisiert werden können. Nach Meldung der Ärzte-Zeitung vom 27.06.2007 erlauben Ärzte zunehmend die Substitution durch den Apotheker. 78% der Niedergelassenen schlossen eine Substitution nach Analyse des Marktforschungsinstituts IMS Health nicht aus, also 14% mehr als im Jahr 2005. Tritt ein Arzt den zwischen den gesetzlichen Krankenkassen und Herstellern vereinbarten Rabattverträgen bei, so können die rabattierten Arzneimittel dann zum Einsatz gelangen, wenn der Arzt per Rezept aut-idem ("oder das Gleiche") zulässt, die Auswahl der Präparate erfolgt dann durch den Apotheker. Zum Zeitpunkt der Verordnung weiß der Arzt also nicht, welches Präparat der Apotheker herausgibt. Im Prinzip können Wechsel unter Generika folgenreich sein....Sobald nach ärztlichem Wissen bei der Umstellung von Arzneimitteln unerwünschte Arzneiwirkungen auftauchen könnten, haftet der Arzt somit auch für die richtige Auswahl durch den Apotheker. Ist die Auswahl durch den Apotheker nicht beherrschbar und steht ein Therapie- und damit auch ein haftungsrelevantes Risiko im Raum, ist aufgrund der Rechtssprechung aut-idem auszuschließen. Ersparnisse durch Rabattverträge können bei diesen Fällen nicht realisiert werden."
Wenn nicht auch noch der Apotheker eine vergleichbare Aufklärungspflicht dekretiert bekommt und damit eine nicht sinnvoll erscheinende Art Verdoppelung der aufklärungspflichtigen und haftenden Akteure entsteht, muss diese WSG-Regelung und ihre -Praxis auf den Prüfstand des Selbstbestimmungsrechts der Patienten, auch bei nur möglichem Arzneimittelwechsel.
Bernard Braun, 14.7.2007
Was nützen Gesetze und Rechte, wenn diejenigen, die sie nötig haben, davon nichts wissen? - Abhilfe ist möglich!
Ohne Zweifel ist das deutsche Sozialsystem einer der am meisten durch Gesetze und die Rechtsprechung verrechtlichten Politikbereiche. Dem Vorteil der auch durchaus schon kritisch reflektierten Verrechtlichung, Eindämmung von Willkür, verbriefte Ansprüche, Transparenz von Rechten und Pflichten, stehen Nachteile gegenüber zu denen u.a. die Unübersichtlichkeit und Unverständlichkeit der gesetzlichen Normen und Bestimmungen oder eine damit verbundene Bürokratisierung gehören.
Das bisher Gesagte gilt in besonderem Maße für den Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und des maßgeblich durch sie bestimmten Versorgungs- und Behandlungssystem. Dies ist insofern ein besonderes Problem, weil die erwähnten Schwachstellen verrechtlichter Systeme im Falle der GKV fast 90 % der Bevölkerung und die dort vollständig versicherten benachteiligten sozialen Schichten der Bevölkerung trifft. Da diese Schichten meist mehrfach benachteiligt sind, d.h. neben ihren überdurchschnittlichen Erkrankungsrisiken auch oft bildungsmäßig benachteiligt sind, gehört die Unkenntnis von gesetzlich verbrieften Rechten zu dem an anderer Stelle beschriebenen soziale Dilemma dieser Bevölkerungsgruppe und spitzt es weiter zu.
Aber auch manche anderen, wissenschaftlichen und politischen Akteure im Gesundheitsbereich verlieren in der raschen Abfolge von gesundheitspolitischen Gesetzen, Verordnungen und Novellierungen schnell den Überblick darüber was galt und gilt und woher manche Vorschrift oder Regulationswut oder -zurückhaltung rührt. Zumindest für die letzten rund 40 Jahre kann die Lektüre der von Johannes Steffen erstellten "Sozialpolitischen Chronik. Die wesentlichen Änderungen in der Arbeitslosen-, Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung sowie bei der Sozialhilfe (HLU) und der Grundsicherung für Arbeitsuchende - von den siebziger Jahren bis heute" mit dem derzeitigen Stand vom Juli 2006 den verlorenen Überblick und das Grundverständnis auch für nicht auf Sozialrecht spezialisierte Volljuristen (wieder)-verschaffen. Steffen, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bremer Arbeitnehmerkammer, hat sämtliche für die jeweiligen Sozialversicherungsträger und Institutionen relevanten gesetzlichen Regelungen in knappen und nicht nur für ExpertInnen verständlichen Worten zusammengefasst. Der Darstellungszeitraum reicht für die Arbeitslosenversicherung bis 1969, für die Rentenversicherung bis 1978, die Krankenversicherung bis 1977, die Pflegeversicherung bis 1995, die HLU bis 1982 und die Grundsicherung für Arbeitsuchende bis 2005 zurück.
