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Sind gesetzliche Krankenkassen Unternehmen oder trotz "Wettbewerb" immer noch Körperschaften öffentlichen Rechts? Zwischenstand

Artikel 2041 Nach der am 25. Januar 2010 stattgefundenen öffentlichen Ankündigung der Vorstandsvorsitzenden von acht gesetzlichen Krankenkassen, man wolle der Ehrlichkeit halber gemeinsam Zusatzbeiträge einführen, strömten viele ihrer Versicherten in andere Kassen. Herein kam am 17. Februar 2010 ein so genannter Auskunftsbeschluss der Wettbewerbshüter des Bundeskartellamts, die in der Presse-Show abgestimmtes Verhalten von im Wettbewerb stehenden Krankenkassenunternehmen witterten und daher weitere Einzelheiten zum Hintergrund wissen wollten. Wenn der Wettbewerb zwischen Wirtschaftsunternehmen bedroht ist, ist in der Bundesrepublik das Bundeskartellamt mit dem entsprechenden Kartellrecht zuständig.

Dieselben Vorstandsvorsitzenden, die bei anderen Gelegenheiten gerne das "Kassen-Image" loswerden und als "Unternehmen" auftreten wollen und dafür viel Geld in unternehmerische Alleinstellungsmerkmale investieren, fanden diese Anfrage nicht rechtens. Darin wurden sie durch eine Pressemitteilung des nach dem Gesetz auch für viele Angelegenheiten der GKV-Kassen zuständigen Bundesversicherungsamtes vom 8. März 2010 bestärkt. Darin erklärte das Bundesversicherungsamt, dass es die Bedenken des Bundeskartellamtes nicht teile. Die vom Bundeskartellamt unterstellte Unternehmenseigenschaft von Krankenkassen sei zu verneinen. Am 19. März 2010 ging schließlich die Klage einer der angeschriebenen Krankenkassen gegen das Auskunftsbegehren beim Hessischen Landessozialgericht ein.

Und dieses hat nun am 15. September 2011 einen Beschluss gefasst, der zwei grundsätzliche Punkte hervorhob: Erstens wäre "dem Bundesversicherungsamt für bundesunmittelbare Versicherungsträger eine umfassende und ausschließliche Rechtsaufsicht zugewiesen", was bedeutet, dass "für eine parallele Zuständigkeit der Kartellaufsicht durch das Bundeskartellamt über Krankenkassen kein Raum (besteht)." Und: "Krankenkassen handeln im 'Wettbewerb' um beitragszahlende Mitglieder nicht als Unternehmen im Sinne des Art. 101 AEUV oder §§ 1, 130 GWB."

Dieser Tenor wird durch eine Reihe lesenswerter normativer Feststellungen untermauert:

