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25 Jahre Wettbewerb in der GKV aus Sicht des Bundesversicherungsamts: Weder Silber und gleich gar nicht Gold.

Artikel 2620 "Die wettbewerbliche Ausgestaltung des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung hat sich nach Einschätzung aller Experten im Gesundheitswesen im Wesentlichen bewährt", so steht es im Vorwort zu dem im April 2018 veröffentlichten "Sonderbericht Wettbewerb" des Bundesversicherungsamts (BVA). Doch, so fährt der Verfasser dieses Vorworts, der BVA-Präsident Frank Plate, vier Zeilen danach fort, "es ist auch nicht alles Gold, was vermeintlich glänzt". Auch Experten scheinen Menschen zu sein, die sich irren können.

Und welche wesentlichen Voraussetzungen und Effekte des mit der Kassenwahlfreiheit im Gesundheitsstrukturgesetz von 1992 gestarteten Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung bis zum heutigen Tag nicht oder nicht richtig funktionieren, findet sich in den unterschiedlichsten Quellen. Zum einen liefert dies der Blick in die auch mit der letzten, vierten Korrektur vorhandener Dysfunktionalitäten durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz aus dem Jahr 2007 (Kerninhalt: Einführung eines Gesundheitsfonds und des so genannten morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (RSA) ab 2009) noch längst nicht beendeten Geschichte des Risikostrukturausgleichs (siehe dazu u.a. die Forderungen des Betriebskrankenkassenverbandes und einiger anderer Kassen). Und zum anderen ermöglicht dies auch der aktuelle BVA-Berichts für Nichtexperten und diejenigen der "alle Experten", die bereit sind soziale Tatsachen jenseits des Glanzes "kundenfreundlicher Empfangszonen" mit Online-Informationen an Stelle von "Kassenschaltern" mit Hängeregistraturen zu erkennen.

Wie bedeutend ein funktionierender Risikostrukturausgleich für die Bewertung des gesamten Wettbewerbssystems in der GKV ist, hat das Bundesverfassungsgericht in seinem 77-seitigen Grundsatzurteil vom 18. Juli 2005 zum RSA - 2 BvF 2/01 - Rn. (1-287), so beschrieben:

"Schon die Entstehungsgeschichte des Gesundheitsstrukturgesetzes macht deutlich, dass der Gesetzgeber ein eigenständiges, sich von der gewerblichen Wirtschaft unterscheidendes Wettbewerbsmodell für die gesetzliche Krankenversicherung entworfen hat. Gedacht war an eine Wettbewerbsordnung auf der Basis des Solidarprinzips. Der Wettbewerb sollte erst dort beginnen, wo das Solidarprinzip endet. Solidaritätswidriger Risikoselektionswettbewerb, also Wettbewerb um die guten Risiken, war nicht erwünscht (vgl. BTDrucks 12/3608, S. 68 f.)." (Seite 48 des Urteils)
Und:
"Seine (des Gesetzgebers - der Verfasser) Prognose, Kassenwahlfreiheit und Aufnahmezwang seien ohne Flankierung durch einen Risikostrukturausgleich generell nicht hinreichend geeignet, solidaritätswidrige Risikoselektion zu verhindern, ist nicht fehlsam. Zwar kann der Aufnahmezwang die unmittelbare aktive Risikoselektion durch die Krankenkasse unterbinden; Anreize zu mittelbarer aktiver Risikoselektion durch die Kasse sowie passive Risikoselektion, also Selbstselektion der Versicherten, können aber durch einen Risikostrukturausgleich deutlich besser abgemildert werden. Ohne einen solchen Ausgleich gibt es starke Anreize für eine Krankenkasse, ihre finanzielle Situation durch Gewinnung guter Risiken und Abwehr schlechter Risiken zu verbessern. Trotz Aufnahmezwangs bestehen vielfältige Möglichkeiten für mittelbare Risikoselektion durch Werbe- und Marketingmaßnahmen der Krankenkassen. Ebenso bestehen starke Anreize für die Selbstselektion der guten Risiken, die durch den Aufnahmezwang nur wenig abgemildert werden. Es sind eben die guten Risiken, die die stärkste finanzielle Motivation haben, sich in kostengünstigen Teil-Versicherungskollektiven zusammenzufinden." (S. 64)

Aber nicht nur das Fehlen eines halbwegs wirkungsvollen und nebenwirkungsfreien RSA-Gesetzes weckt Zweifel an der eingangs zitierten Expertenbewertung, der Wettbewerb habe sich bewährt, was ja bedeuten sollte, dass die Vorteile und der Nutzen Nachteile überwiegen.

Dafür braucht man noch nicht einmal die dazu bereits seit Jahren veröffentlichten wettbewerbskritischen Studien durchzuarbeiten (dort nachzuschauen ist aber trotzdem bereichernd), es reicht der Blick in den Sonderbericht des BVA.