Für die Gesetzliche Krankenversicherung wird es demnächst im Bereich "Meilensteine" des "Forum-Gesundheitspolitik" eine Erweiterung der Darstellung u.a. von gesetzlichen Bestimmungen bis weit in das 19. Jahrhundert zurück geben.
Die 81 Seiten umfassende "Sozialpolitische Chronik" kann als PDF-Datei auf der Website der Arbeitnehmerkammer Bremen herunterladbar.
Bernard Braun, 7.6.2007
Hausarztmodelle der Krankenkassen: Bessere Versorgung zu höheren Kosten oder nur höhere Kosten?
Ab 1.April müssen alle Gesetzlichen Krankenkassen ihren Versicherten ein sogenanntes Hausarztmodell anbieten. Versicherte, die sich dort einschreiben, können dafür die anfallenden Praxisgebühren einsparen (oder ein Großteil davon). Im Gegenzug müssen sie sich verpflichten, bei Gesundheitsbeschwerden zunächst immer einen Hausarzt ihrer Wahl aufzusuchen und nicht direkt zum Facharzt zu gehen. Ausgenommen hiervon sind Besuche beim Augen- oder Frauenarzt. Im Hausarztmodell der Barmer wird zusätzlich auch noch eine "Hausapotheke" festgelegt, bei der Versicherte dauerhaft ihre Medikamente beziehen müssen.
Hausarztmodelle sollen Kosten im Gesundheitswesen einsparen: Durch Vermeidung von doppelter Diagnostik, durch die Lotsenfunktion zum tatsächlich geeigneten Facharzt. Sie sollen aber auch zu einer besseren medizinischen Versorgung beitragen: Durch die verpflichtende Teilnahme der Ärzte an Qualitätszirkeln, aber auch durch eine bessere Abstimmung unterschiedlicher Medikamente und durch eine bessere Kenntnis der privaten Lebensumstände von Patienten.
Ob Hausarztmodelle tatsächlich in der Lage sind, Kosten einzusparen ist strittig. Fest steht zunächst nur, dass den Kassen zusätzliche Ausgaben entstehen, bundesweit schätzungsweise 500 Millionen Euro. Die Kosten resultieren einerseits aus Prämien für Teilnehmer (Erlass der Praxisgebühr), Verwaltungskosten und zusätzliche Arzt- und Apothekenhonorare. Bei der Barmer erhalten Ärzte zusätzlich zu den Behandlungskosten für jeden Teilnehmer am Modell einmalig rund 15 Euro als Einschreibegebühr und pro Patient und Quartal zusätzlich etwas mehr als fünf Euro, Apotheken erhalten pro Beratung mit dem Arzt über das Medikamentenkonto etwa 9 Euro.
Dass diese Zusatzkosten mittel- und langfristig wieder aufgefangen werden und sich durch die Lotsenfunktion des Hausarztes sogar Kostenersparnisse einspielen, wird von Repräsentanten einiger Krankenkassen unterstrichen, von anderen ebenso heftig dementiert.
Auch wissenschaftliche Studien zu möglichen Kostenvorteilen durch Hausarztmodelle kamen bislang eher zu negativen Resultaten. Eine Studie der Ruhr Universität Bochum mit dem Titel "Der Hausarzt als Lotse im System der ambulanten Gesundheitsversorgung? Empirische Analysen zum Einfluss der individuellen Hausarztbindung auf die Zahl der Arztbesuche" kam zu dem Ergebnis: "... zeigen unsere Befunde, dass die Tatsache, dass Patienten einen Hausarzt haben, insgesamt eher zu einer Erhöhung der Zahl der Arztkonsultationen bei diesen Patienten führt. (...) Entgegen der Einsparungshoffnungen lassen die vorgestellten Befunde sogar befürchten, dass - wenn man die Konsultation eines Hausarztes in Zukunft für alle Versicherten zur Pflicht macht - damit durchaus sogar eine Ausgabensteigerung verbunden sein kann, da sich die Zahl der zu bezahlenden Arztbesuch insgesamt erhöhen dürfte."