• So sei "das Handeln im Wettbewerb der Krankenkassen untereinander um beitragszahlende Mitglieder auch unter Berücksichtigung der Novellierungen des SGB V seit 2004 keine wirtschaftliche Tätigkeit."
• "Krankenkassen sind nach wie vor gesetzlich verpflichtet, ihren Mitgliedern im Wesentlichen gleiche Pflichtleistungen anzubieten, die unabhängig von der Beitragshöhe sind. Sie haben außerhalb der geringfügigen Bandbreite der Wahltarife keine Möglichkeit, auf diese Leistungen Einfluss zu nehmen. Sie sind auch nach der Gesundheitsreform 2007 zu einer kassenübergreifenden Solidargemeinschaft zusammengeschlossen, die es ihnen ermöglicht, untereinander einen Kosten- und Risikoausgleich vorzunehmen. … Bei der Einführung des Gesundheitsfonds handelt es sich um eine Schwächung des Selbstverwaltungsgedankens, nicht aber um eine Verantwortungsverlagerung, die den Solidarcharakter des Krankenkassenhandelns beseitigen könnte."
• "Der Spielraum, über den die Krankenkassen verfügen, um ihre Wahltarife festzulegen und untereinander einen gewissen Wettbewerb um Mitglieder auszulösen, führt nicht zu einer anderen Bewertung. So ist die Einführung der Wahltarife nach § 53 SGB V im Zusammenhang mit der Abschaffung unterschiedlicher Beitragssätze in der GKV durch das GKV-WSG zu sehen, die ab 2009 zu einem bundeseinheitlichen Beitragssatz für alle Krankenkassen geführt hat und kassenindividuell nur noch die Erhebung eines Zusatzbeitrags in Höhe von maximal 1 v.H. der Bemessungsgrundlage zulässt. … Dem damit einhergehenden Abbau von Gestaltungsräumen der Krankenkassen hat der Gesetzgeber zur Effizienzsteigerung neue Versorgungsformen und Wahltarife flankierend an die Seite gestellt, um auch weiterhin im Rahmen eines eingeschränkten Wettbewerbs das Funktionieren des Gesamtsystems so effizient und kostengünstig wie möglich zu gestalten."
• "Der (Europäische) Gerichtshof erkennt damit an, dass der Gesetzgeber den Trägern sozialer Sicherheit ökonomische Instrumente in die Hand geben kann, um im Rahmen eines "best practice" zu einer bestmöglichen Allokation öffentlicher Mittel zu gelangen, ohne dass dies als wirtschaftliche Tätigkeit gewertet werden muss. … Der "Krankenkassenwettbewerb" dient ausweislich der Begründung des Entwurfs des GKV-WSG der Qualitäts- und Effizienzsteigerung bei der Aufgabenerfüllung …; im Übrigen zielt "Wettbewerbsstärkung" nach den Materialien im Wesentlichen auf die Stärkung des Wettbewerbs der Leistungserbringer untereinander und auf das - hier nicht einschlägige - Verhältnis der Krankenkassen untereinander als Nachfrager. Die Nutzung des Wettbewerbs zur Qualitäts- und Effizienzsteigerung der Tätigkeit der Träger eines Systems der sozialen Sicherheit wahrt am o.g. Maßstab gerade die Zielsetzung sozialer Art und ist keine wirtschaftliche Tätigkeit außerhalb der Aufgaben rein sozialer Art."

Ob nicht doch eine Reihe weiterer Aktivitäten der GKV-Kassen nicht nur unternehmerisch daherkommt, sondern dem Handeln eines Wirtschaftsunternehmens entspricht, wollte das LSG Hessen wohl nicht selber materiell entscheiden. Die Richter überließen dies "wegen grundsätzlicher Bedeutung" dem Bundessozialgericht. Das Revisionsverfahren vor diesem Gericht war daher zuzulassen.
Auf die Gefahr, dass die GKV-Kassen durch die "Verdünnung des Solidargedankens" z.B. durch Beitragsrückerstattungen oder die immer wieder angedachte einkommensunabhängigen Gesundheitsprämie europarechtlich immer mehr zu Wirtschaftsunternehmen mutierten und dann auch so behandelt werden, wiesen bereits vor einiger Zeit Juristen und Gesundheitswissenschaftler prophylaktisch hin.

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 15.9.2011 (Aktenzeichen: L 1 KR 89/10 KL) ist in ganzer Länge kostenlos zugänglich und auch für Nichtjuristen interessant. Auf das BSG-Urteil darf man gespannt sein.