Dort finden sich u.a. folgende, wegen ihrer Prägnanz etwas ausführlicher zitierten Feststellungen aus der Prüfpraxis des BVA und anderer dazu beauftragten Einrichtungen auf Länderebene und aus Interviews mit GKV-Akteuren:

• "Die Krankenkassen nutzen ihre Gestaltungsspielräume für zusätzliche Leistungen aus Wettbewerbsgründen rege. Insoweit ist das gesetzgeberische Ziel der Eröffnung von Gestaltungsspielräumen der Krankenkassen voll erreicht. Dabei spielt die Ausrichtung der zusätzlichen Leistungen auf bestimmte Personengruppen aus Marketingaspekten und zur gezielten Anwerbung neuer Mitglieder eine große Rolle….Auf der anderen Seite birgt die Eröffnung der zusätzlichen Gestaltungsmöglichkeiten für die Kassen vor dem Hintergrund des Wettbewerbsdrucks auch Risiken. Denn es ist zu vermuten, dass Wirksamkeit, Qualitätssicherung und Wirtschaftlichkeit der Leistungen in der Regel eher eine untergeordnete Rolle spielen. So bieten die Krankenkassen etwa keine Zusatzleistungen im Bereich der Rehabilitation an. Dafür schaffen sie aber gezielt Angebote, deren medizinische Wirksamkeit nicht sicher nachgewiesen oder Regelleistungen kaum überlegen ist. Kritiker sehen die satzungsmäßigen Zusatzangebote nach § 11 Abs. 6 SGB V aus sozialpolitischer Sicht als problematisch an, weil Zusatzangebote Selektionsprozesse begünstigten. Auch werden damit reguläre Verfahren zur Qualitätssicherung neuer Leistungen, etwa durch den G-BA, umgangen."
• "Eine wesentliche Verbesserung der Versorgung im Hinblick auf einen Qualitätswettbewerb erscheint aus hiesiger Sicht fraglich. Bonusprogramme werden von den gesetzlichen Krankenkassen als ein Instrument zur Werbung, Mitgliederakquise und Mitgliederbindung genutzt, um sich von ihren Mitkonkurrenten abzugrenzen und im Wettbewerb zu bestehen. Dennoch stellt sich die Frage, inwieweit sich der gesetzgeberische Wille, mit dem Instrument der Bonusprogramme das gesundheitsbewusste Verhalten aller Versicherten zu stärken, wirklich in der Praxis manifestiert hat. Denn nicht nur die Aussagen der Verbraucherzentrale NRW, sondern auch die vom Bundesversicherungsamt geführten Interviews belegen, dass Krankenkassen ihre Bonusprogramme vorwiegend dazu nutzen, junge, gesunde sowie sportliche Versicherte anzusprechen und an sich zu
binden. Zudem ist der Nutzen vieler angebotener Bonusprogramme nicht hinreichend qualitätsgesichert."
• "Der Grund, weshalb die meisten gesetzlichen Krankenkassen weiterhin schwerpunktmäßig individuelle Präventionsleistungen anbieten, liegt an der wettbewerblichen Ausrichtung des Krankenversicherungssystems. Jeder Versicherte kann seine Krankenkasse innerhalb eines kurzen Zeitraums wechseln, während langfristige, effektive Gesundheitsförderungs- und Präventionsangebote keine kurzfristigen wirtschaftlichen Erfolge für die Krankenkassen zeitigen. Der Krankenkassenwettbewerb verleitet die Krankenkassen eher dazu, in verhaltensbezogene individuelle Freizeit und Wellnessangebote zu investieren, um neue und vor allem junge, gesunde, sowie gut verdienende Versicherte anzulocken. Der morbiditätsorientierte RSA in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung weist für diese Versichertengruppe noch immer eine Überdeckung auf."
• "Auch stellt der Prüfdienst des Bundesversicherungsamtes in Übereinstimmung mit dem Prüfdienst eines Landes fest, dass die Krankenkassen gerade in Leistungsbereichen, die vorwiegend junge und gesunde Versicherte anlocken, wie Prävention und betriebliche Gesundheitsförderung, rechtswidrige Leistungen häufig "aus Kulanz" gewähren. Auch die Patientenbeauftragte und einzelne Krankenkassen bestätigten dem Bundesversicherungsamt, dass Krankenkassen vor allem Versicherte mit "guten Risiken" verstärkt umwerben. Darüber hinaus fand das IGES Institut in der oben genannten Studie heraus, dass einige Krankenkassenarten im Bereich der Vorsorge und Rehabilitation Ablehnungsquoten von bis zu 19,4 Prozent sowie im Bereich der Hilfsmittel von bis zu 24,5 Prozent aufweisen. Besonders betroffen von den Leistungsablehnungen waren nach Einschätzung von Patientenorganisationen ältere Personen, chronisch Kranke, bildungsbenachteiligte sowie schwerbehinderte Menschen."
• "Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die Selektivverträge von den Krankenkassen auch zu Wettbewerbszwecken eingesetzt werden und somit der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck an der Stelle durchaus erfüllt worden ist. Fraglich bleibt allerdings, ob hierdurch die Versorgung entscheidend verbessert worden ist."