Und auch eine international vergleichende Studie der Universität Duisburg-Essen Hausarztmodelle in der GKV - Effekte und Perspektiven vor dem Hintergrund nationaler und internationaler Erfahrungen kam zu dem Schluss, dass "ein ausgabensenkender Effekt lediglich für den Anstieg der ambulanten Gesundheitsausgaben nachgewiesen werden (kann). Der Anteil öffentlicher Gesundheitsausgaben und die Höhe des Bruttoinlandsproduktes wirken wesentlich eindeutiger sowohl auf das Niveau als auch die Steigerungsraten der Gesundheitsausgaben." In dieser Studie wurden auch Zweifel laut, ob und inwieweit "die derzeitig tätigen Hausärzte kurz- oder auch mittelfristig flächendeckend die enormen Qualifikationsanforderungen für ein Hausarztmodell erfüllen sollen." Eben diese Zusatzqualifikationen sind jedoch ein entscheidendes Argument dafür, dass Hausarztmodelle die medizinische Versorgungsqualität erhöhen können und sollen.
Weitere Fragezeichen hierzu tauchen auf, wenn man neuere Befragungsergebnisse betrachtet, die in einer Auswertung von repräsentativen Befragungsdaten des "Gesundheitsmonitor" der Bertelsmann-Stiftung zutage gekommen sind. Dort zeigte sich:
• Gespräche mit dem Hausarzt dauern bei Teilnehmern an Hausarztmodellen im Durchschnitt etwas länger. Bei 35% der Teilnehmer dauern diese Arztgespräche über 10 Minuten, bei Nicht-Teilnehmern sind es nur 27%. Auch die Gesprächsdauer wird von Teilnehmern etwas häufiger als "lang" eingeschätzt.
• Die Zahl der Arzt- und auch der Facharztkontakte ist bei Teilnehmern an Hausarztmodellen deutlich höher. Dies ist insofern nicht überraschend, als Versicherte im Hausarztmodell deutlich älter sind und auch häufiger an einer chronisch Erkrankung leiden.
• Bei der Gesamteinschätzung der medizinischen Versorgung innerhalb und außerhalb von Hausarztmodellen zeigen sich kaum Belege für eine bessere Versorgung: Nur 10% erkennen Hinweise für eine solche Veränderung im Vergleich zu vorher.
• Die Lotsen- oder "Gatekeeper"-Funktion des Hausarztes ist deutlich zu erkennen: Vor einem Facharztbesuch holen sich Teilnehmer an Hausarztmodellen in der Regel immer erst eine Überweisung vom Hausarzt und sie machen dies auch sehr viel öfter als andere Versicherte.
Damit finden sich zwar Hinweise auf eine etwas längere Dauer des Arztkontaktes, was andeuten könnte: Untersuchungen werden gründlicher durchgeführt, auf Patientenbedürfnisse nach "sprechender Medizin" wird stärker eingegangen. Gleichwohl stellt Jan Böcken, Autor der Studie und Mitarbeiter der Bertelsmann-Stiftung, zusammenfassend fest: "Die Daten weisen derzeit nicht auf große Unterschiede zwischen der Versorgung innerhalb und außerhalb von Hausarztmodellen hin." (vgl. Jan Böcken: Hausarztmodelle in Deutschland: Teilnehmerstruktur, Beitrittsgründe und die Koordination zum Facharzt, in: Böcken u.a.: Gesundheitsmonitor 2006, Gütersloh 2006, S. 247-271)
Etwas optimistischer als diese Befragungsergebnisse stimmen Befunde, die vom Prognos Institut für das Modellvorhaben der AOK Baden-Württemberg gefunden wurden und in einem Zwischenbericht festgehalten sind: Wissenschaftliche Begleitung des Qualitäts- und Kooperationsmodells Rhein-Neckar (Hausarztmodell). In einer Zusammenfassung der Ergebnisse durch die AOK heißt es: "Die bisher entwickelten und eingesetzten Steuerungsinstrumente sind erfolgreich implementiert und werden insbesondere von den Versicherten positiv bewertet. Das entwickelte Präventionskonzept hat die Primärprävention belebt und kann durch eine Optimierung der eingesetzten Instrumente weiter an Akzeptanz gewinnen. Die Versicherten schätzen das Angebot. Besonders hervorzuheben ist die hohe Akzeptanz des Hausarztmodells bei den Versicherten. Sie sind mit den neuen Angeboten und Maßnahmen sowie den beteiligten Ärzten sehr zufrieden."