Bernard Braun, 23.11.11


Bedenkliche Schlagseite gesundheitspolitischer Ziele im Koalitionsvertrag

Artikel 1692 Die gesundheitspolitischen Vereinbarungen von CDU/CSU und FDP für die 17. Legislaturperiode 2009-2013 haben es in sich. Nicht nur, weil sich die Koalitionäre die Umsetzung vieler Allgemeinplätze vorgenommen haben, wie sie gleich zu Beginn zeigen: "Wir werden das deutsche Gesundheitswesen innovationsfreundlich, leistungsgerecht und demographiefest gestalten. Wir benötigen eine zukunftsfeste Finanzierung, Planbarkeit und Verlässlichkeit sowie Solidarität und Eigenverantwortung." Vor allem aber wegen der inhaltlichen Akzentsetzungen im Bereich der zukünftigen Gesundheitsfinanzierung, die unübersehbar eine liberale Handschrift tragen. So bekennt sich die Koalition uneingeschränkt zu mehr Wettbewerb als "ordnendem Prinzip" im Krankenversicherungsmarkt. Der Koalitionsvertrag erwähnt dabei indes nur eine Seite der Medaille, nämlich die Möglichkeit für die Kassen, "gute Verträge"gestalten zu können", erwähnt aber mit keinem Wort, wie sie den unerwünschten Wirkungen des Kassenwettbewerbs wie Risikoselektion und Rosinenpickerei zu begegnen gedenkt. Im Gegenteil, die Koalition kündigt sogar die Abschaffung des von den Vorgängerregierungen weit vorangetriebenen, an Leistungsausgaben orientierten Risikostrukturausgleichs an, der die größten Verwerfungen auffangen und Fehlanreize vermeiden sollte: "Wir wollen einen Einstieg in ein gerechteres, transparenteres Finanzierungssystem. Der Morbi-RSA wird auf das notwendige Maß reduziert, vereinfacht sowie unbürokratisch und unanfällig für Manipulationen gestaltet." Wobei der abschließende Nebensatz eine gehörige Dosis Naivität erahnen lässt - eine manipulationsunanfällige gesundheitspolitische Erfindung wäre dringendst Nobelpreisverdächtig und gehört wohl eher in den Bereich der Wunschträume.

Ohnehin gehörte und gehörte die Gesundheitspolitik offenbar zu den unübersehbarsten Beziehungsproblemen der vermeintlichen Traumehe zwischen CDU/CSU und FDP, wie schon im Oktober das Deutsche Ärzteblatt unter dem Titel Zankapfel Gesundheitspolitik schrieb. Von der tageszeitung über die Süddeutsche Zeitung bis zur Wirtschaftswoche sind die Unterschiede zwischen CDU/CSU auf der einen und FDP auf der anderen Seite medial seit Beginn der schwarz-gelben Koalition präsent.

Ein auf den ersten Blick eher unauffälliger Satz der Koalitionsvereinbarung hat es besonders in sich, worauf bereits die Berliner Zeitung in dem Kommentar Röslers Big Bang hinwies. Wer das sozialpolitische Ziel anstrebt, "Beitrag und Leistung müssen in einem adäquaten Verhältnis stehen," kündigt damit nicht weniger als das Ende der sozialen Krankenversicherung an. Dass sich der Leistungsanspruch nach dem Bedarf, aber eben nicht nach dem gezahlten Einkommen richtet, ist ein Grundprinzip der sozialen Krankenversicherung. Dieses etablierte Solidarprinzip will die CDU/CSU-FDP-Koalition nun nach eigenem Bekunden in der Gesetzlichen Krankenkasse (GKV) abschaffen und durch ein Äquivalenzprinzip ersetzen, nämlich eine Finanzierungsform, bei der eine Äquivalenz bzw. Gleichwertigkeit zwischen Beitrag und Leistung besteht.

Das geht naturgemäß nicht mit der bisherigen einkommensbezogenen Beitragserhebung zusammen, sondern entweder mit einer Kopfpauschale mit einem für alle einheitlichen Leistungspaket oder mit verschiedenen Versicherungspaketen zu unterschiedlichen Preisen. Man darf gespannt sein, welche Option sich durchsetzen kann - Einheitsbeitrag oder Private Krankenversicherung für alle, natürlich mit Schmalspurpaketen für Hartz-IV-EmpfängerInnen. Der von Gesundheitsminister Rösler in Deutschen Ärzteblatt Anfang 2010 erneut bekräftige Wunsch nach einem "stärker wettbewerblichen System" lässt für die wachsende Schar der Billiglöhner und Sozialhilfeempfänger ebenfalls nicht Gutes ahnen.