Auch wenn man dem Hinweis des BVA folgt, dass ein Teil der Handlungslücken und Handlungen durch gesetzgeberische Vorgaben oder das Nebeneinander politischer Vorgaben für gemeinsames und einheitliches Handeln in der Solidargemeinschaft (z.B. im § 1 SGB V) und Leistungswettbewerb unter denselben Kassen verursacht wurden und werden, fällt es nach den zitierten Berichten aus dem Alltag des Wettbewerbs schwer, der Einschätzung "aller Experten" ohne Einschränkungen zu folgen, der Wettbewerb habe sich "bewährt" und "die Versorgung der Versicherten (habe) sich verbessert".

Zu befürchten ist aber trotzdem, dass die Protagonisten des GKV-Wettbewerbs auch angesichts der vom BVA ermittelten Fehlentwicklungen an ihm festhalten werden und glauben, dass er sich, wenn schon nicht heute dann "irgendwann" wirklich bewährt.

Wer sich noch ausführlicher über die Funde des BVA und seine Vorschläge für die weitere Entwicklung informieren will und die wahrscheinlichen Einwände von GKV-Seite überprüfen will, kann die 166 Seiten des SONDERBERICHT ZUM WETTBEWERB IN DER GESETZLICHEN KRANKENVERSICHERUNG kostenlos herunterladen.

Bernard Braun, 6.4.18


Wie verlässlich oder reliabel sind allgemeinärztliche ICD-10-Diagnosen - und zwar auch ohne die GKV-Beihilfe beim Up-Coding?

Artikel 2547 Das wenige Tage alte "Geständnis" des Vorstandsvorsitzenden der Techniker Krankenkasse, andere Kassen aber wahrscheinlich auch seine eigene hätten ambulant tätige Ärzte zum Teil sogar in vertraglicher Form dazu "animiert", noch gründlicher über die Art der Erkrankung ihrer Patienten nachzudenken und deren Ernst durch eine schwerere bzw. im Rahmen des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs besser für die Kasse wirtschaftlich günstigere Diagnose zum Ausdruck zu bringen, offenbarte, dass es sich bei der dabei genutzten "International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems/Internationalen statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD)" (aktuell 10. Revision) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) keineswegs um eine objektive, sondern um ein auch durch nicht gesundheitsbezogene Erwägungen beeinflussbares System handelt.

Wie stark durch dieses Up-Coding auch alle Statistiken über den Gesundheitszustand der Bevölkerung, die sich auf die ICD-Klassifikation stützen, verfälscht worden sind und werden, ist nicht zu quantifizieren, dass es einen "Morbi-RSA-Bias" gibt, ist aber sicher.
Im Zusammenhang mit ihrer aktuellen öffentlichen Präsenz sei aber daran erinnert, dass Morbiditätsdaten, die mit den ICD-10-Diagnosen gewonnen werden, auch ohne die Anstiftung zum Up-Coding wahrscheinlich verzerrt sind.

Dies zeigt eine m.W. nie wiederholte und bereits 2009 veröffentlichte Untersuchung der Reliabilität, also der Wiederholbarkeit gleicher Diagnosen bei gleichen Bedingungen durch eine oder verschiedene Personen.

Vorab zur Erinnerung: Die ICD-10-Klassifikation (die aktuelle Version für das Jahr 2016 findet man hier) erlaubt eine vorliegende gesundheitliche Störung als erstes in eine von 21 Hauptgruppen einzuordnen, die von bestimmte infektiöse und parasitäre Krankheiten über Krankheiten des Kreislaufsystems bis zu Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen reichen. Diese Zuordnung kann noch weiter verfeinert werden. So erhält ein Patient, der an Cholera leidet den dreistelligen Code A00 und ein anderer, der eine sonstige Salmonelleninfektion hat den Code A02. Diese Codierung kann noch durch eine vierte Stelle präzisiert werden. Bei Patienten mit einer sonstigen Salmonelleninfektion kann dann z.B. zwischen einer Salmonellenenteritis (A02.0) oder Salmonellensepsis (A02.1), also zwei vom Schweregrad deutlich unterschiedlichen Zustände nach einer Salmonelleninfektion und weiteren Unterformen unterschieden werden. Bei einigen Obergruppen gibt es auch noch eine 5. Stelle zu Komplikationsgraden und eine nicht WHO-offizielle Zusatzinformation über die Validität der Diagnose (z.B. Verdachtsdiagnose).

Eine Forschergruppe an der Universität Leipzig hatte in Kooperation mit der Sächsischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin für 8.877 zufällig ausgewählte ambulant-allgemeinärztlich behandelte Patienten von 209 (von 2.510 angesprochenen in Sachsen praktizierenden Allgemeinärzten!!) in den Jahren 1999/2000 eine Fülle von diagnoserelevanten Daten zusammentragen lassen und auf dieser Basis zwei berufserfahrene Ärzte die vierstellige Hauptdiagnose nach ICD-10 vergeben lassen. Je mehr deren Diagnosen übereinstimmten desto besser ist die Reliabilität der ICD-10-Diagnostik. Der Grad der Übereinstimmung oder eben auch Nichtübereinstimmung (so genannte "inter-rater reliability") wurde mit dem bewährten statistischen Kappa-Maß bestimmt.