AOK Ba-Wü: Auszüge aus dem 1. Zwischenbericht "Wissenschaftliche Begleitung des Qualitäts- und Kooperationsmodells Rhein-Neckar (Hausarztmodell)" der Prognos AG
Dass Patienten mit dem Hausarztmodell zufrieden sind, ist keine so schlechte Nachricht. Ob allerdings auch die Qualität der medizinischen Versorgung sich verbessert hat, ist eine nach wie vor offene Frage. Möglicherweise gibt es auch schon Antworten hierzu. Leider behandeln alle Krankenkassen die Evaluationsberichte zu ihren Modellvorhaben als geheime Verschlussakte und lassen Ärzte und Patienten gleichermaßen im Dunklen stehen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Gerd Marstedt, 29.3.2007
Versicherte im Tarif-Dschungel - Gesetzliche Krankenkassen bieten ab April viele Wahlmöglichkeiten an
Die allermeisten Gesetzlichen Krankenkassen wollen die neuen Regelungen der Gesundheitsreform nutzen und bereits vom 1.April an ihren Versicherten eine Vielzahl unterschiedlicher Wahltarife anbieten, solche, die mit einer Beitragserhöhung verbunden sind (wie z.B. Zusatzversicherungen für alternative Heilmethoden), aber auch solche mit Beitragssenkungen (wie z.B. Hausarztmodell, Selbstbeteiligung oder Kostenerstattung).
Die Barmer beispielsweise will nach eigenen Angaben insgesamt 18 neue Tarife anbieten. Neben Angeboten für besondere Versorgungsformen (wie Beteiligung an einem Hausarztmodell oder an sog. Disease-Management-Programmen für chronisch Kranke) soll es auch Angebote für besonders kostenbewusste Versicherte geben, die ihre Beiträge senken möchten. Auch die Deutsche Angestellten-Krankenkasse (DAK) und die Techniker Krankenkasse (TK) wollen zahlreiche neue Tarife anbieten, ebenso wie viele große Allgemeine Ortskrankenkassen (AOK).
Besonders kreativ, zumindest im Ersinnen zugkräftiger Tarifnamen war die "BIG", die BundesInnungskrankenkasse Gesundheit, nach eigener Werbung die "erste gesetzliche Direktkrankenkasse Deutschlands", was nichts anderes heißt, als dass sie die Kosten für Filialen vor Ort spart und nur einen Telefonservice vorhält. In der BIG-Pressemitteilung heißt es: " Ob 'Geld zurück' oder gesetzlicher Schutz plus privater Zusatzleistung - die Versicherten der BIG können zukünftig von Flatrate bis Premium wählen, wie ihr individueller Versicherungsschutz aussehen soll. Wer sich für die Prämienzahlung bei Leistungsfreiheit oder Selbstbehalt entscheidet, ist 'BIG-Payback-Kunde'. Wer seine Krankenversicherung um eine private Zusatzversicherung ergänzt, erhält den Premium-Schutz."
Viele Versicherte, die sich mit dem "Rundum-Sorglos"-Schutz ihrer Krankenkasse nicht zufrieden geben, sondern sich mehr individuelle Gestaltungsmöglichkeiten beim Krankenversicherungsschutz wünschen, werden ab 1.April dann vor der Qual der Wahl stehen. Versichertenbefragungen haben für solche Wahltarife ein sehr unterschiedliches Interesse ermittelt, je nach Tarif und damit verbundenen Konditionen.
In der Studie "Der Patient vor der Wahl" waren Versicherten 14 verschiedene Modelle und Tarife zur Auswahl und individuellen Gestaltung der Krankenversicherungsvertrags vorgegeben worden (darunter etwa: Hausarztmodell, Einschluss von Alternativmedizin, Ausschluss von Bagatell-Erkrankungen, verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen usw.), die jeweils exakt bezifferte Beitragssenkungen oder auch Beitragserhöhungen mit sich brachten. Das Ergebnis war: 94% aller Befragten hatten zumindest an einer der 14 Wahlmöglichkeiten Interesse, im Durchschnitt wurden etwa 5-6 Tarifangebote ausgewählt. Die populärsten beitragssenkenden Tarife waren: Verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen, Hausarztmodell, Arzneimittelliste. Bei den beitragserhöhenden Modellen lagen eine "Innovationsgarantie" (Kasse übernimmt neue Therapien, wenn der Arzt dies für richtig hält) und die Finanzierung von Alternativmedizin ganz vorne. vgl.: Janssen-Cilag Studie " Der Patient vor der Wahl"
In repräsentativen Bevölkerungsumfragen des Gesundheitsmonitor der Bertelsmann-Stiftung hat sich andererseits gezeigt, dass das Interesse der Versicherten an den einzelnen Tarifen sehr unterschiedlich ausfällt. Modelle zur Beitragsrückerstattung und Selbstbeteilung oder auch zur Kostenerstattung stoßen nur bei einer kleinen Minderheit auf Zuspruch, vor allem bei Besserverdienenden. Insbesondere dem sog. Kostenerstattungs-Tarif, bei dem man wie in der PKV die Arzthonorare zunächst selbst bezahlt und dann bei der Kasse einreicht, können GKV-Versicherte wenig abgewinnen. Kein Wunder, denn der Arzt rechnet oft einen höheren Betrag ab als ihn die Kasse erstattet. Und auch das Selbstbeteiligungsmodell erscheint vielen Versicherten zu sehr als Lotteriespiel. Auf der anderen Seite finden jedoch Hausarztmodelle, bei denen man sich verpflichtet, zunächst einen Allgemeinarzt aufzusuchen, einen extrem hohen Zuspruch. vgl. Ergebnisse einer Bevölkerungsumfrage zur GKV: Solidarität und Eigenverantwortung
Gerd Marstedt, 9.3.2007
Paragraphen, Eckpunkte, Arbeits- und Referentenentwürfe, Begründungen, Richtlinien, Synopsen und Kodices gefällig?
Das deutsche Gesundheitswesen ist weltweit eines der am intensivsten durch rechtliche Rahmenbedingungen und Interventionen regulierten Krankenversicherungs- und Versorgungssysteme. In einer ebenfalls nahezu einmalig dichten zeitlichen Abfolge entsteht gerade in der Zeit seit 1977 ein Zustand der Verrechtlichung der vielfältigen sozialen Beziehungen, der zwar Willkür verhindert und Sicherheit schafft, aber auch u.a. wegen einer gewissen Unbeweglichkeit in Einzelfällen kritisch bewertet wird. Ganz gleich, welcher rechtssoziologischer Bewertung man zuneigt, ist die Kenntnis von Gesetzen, Richtlinien und Kodexen aber auch für Rechtslaien unter den Gesundheitswissenschaftlern für das Verständnis und die Bewertung der Strukturen und Entwicklungen wie für ihre praktische Beratungstätigkeit und Interventionsversuche von großer Bedeutung.
Die meisten verabschiedeten und geltenden Gesetze findet man mittlerweile auch weit verstreut und kostenfrei im Internet. Zusätzlich bemühen sich Krankenkassenverbände auch noch, Zusammenfassungen der wichtigsten Inhalte wichtiger Gesetze der jüngeren Zeit zu verbreiten. Ganz nützlich für erste Orientierungsschritte ist beispielsweise der AOK-"Gesetzgebungskalender Gesundheitspolitik" mit Zusammenfassungen der wichtigsten Gesetze und Richtlinien seit den 1990er Jahren bis hin zu den laufenden Gesetzesvorhaben.
Wer sich gleichzeitig und möglichst mit geringem Suchaufwand für den Wortlaut der geltenden aber auch der nicht mehr geltenden älteren Rechtsgrundlagen des Gesundheitswesens interessiert und dabei auch für das Vor- und Umfeld von Gesetzen, also auch das sehr oft vielstufige und "chaotische" Zustandekommen von Gesetzen interessiert, wird von dem umfangreichen Abschnitt "Recht" des vom Pharma-Unternehmen AMGEN Deutschland unterstützten Internetportal "gesundheitspolitik.net" profitieren können.
In den vier Unterabschnitten "Recht, Richtlinien, Kodex, sonstige Rechtsfragen" wird die gesamte Bandbreite der vom Gesetzgeber und von der Gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen entwickelten Rechtsvorschriften in Gestalt von herunterladbaren PDF-Dateien dokumentiert.
Im Abschnitt "Gesetze" sind dies vor allem Gesetze etc. zu den Sachbereichen "Grundlagengesetze (z.B. alle Sozialgesetzbücher, Arzneimittelgesetze, Transfusionsgesetz)", "Gesundheitsreform (z.B. das aktuelle Wettbewerbsstärkungsgesetz, Präventionsgesetz, Gesundheitsmodernisierungsgesetz von 2004 und zurück bis zur GKV-Gesundheitsreform 2000)", "Ambulante Versorgung (z.B. Vertragsarztgesetz, Arzneimittelbudget-Abläsungsgesetz)" und "Krankenhaus (z.B. G-DRG 2003 und 2004, Fallpauschalenänderungsgesetz, Krankenhausfinanzierungsgesetz)".