Die Ergebnisse sahen so aus:

• Bei Patienten mit neu zu behandelnden Krankheiten war die Übereinstimmung der Zuordnungen zu Hauptgruppen in 12 von 19 Hauptgruppen (63,16%) mit ausreichender Fallzahl zufriedenstellend. In anderen Worten stimmten die Bewerter z.B. mindestens darin überein, dass es sich um eine Krankheit der Hauptgruppe infektiöse oder parasitäre Krankheiten handelt und nicht um eine andere.
• Bei der Vergabe von drei- oder vierstelligen Diagnosen, also einer Verfeinerung der Diagnosen, war die Übereinstimmung zwischen den beiden diagnostizierenden Ärzten in keiner Hauptgruppe zufriedenstellend. Die Diagnosen unterschieden sich also mehr oder weniger beträchtlich. Bei allen dreistelligen Diagnosen war die Übereinstimmung bei 36,01% zufriedenstellend, bei allen vierstelligen Diagnosen traf dies nur noch für 11,85% zu.
• Bei Patienten, die wegen chronischen Krankheiten dauerhaft behandelt wurden, war die Kodier-Reliabilität in 14 der dabei ausreichend besetzten 20 Hauptgruppen (65%) zufriedenstellend. Bei fast 43% aller dreistelligen Diagnosen gab es hohe Übereinstimmung und bei 18,02% der vierstelligen.

Selbst wenn man die methodischen Einschränkungen dieser Studie berücksichtigt, waren die im allgemeinärztlichen Bereich vergebenen Diagnosen allerhöchstens auf dem Niveau der Hauptgruppen reliabel, nicht oder lediglich bei 10% bis rund 40% aber bei den drei- und vierstelligen Diagnosen.
Da die im Lichte dieser Verhältnisse geforderte Vereinfachung des ICD-Katalogs (dies forderte auch der Sachverständigenrat für Gesundheit in einem seiner Jahresgutachten für die Allgemeinmedizin) und die Vorgabe klarer Kodierleitlinien nicht erfolgte, dürfte sich die Reliabilität bis heute nicht grundsätzlich verbessert haben. Ob und wie stark sich dies auch ohne die "Kodierpraxispflege" durch die GKV auf die Realität des Morbi-RSA mit seinen 80 relevanten Krankheiten auswirkt, wäre interessant zu untersuchen.

Die Hoffnung, die unbefriedigende Reliabilität der Krankheitenkodierung mit anderen einfacheren Klassifikationssystemen grundsätzlich zu verbessern, sollte aber nicht zu groß sein und nicht die Suche nach besseren Systemen verbauen. Dieselbe Forschergruppe hat nämlich 2012 die Ergebnisse einer auf derselben Datenbasis durchgeführten Studie veröffentlicht, die zur Klassifikation die "International Classification of Primary Care (ICPC-2)" benutzte. Die Schlussfolgerungen waren graduell besser, aber nicht grundsätzlich: "The reliability was good to excellent at the chapter level, at the component level the reliability was moderate though good in the components 1-symptoms and 7-diseases. At single code level the agreement was only fair to moderate in both chapters and components. One third to half of the used codes showed good inter-rater agreement."

Die Studie Three- and four-digit ICD-10 is not a reliable classification system in primary care von E. Wockenfuss et al. ist 2009 im "Scandinavian Journal of Primary Health Care" (27: 131-136) erschienen und komplett kostenlos erhältlich.

Auch die 2012 in der Zeitschrift "Swiss Medical Weekly" (142: w13621) veröffentlichte Studie Inter-rater reliability of the ICPC-2 in a German general practice setting von Th. Frese et al. ist komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 22.10.16


Prävention als betriebswirtschaftliches Risiko im Risikostrukturausgleich (RSA)!? oder nach der Reform ist vor der Reform

Artikel 2520 Eines der am meisten und regelmäßigsten novellierten, ergänzten, adjustierten gesetzlich geregelten gesundheitspolitischen Instrumente ist der so genannte Risikostrukturausgleich (RSA) - in der aktuellen Version liebevoll aber dennoch schwer verständlich Morbi-RSA (morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich) genannt.
Notwendig wurde der RSA mit der Einführung der Kassenwahlfreiheit bzw. des de facto lange Zeit überwiegend beitragsfixierten Kassenwettbewerbs durch das Gesundheitsstrukturgesetz 1992 und den Start dieser neuen Wirklichkeit der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ab 1995.