Der Nutzen dieses Angebots lässt sich daran ermessen, was hier z.B. zum Wettbewerbsstärkungsgesetz an einem Ort zusammengestellt wurde: Es sind neben dem endgültigen Gesetzentwurf und seinen ausführlichen Begründungen auch die vier Arbeitsentwürfe des Gesetzes, der Referentenentwurf samt einiger Materialanhänge und die beiden Eckpunktpapiere, die am öffentlichen Anfang der jüngsten Gesundheitsreform standen.
Ähnlich umfangreich und detailliert sieht das Angebot im Unterbereich "Richtlinien" aus: Von den im Gemeinsamen Bundesausschuss" beschlossenen Richtlinien finden sich etwa die "Richtlinien zur Bewertung ärztlicher Untersuchungs- und Behandlungsmethoden", die Arzneimittel-Richtlinien oder die Chroniker-Richtlinie". Hinzu kommen noch Leitlinien vom Typ der "GCB-Leitlinie Gute Klinische Praxis".
Im Unterabschnitt "Kodex" finden sich am wenigstens Dokumente. Darunter aber in der Mehrzahl Selbstverpflichtungen der pharmazeutischen Industrie und Auszüge aus der Berufsordnung der Ärzte.
Im Unterbereich "sonstige Rechtsfragen" finden sich u.v.a. Links zu Datenbanken über laufende Gesetzesvorhaben oder die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts.
Genau betrachtet ist damit noch kein Ende der Transparenz über die rechtlichen Bedingungen des Gesundheitssystems erreicht. In den anderen Hauptabschnitten der Website zu den Themen "Gesundheitssystem", "ambulante Versorgung", Krankenhaus", "Medikamente" und "Patienten", finden sich nämlich weitere Materialien. Angesichts dieser Fülle fallen die Lücken und die Beschränkung auf die letzten 6-8 Jahre nicht sehr schwer ins Gewicht.
Den Zugang zum Schwerpunkt "Recht" auf der Website "gesundheitspolitik.net" erhalten Sie hier.
Bernard Braun, 30.1.2007
Der Unsinn der Bestrafung von Krebskranken bei Nichtinanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen
Ob die anfängliche Absicht der Bundesregierung im "Wettbewerbsstärkungsgesetz", Krebskranke bei Auftreten einer Krebserkrankung die Ermäßigung der Zuzahlung zu verweigern, wenn sie nicht an den entsprechenden Krebsfrüherkennungsuntersuchungen teilgenommen haben, im endgültigen Gesetz überlebt, weiß niemand.
Dass derartige Pläne gesundheitswissenschaftlich und -ökonomisch unsinnig sind, steht für das "Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V." fest. In dem seit 2000 existierenden Netzwerk sind Ärzte und Wissenschaftler zahlreicher Fach- und Forschungsrichtungen aktiv, die Konzepte und Methoden der evidenzbasierten Medizin (EbM) in klinischer Praxis, Lehre und Forschung anwenden und weiter entwickeln. Zu dieser Entwicklung gehört auch unabhängige wissenschaftsbasierte Information der Öffentlichkeit.
Am 11. Dezember 2006 lehnt das Netzwerk die Absicht des § 62 aus verschiedenen Gründen eindeutig ab:
• "Die Entscheidung für oder gegen eine Krebsfrüherkennungsuntersuchung erfordert eine individuelle, ergebnisoffene Abwägung von Nutzen und Schaden. Die Entscheidung für oder gegen eine medizinische Maßnahme muss frei bleiben. Eine Bestrafung bei Nicht-Teilnahme ist mit dem Prinzip der Eigenverantwortung und Autonomie der Bürgerinnen und Bürger unvereinbar.
• Die Wahrscheinlichkeit, als Einzelner von der Früherkennung zu profitieren, ist eher gering. So erspart die Teilnahme am Früherkennungsprogramm für Brustkrebs innerhalb von 10 Jahren etwa einer von 1.000 Teilnehmerinnen den Tod an Brustkrebs. Mit einem Verdachtsbefund müssen innerhalb von 10 Jahren jedoch 200 Frauen rechnen. Dieser Verdachtsbefund erfordert eine weitergehende Abklärung bis hin zu operativen Eingriffen. Die Bundesregierung unterschätzt ganz offensichtlich, dass die Teilnahme an der Krebsfrüherkennung für eine erhebliche Anzahl von Personen mit Belästigungen und Risiken verbunden ist.
• Nicht-Teilnahme an der Krebsfrüherkennung hat für die Versichertengemeinschaft keine nachteiligen Folgen. Es gibt keine ausreichenden Nachweise dafür, dass die Teilnahme an einem Krebsfrüherkennungsprogramm Kosten erspart.
• Krebstherapien können sehr teuer sein. Die Regelung würde ausgerechnet diejenigen finanziell bestrafen, die wegen Ihrer Krankheit ganz besonders der Solidarität bedürfen."
Zur Erläuterung stützen sich die Netzwerker auf entsprechende evidenzbasierten Erkenntnisse des Nutzens und Schadens der verschiedenen Früherkennungsuntersuchungen:
• "Krebsfrüherkennungsprogramme zielen auf die Senkung der Sterblichkeit an der jeweiligen Krebsart. Bislang gibt es nur für drei Methoden einen Nachweis, dass sie die krebsartbezogene Sterblichkeit tatsächlich senken können. Das sind die Mammographie zur Früherkennung von Brustkrebs, der Okkultbluttest für die Früherkennung von Dickdarmkrebs und - mit Einschränkung - der "PAP"-Abstrich für die Früherkennung von Gebär-mutterhalskrebs. Aber auch für diese Methoden gilt, dass aus Sicht der Teilnehmer nur wenige von 1000 durch Früherkennung einen Krebstod vermeiden können. Zum Beispiel lässt sich abschätzen, dass von 1.000 Frauen, die 10 Jahre lang an der Mammographie zur Brustkrebs-früherkennung beteiligen, etwa einer Frau der Tod an Brustkrebs erspart bleibt.
• Jedem Teilnehmer der Krebsfrüherkennungsprogramme, der diesen Nutzen hat, steht jedoch eine zumeist weitaus größere Zahl von Teilnehmern gegenüber, die einen Schaden erleiden. Direkte Schäden entstehen durch die Untersuchung selbst, zum Beispiel durch Röntgenstrahlung oder durch Darmspiegelung. Im deutschen Koloskopie-Programm kam es in 2 bis 7 Fällen von 10.000 Spiegelungen zu Verletzung bis hin zu Durchstoßungen der Darmwand, die einen Krankenhausaufenthalt notwendig machten. Die Wahrscheinlichkeit für solche direkten Schäden ist für den Einzelnen zwar zumeist gering, für denjenigen, der davon betroffen ist, handelt es sich jedoch um ein gravierendes Ereignis. Die möglichen direkten Schäden dürfen daher bei der Aufklärung nicht verschwiegen oder verharmlost werden.
• Wesentlich größere Tragweite haben zumeist die indirekten Risiken, die sich aus dem Befund der Untersuchung ergeben. Dazu gehören vor allem falsch-positive Befunde (Verdachtsbefunde), die eine Abklärung mit weiteren Verfahren erfordern, die ihrerseits zu Belastungen und Schäden führen können. Besonders schwerwiegend ist, dass durch Früherkennung auch Tumore entdeckt werden, die zwar bösartig erscheinen, die aber im weiteren Leben nie auffällig geworden wären. Solche Diagnosen ohne Krankheitswert nennt man Überdiagnosen. Weil diese Tumore fälschlicherweise als gefährlich beurteilt werden, führen sie zu risikobehafteter Übertherapie bis hin zu Operation, Bestrahlung und Chemotherapie. Bei der Brustkrebsfrüherkennung durch Mammographie schätzen Fachleute, dass sich unter zehn gefundenen Tumoren eine bis fünf solcher Überdiagnosen befindet."
Sie finden den gesamten Text der Presserklärung des "Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin" samt einiger Literaturhinweise hier.