Da die verschiedenen Kassenarten aus vielfältigen historischen Gründen nicht in gleicher Weise auf diesen Wettbewerb vorbereitet waren und es Kassen mit hierfür "schlechter" (z.B. viele ältere Schwerkranke, sozial schwächere Mitglieder) oder "guter" (z.B. viel junge und gesunde Mitglieder mit höheren Einkommen) Risiko-/Versichertenstruktur gab, musste der Einstieg in ihn durch ein Ausgleichssystem, eben den RSA, ergänzt werden. In geradezu prophetischen Worten formulierte dies das Bundesverfassungsgericht in einbem Urteil vom 18.7.2005 so: "Ohne einen solchen Ausgleich gibt es starke Anreize für eine Krankenkasse, ihre finanzielle Situation durch Gewinnung guter Risiken und Abwehr schlechter Risiken zu verbessern. Trotz Aufnahmezwangs bestehen vielfältige Möglichkeiten für Risikoselektion durch Werbe- und Marketingmaßnahmen der Krankenkassen. Ebenso bestehen starke Anreize für die Selbstselektion der guten Risiken, die durch den Aufnahmezwang nur wenig abgemildert werden. Es sind eben die guten Risiken, die die stärkste finanzielle Motivation haben, sich in kostengünstigen Teil-Versicherungskollektiven zusammenzufinden."

Da sich der Wettbewerb entgegen den sozialpolitischen Absichten des Gesetzgebers und gefördert durch technische Schwächen und Fehlanreize der jeweiligen rechtlichen Bestimmungen lange Zeit und teilweise bis in die Gegenwart auf die Gewinnung "guter Risiken", einen Wettbewerb um den niedrigsten Beitragssatz und die Vermeidung aufwändiger Behandlungsprogramme z.B. für chronisch Kranke (Motto: "Wenn wir ein tolles Angebot für Diabetiker machen, kommen alle Diabetiker der Republik zu uns und dann können wir den Laden zumachen") konzentrierte, sollten bisher vier Gesetze in den Jahren 1998, 1999, 2001 und 2007 (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz u.a. mit Einführung des Gesundheitsfonds) den RSA zu einem Gewinn für alle Kassen und ihre Versicherten machen.
Praktisch jede RSA-Reform besaß einen typisch inkrementellen Charakter, d.h. der Gesetzgeber versuchte ein oder zwei Defizite zu beseitigen, wusste aber meistens zusammen mit allen Experten, dass es auch noch mindestens eine weitere Macke gab, die zu unerwünschten Wirkungen führen könnte oder sogar musste. Die Ausrede, unerwünschte Wirkungen für die eine andere Kassenart oder Leistung seien unbeabsichtigte bzw. unerkennbare Nebenwirkungen, ist daher unredlich.

So gab es bereits bei der Verabschiedung der 2007-RSA-Reform Hinweise auf die potenziell unerwünschten Nebenwirkungen des Ausklammerns bzw. der pauschalen Berücksichtigung von Prävention aus dem Ausgleichs- und Zuweisungssystem des Morbi-RSA und die ebenfalls möglicherweise problematische Begrenzung der ausgeglichenen Krankheiten auf 80.
Und spätestens nach der Bildung einer informellen RSA-Allianz aus einer Reihe von Betriebs-, Innungs- und Ersatzkassen im März 2016, tauchen in kurzen Abständen Hinweise auf diese meist schon länger bekannten oder durch aktuelle Gerichtsbeschlüsse spürbar gewordene Schwachstellen auf, deren "Korrekturen" - so der Vorstand des BKK-Dachverbands e.V., Franz Knieps - "nicht bis zur nächsten Legislaturperiode verschoben werden (können)".

Die derzeit umfassendste, d.h. mit einem umfangreichen Gutachten untermauerte Kritik an der Morbi-RSA-Praxis veröffentlichte nun der Dachverband IKK e.V. der Innungskrankenkassen am 19. April 2016.
Mit der Formulierung des Geschäftsführers "wenn Krankheitsdiagnosen mehr als Präventionserfolge wiegen - wer investiert dann noch langfristig in Prävention?" beklagen die Innungskrankenkassen wenige Monate nach Verabschiedung des Präventionsgesetzes, dass Prävention unter den geltenden Finanzausgleichs-Bedingungen ein "Verlustgeschäft" sei, da dort "Krankheit belohnt" würde. Die Innungskrankenkassen, die nach ihren eigenen Angaben 2014 pro Versicherten 4,36 Euro für primärpräventive Maßnahmen ausgegeben haben, alle Kassenarten aber im Durchschnitt nur 4,16 Euro würden durch die geltenden RSA-Regeln "systematisch finanziell bestraft". Dies könne sich noch verstärken, wenn nach dem Präventionsgesetz ab 2016 jährlich sieben Euro pro Versicherten und Jahr für Prävention ausgegeben werden müsse.

Auch wenn in dem Auftragsgutachten und in der dazu organisierten Pressekonferenz der Nutzen von Präventionsausgaben nicht in Frage gestellt wird, ja sogar die positive gesundheitliche Wirkung durch den Vergleich von Leistungsausgaben einer Präventionsgruppe mit Versicherten, die keine Prävention in Anspruch genommen haben, belegt wird, kommt einer der Gutachtenautoren zu dem Schluss: "Dass die Ergebnisse die finanzielle Benachteiligung der Kassen so klar belegen, hat uns selbst überrascht: Prävention rechnet sich betriebswirtschaftlich für die Krankenkassen nicht".
Das "Reform-der Reform-der Reform"-Paket umfasst Forderungen, die starke Orientierung des Morbi-RSA an bestimmten Krankheiten zurückzunehmen und den Präventionsanreiz z.B. durch einen "gedeckelten Ist-Kosten-Ausgleich", also durch die Orientierung der kassenindividuellen RSA-Zuweisungen für Primärprävention an den realen Ausgaben zu verstärken.

Das 94-seitige Gutachten enthält einen Überblick über die nationale und internationale Evidenz für den Nutzen von Prävention, die Zielsetzungen von Prävention in der GKV, die Krankheitsauswahl und Präventionsanreize im Morbi-RSA, die Effekte von Präventionsmaßnahmen aus Perspektive der Krankenkassen und zu den Defiziten und Lösungsansätzen des Morbi-RSA.

Nimmt man noch die Auseinandersetzungen über die Verteilung von Mitteln für Auslandsversicherte und die Zuweisungen für Krankengeld (laut BKK-Dachverband handelt es sich allein in den Jahren 2013 und 2014 um eine Umverteilungssumme von 162 Millionen Euro) hinzu, dürfte die nächste notwendige RSA-Reform vor der Tür stehen. Egal, ob dies zutrifft oder nicht, ist aber sicher, dass auch diese Reform dann nicht die letzte wichtige Reform sein wird. Solange aber dies der Fall ist, funktioniert selbst aus Sicht der Protagonisten von "mehr Wettbewerb" dieser nicht bzw. hinterlässt mehr oder weniger unerwünschte Wirkungen für einzelne GKV-Kassen und ihre Versicherten und PatientInnen. Wie oft muss es eigentlich nicht gelingen unerwünschte Wirkungen zu verhindern bis noch einmal für die GKV grundlegend über die Weichenstellung in Richtung Wettbewerb nachgedacht wird?

Das Gutachten zu Anreizen für Prävention im Morbi-RSA von D. Häckl, I. Weinhold und N. Kossack vom "WIG2 Wissenschaftliches Institut fur Gesundheitsokonomie und Gesundheitssystemforschung" in Leipzig ist komplett kostenlos erhältlich.

Für den schnellen Überblick kann man sich die Pressemappe der IKK-Pressekonferenz herunterladen.

Bernard Braun, 27.4.16


Gutachten als Wissens- und Politik-Ersatz: Die unendliche Geschichte vom Risikostrukturausgleich und den armen Südstaaten

Artikel 0436 Zu den einzigen Gewinnern des us-amerikanischen Gesundheitssystems - so behaupten böse Zungen - gehören Anwälte und Haftpflichtversicherungen für Ärzte. In Deutschland sind manche Regelungen des "Wettbewerbsstärkungsgesetzes" als erstem Gesundheitsreformgesetz, das auf den Bezug zur Gesundheit nicht mehr im Titel Wert legt, geeignet, gesundheitsökonomisch qualifizierte Gutachter in Dauerbeschäftigung zu bringen. Der aktuelle Schwerpunkt dieses Beschäftigungsprogramm liegt bei den ökonomischen Auswirkungen des für einen späteren Zeitpunkt geplanten Gesundheitsfonds auf die Finanzen "der Länder" oder genauer gesagt der in den verschiedenen Bundesländern angesiedelten Krankenkassen und ihren Versicherten.

Ein sachlicher Merkposten in der seit Monaten diskutierten Finanzierungsreform ist die aus dem langjährigen Alltag des Risikostrukturausgleichs (RSA) bekannte soziodemografische und erkrankungsrisikobezogene Ungleichverteilung von Versicherten nach Kassenarten und Regionen. Der RSA sollte diese Startnachteile von Kassen für den politisch seit Mitte der 1990er Jahre ebenfalls von fast allen Parteien gewünschten Wettbewerb beseitigen. Ohne die kontinuierlich ansteigenden RSA-Ausgleichzahlungen wären z.B. die Beiträge der ostdeutschen Ortskrankenkassen so hoch angestiegen, dass sie nicht mehr wettbewerbsfähig gewesen wären. Eine Umverteilung zwischen Regionen oder Bundesländern und die ungleiche Be- und Entlastung von Ländern oder Regionen ist also keineswegs etwas Neuartiges im GKV-System.

Außerdem ist es gerade 1 1/2 Jahre her, dass eine Normenkontrollklage der Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern und Hessen vor dem Bundesverfassungsgericht, die Verfassungsmäßigkeit des RSA zu prüfen, gescheitert ist. In seinem Beschluss vom 18. Juli 2005 (Az.: 2 BvF 2/01) stellt das Bundesverfassungsgericht aber unmissverständlich fest, der RSA sei verfassungsgemäß. Der Bund habe gemäß Artikel 74 Absatz 1 Nummer 12 in Verbindung mit Artikel 72 Absatz 2 Grundgesetz das Gesetzgebungsrecht für den Strukturausgleich aus der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung herleiten können. Die Einführung des RSA sei eine Maßnahme der Sozialversicherung. Eines der verfolgten Hauptziele, eine gerechte Beitragsbelastung der Versicherten, stelle einen unmittelbaren Bezug zur Finanzierung der Krankenversicherung her.