Bernard Braun, 11.12.2006
Gesundheitsreform: Kritik der Spitzenverbände am Wettbewerbsstärkungsgesetz
687 Seiten umfassen die Positionen, die sechs der sieben Spitzenverbände der Krankenkassen zum 581 Seiten zählenden Gesetzentwurf erarbeitet haben. Darin erneuern sie ihre grundsätzliche Kritik an der geplanten Gesundheitsreform. Denn weder werde die Finanzierung der GKV auf eine stabile und dauerhafte Grundlage gestellt noch der Wettbewerb vorangetrieben. In dieser Bewertung sind sich die Kassen mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) einig, wie die gemeinsame Pressekonferenz zum Auftakt der Anhörungen zeigte. Die Große Koalition belaste durch ihre Vorgaben zur Haushaltssanierung (Kürzung des Bundeszuschusses von jetzt 4,2 Milliarden Euro auf 1,5 Milliarden im nächsten Jahr und Anhebung der Mehrwertsteuer von 16% auf 19%) und zur Gesundheitsreform die Kassen mit Mehrkosten in Milliardenhöhe.
Im Einzelnen kritisiert wird unter anderem:
• Der geplante Gesundheitsfonds: "Die Beitragsgelder werden zwar auf neuen Wegen verteilt, aber an der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung ändert sich nichts. Aber dies stellt weder die GKV auf eine bessere finanzielle Grundlage noch wird die Solidarität innerhalb des Gesamtsystems der Gesundheitsversorgung insgesamt erhöht, da die PKV nicht in den Gesundheitsfonds einbezogen ist".
• Die Festsetzung des Beitragssatzes durch das Bundesgesundheitsministerium: "Durch diese Regelung nimmt die Große Koalition den Krankenkassen weitgehend ihre Finanzautonomie. Damit besteht zugleich die Gefahr, dass bei der Festlegung des Beitragssatzes nicht allein die Belange der gesetzlichen Krankenversicherung eine Rolle spielen, sondern sachfremde Erwägungen, nicht zuletzt wahlpolitische Überlegungen."
• Gemeinsamer Bundesausschuss: Die Spitzenverbände lehnen die Umstrukturierung des Gemeinsamen Bundesausschusses ab. Sie erkennen die Gefahr, dass die Zugriffsmöglichkeiten des Bundesgesundheitsministeriums auf den Gemeinsamen Bundesausschuss erweitert werden.
Ein Überblick über die Positionen der Spitzenverbände findet sich hier: Kassen lehnen die Zentralisierung der Krankenversicherung ab
Gerd Marstedt, 12.11.2006
Nichtversicherte in der GKV - ein wachsendes Problem
Eine nennenswerte Anzahl von BürgerInnen, die keinen Krankenversicherungsschutz haben, schien bisher ein Problem der USA zu sein, nicht aber eines in Deutschland. Nach dem im Oktober 2005 veröffentlichten 77 Seiten umfassenden Abschlussbericht der im Auftrag der Böckler Stiftung erarbeiteten Studie "Nichtversicherte Personen im Krankenversicherungssystem der Bundesrepublik Deutschland - Bestandsaufnahme und Lösungsmöglichkeiten" sieht dies etwas anders aus.
Die an der Universität Duisburg-Essen arbeitenden Gesundheitsökonomen Stefan Greß, Anke Walendzik und Jürgen Wasem kommen auf der Basis amtlicher Statistiken zu dem Ergebnis, dass die Anzahl von Menschen ohne Krankenversicherung in Deutschland von 105.000 im Jahr 1995 kontinuierlich auf 188.000 im Jahre 2003 gestiegen ist. Die tatsächliche Zahl dürfte höher liegen, da z. B. die Migranten ohne Aufenthaltsgenehmigung in der amtlichen Statistik nicht erfasst sind.
Zur sozialen Zusammensetzung der Nichtversicherten stellen die Autoren fest: "Der Anteil der Erwerbstätigen innerhalb der Gruppe der Unversicherten (rund 40 Prozent) ist seit Mitte der neunziger Jahre am deutlichsten gestiegen" und "der Anteil der Nichtversicherten bei Personen mit niedrigem und sehr hohem Einkommen (ist) überdurchschnittlich hoch. Besonders hoch ist der Anteil von Nichtversicherten darüber hinaus bei Personen, die überwiegend Einkünfte aus Vermögen beziehen, bei Geschiedenen, bei Ausländern, bei Personen ohne Schulabschluss und bei Personen mit einer Wochenarbeitszeit von über 40 Stunden."
Die Lösung dieser möglicherweise rapide weiter wachsenden Nichtversichertengruppe liegt für die Autoren im Kontext einer allgemeinen Versicherungspflicht in einem einheitlichen Versicherungssystem. Auf die damit verbundenen politischen und administrativen Probleme wird ebenfalls eingegangen.
Hier finden Sie die PDF-Datei: Abschlussbericht des Forschungsprojekts
Bernard Braun, 25.10.2005