Im Aushandlungsprozess des "Wettbewerbsstärkungsgesetz" erweckten dieselben drei Länder nach der Entscheidung der Karlsruher Richter den Eindruck, dass sie den Kerngedanken der Ausgleichszahlungen zwischen Regionen akzeptierten und allenfalls deren Höhe begrenzen wollten. Ein entsprechendes oberes Limit von 100 Millionen Euro steht daher auch in dem jetzt genau wegen dieser Frage heftig umstrittenen Gesetzentwurf.

Der Ausgangspunkt oder politischer formuliert der willkommene Aufhänger für die Debatte war die von dem Kieler Ökonomen Thomas Drabinski in der Schriftenreihe des Kieler Instituts für Mikrodatenanalyse als Band 10 veröffentlichten Studie über "Ökonomische Auswirkungen der Gesundheitsreform auf die Bundesländer". Nachdem er eine Äußerung des Bundesversicherungsamtes, die gesetzliche Regelung sei weder "zielführend noch durchführbar" zustimmend zitiert, berechnet er für die süddeutschen Bundesländer weit höhere als die im Gesetz genannten Ausgleichssummen und liefert damit den Treibstoff für die Reaktivierung der alten Kämpfe um die "milliardenschweren" (so CSU-Stoiber) Verteilungsprozesse zwischen den "CDU/CSU-Verliererländern", den "SPD-Gewinnerländern" und den ostdeutschen "Gewinnern".

Damit war aber unüberhörbar der Startschuss für die "Gutachter-Rallye" als Politikform mit realsatirischen Zügen gegeben worden:

• Dem Stuttgarter Ministerpräsidenten war die Angelegenheit so wichtig, dass er sofort ein eigenes Gutachten in Auftrag ergab. Es sollte allerdings "erst Ende Januar", d.h. nach der voraussichtlichen Verabschiedung des Gesetzes vorliegen.
• Das Bundesministerium für Gesundheit bezweifelte die Zahlen Drabinskis, pochte auf das Limit im Gesetz und die Abstimmung mit den selben Bundesländern, die jetzt am liebsten das gesamte Gesetz an dieser Frage scheitern lassen wollten. Zugleich beauftragte das Ministerium den in solchen Situationen omnipräsenten und scheinbar multipotenten Darmstädter Ökonomen und Wirtschaftsweisen Bert Rürup und den Gesundheits-Sachverständigen und Ökonomen Wille mit einem Gutachten. Die Gutachter erklärten vor Weihnachten, ihre Feiertage mit der Erstellung eines Gutachtens zu verbringen, das dann Anfang 2007 vorliegen solle. Die Ministerin betonte: "Es sind unabhängige Professoren ausgewählt worden, die nicht gerade Freunde der Gesundheitsreform sind." Rürup bezweifelte bereits vor dem Start seiner Gutachtertätigkeit die Methodik der Kieler Studie: "In dem Papier gibt es auf den ersten Blick methodische Schwächen."
• Zwischendrin schaltete sich auch das Bundesversicherungsamt u.a. in einem Brief des BVG an den BMG-Staatssekretär in die Debatte ein, an deren Beginn es mit Äußerungen und Berechnungen beteiligt war: "Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass der Autor der Studie gar nicht die Zusatzbelastungen errechnet hat, die der Fonds und die geplante Erweiterung des Finanzausgleichs zwischen den Krankenkassen Ländern wie Baden-Württemberg bringen würden", sagte der Finanzausgleichsexperte des Amtes, Dirk Göpffahrt, am 19. Dezember in Berlin. Tatsächlich habe dieser die Gesamtbelastung der Länder errechnet. Damit habe er ignoriert, dass es schon heute eine Umverteilung zwischen den Ländern über den 1994 eingeführten Risikostrukturausgleich gebe. Rechne man diese Effekte heraus, relativiere sich das Horrorszenario. Aus 1,61 Milliarden Euro Zusatzlast für Baden-Württemberg würden rund 950 Millionen Euro. Bayern wäre statt mit 1,04 Milliarden nur noch mit 500 Millionen Euro belastet, und die Nachteile für Hessen schrumpften von 700 auf 97 Millionen Euro.
• Dem folgt natürlich sofort das Dementi des Kieler Wissenschaftlers.
• Der CSU-Gesundheitspolitiker Zöller und der SPD-Gesundheitspolitiker wie Gesundheitspolitik-Gutachter Lauterbach halten dagegen nichts von dem Rürup/Wille-Gutachten. Lauterbach am 20.12. 2006: "Jetzt ein Schnellgutachten anzufordern, ist ein Schuss in den Ofen." Den Fachleuten fehlten viele Daten, um genau herauszufinden, wie sich die Reform in den Ländern auswirken würde. Jede derzeit vorgelegte Studie sei unter wissenschaftlicher Betrachtung nicht zu rechtfertigen.
• Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen warf schließlich am 20.12. 2006 auch noch ein rund 30-seitiges Schnellgutachten aus NRW-Landeskindersicht in die Debatte: Nach seinen Berechnungen sind die finanziellen Mehrbelastungen für Bayern und Baden-Württemberg durch die Gesundheitsreform weitaus geringer als bisher vermutet. Für Baden-Württemberg ergäben sich Zusatzbelastungen von 50 bis 110 Millionen Euro jährlich. Nordrhein-Westfalen würde nach den RWI-Berechnungen zwischen 80 und 140 Millionen Euro gegenüber dem derzeitigen System verlieren. Ostdeutschland sei dagegen der große Gewinner. Die fünf neuen Länder erhielten voraussichtlich 130 bis 250 Millionen Euro mehr als derzeit. Insgesamt gehe es aber um weit geringere Summen als bisher vorhergesagt.
• Am 3.1.2007 stellten Blitzgutachter Rürup und seine Auftraggeberin, Ulla Schmidt das 55-seitige Rürup/Wille-Gutachten der Öffentlichkeit vor. Erwartungsgemäß kommen die Gutachter zu wesentlichen niedrigen Lasten für die armen Südstaaten. Ansonsten lohnen zwei Sätze zitiert zu werden, wovon sich die Gutachter hätten selber den zweiten zu Gemüte führen sollen. Erstens: "Das Regionalprinzip ist dem Sozialversicherungsrecht fremd. Jenseits der Tatsache, dass die gesetzlichen Krankenkassen keine Einrichtungen der Bundesländer sind, ist die hinter der Frage nach den länderspezifischen Verteilungswirkungen des Gesundheitsfonds liegende implizite Annahme, dass die Sozialversicherungsbeiträge, die in einem Land entstehen auch dort wieder verausgabt werden sollten, abwegig." Zweitens: "Das zentrale Problem, landesspezifische Verteilungswirkungen des Gesundheitsfonds zu ermitteln, besteht darin, dass derzeit keine flächendeckenden GKV-Regionaldaten vorliegen - weder hinsichtlich der beitragspflichtigen Einnahmen noch der Ausgaben. In der gesetzten kurzen Frist konnte diesem Problem nur mit einer Auswertung von bereits vorliegenden Stichproben begegnet werden."
• Wenige Stunden später trat auch der "Mann des ersten Steins", Drabinski, vor die Presse und war natürlich immer noch anderer Meinung als die Anderen.
• Wer einen Teil seiner nach Meinung von rund 70 % der dazu in den letzten Monaten gefragten Experten und Gutachter gesundheitsschädlichen Zimtsterne verwetten will, kann dies dadurch, indem er/sie behauptet, es gäbe keine sonst noch laufenden aber bisher noch nicht veröffentlichten Gutachten und Expertisen.

Angesichts der bald veröffentlichten neuen Gutachten und den ebenso sicher damit initialisierten Gegen-, Ergänzungs- und Obergutachten sei schon jetzt auf zwei Mängel der bisherigen Debatte hingewiesen, ohne deren Beseitigung munter weiter an der Gutachten-Spirale gedreht werden wird: Vielen Debattanten und auch Gutachtern fehlen offensichtlich Grundkenntnisse der RSA-Prozesse und zweitens fehlt es den Politikern an der Bereitschaft oder Fähigkeit, die mit dem RSA und seinen Weiterentwicklungen verbundenen politischen Absichten und Ziele sich selber und vor allem der Öffentlichkeit klar zu machen.

Bernard Braun, 31.12.2006


Bundesverfassungsgericht billigt Risikostrukturausgleich

Artikel 0048 Die unionsregierten Länder Baden-Württemberg, Bayern und Hessen sind vor dem Bundesverfassungsgericht mit ihrer Klage gegen den Risikostrukturausgleich (RSA) in der Gesetzlichen Krankenversicherung gescheitert. Der Zweite Senat des höchsten deutschen Gerichts verkündete am 18. Juli 2005 seine einstimmig gefällte Entscheidung. Danach steht der RSA im Einklang mit den Vorgaben des Grundgesetzes zur bundesstaatlichen Finanzverfassung. Weiterhin stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass das RSA-Reformgesetz von 2001 und die geplante Einführung eines morbiditätsorientierten Ausgleichs (Morbi-RSA) mit dem Grundgesetz konform sei. Der Risikostrukturausgleich verwirklicht nach Ansicht des Gerichts den sozialen Ausgleich in der GKV im Einklang mit dem Gleichheitsgrundsatz aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes kassenartenübergreifend und bundesweit. Dies umfasst auch die Einbeziehung der Versicherten in den neuen Bundesländern in den gesamtdeutschen Solidarverband der Gesetzlichen Krankenversicherung. Im Jahr 2004 wurden insgesamt 13,6 Milliarden Euro zwischen den Krankenkassen transferiert, wobei insbesondere die AOKs Nutzniesser und Betriebskrankenkassen (mit 9,1 Mrd Euro Zahlungen) Geber waren.

Hier ist das Karlsruher Urteil im Wortlaut

Nähere Infos der AOK zum aktuellen und geplanten Risikostrukturausgleich
Ein Aufsatz von Susanne Erbe vom Hamburger Weltwirtschaftsarchiv: "Hat sich der Risikostrukturausgleich in der GKV bewährt?

Gerd Marstedt, 30.7.2005