Die Arbeitgeberbeiträge will die konservativ-liberale Regierung nach eigenem Bekunden einfrieren, um die Gesundheit- von den Lohn"zusatz"kosten zu entkoppeln. Das ist seit vielen Jahren eine zentrale gesundheitspolitische Forderung von Arbeitgeberverbänden und Unternehmern, um nicht durch hohe Sozialabgaben die Konkurrenzfähigkeit zu verlieren und im härter werden internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Dass diese Erwartung wenig mit der Realität zu tun hat, ist seit Längeren in diesem Forum nachzulesen, und zwar in dem Forums-Artikel aus der Reihe "Märchen von der Kostenexplosion" oder eingehend und ausführlich in Ein Spiel mit der Angst - das Märchen von der Gefährdung des Standortes. Der Effekt des Arbeitgeberanteils an den Endpreisen deutscher Exportartikel ist selbst bei erheblichen Beitragssatzsteigerungen nur marginal. Ein Einfrieren des Arbeitgeberanteils, wie ihn nun CDU/CSU und FDP anstreben, wird allenfalls einen gefühlten, aber keinen realen Effekt auf die deutsche Volkswirtschaft haben.

Auch die Frage von Kosten-Nutzen-Bewertungen kommt im Koalitionsvertrag zur Sprache. Besonderes Augenmerk legt die Regierung dabei auf das mittlerweile international anerkannte IQWIG in Köln: "Die Arbeit des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) werden wir auch unter dem Gesichtspunkt stringenter, transparenter Verfahren überprüfen und damit die Akzeptanz von Entscheidungen für Patienten und Patienten, Leistungserbringer und Hersteller verbessern." (Doppelung im Original, Hervorhebung JH). Die Akzeptanz der Empfehlungen des IQWIG auch auf Seiten der Hersteller zu erhöhen, mag ein hehres Ziel sein, für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung ist allerdings weniger tauglich, denn dies verspricht eine deutliche Verbesserung der ohnehin nicht unerheblichen Einflussmöglichkeiten der Pharmaindustrie und anderer Hersteller.

Als Beleg für die angestrebte Klientelpolitik mag der folgende Satz gelten: "Die Freiberuflichkeit der ärztlichen Tätigkeit ist ein tragendes Prinzip unsere(r) Gesundheitsversorgung und sichert die Therapiefreiheit." Klingt gut, vor allem in den Ohren niedergelassner Ärztinnen und Ärzte, die seit Jahren Einnahmerückgänge verzeichnen und gerne die "Staatsmedizin" an den Pranger stellen. Ob die Sicherung der Therapiefreiheit aber außer den Ärzten auch Versicherten und Patienten zu Gute kommt, steht auf einem anderen Blatt. Jüngste Ergebnisse einer internationalen Vergleichsstudie lassen erhebliche Zweifel aufkommen. Vor wenigen Wochen verwies das Forum Gesundheitspolitik auf eine Befragung von über 10.000 Allgemeinärzten, in der sich zeigte, dass niedergelassen Ärzte in Deutschland insbesondere bei chronischen Krankheiten erheblich seltener leitliniengerecht behandeln - eine derartige Therapiefreiheit kann nicht im Sine einer guten Gesundheitspolitik sein.

Die Koalitionsvereinbarung enthält noch eine Reihe anderer Ankündigungen, die in Fachkreisen Diskussionen hervorgerufen haben. Mehrere Gruppierungen und Vereinigungen haben mittlerweile Stellungnahmen zur Arbeitsgrundlage der neuen Bundesregierung vorgelegt, so die BundesArbeitsGemeinschaft der PatientInnenstellen und -Initiativen mit der BAGP-Stellungnahme zur Koalitionsvereinbarung von CDU/CSU/FDP und der Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdää).

Der gesamte Koalitionsvertrag Wachstum. Bildung. Zusammenhaltsteht allen Interessierten kostenfrei zur Verfügung; Auszüge sind nachzulesen im nachzulesen in der Novemberausgabe vom AOK-Medienservice.

Die gesundheitspolitisch relevanten Passagen des Koalitionsvertrags zwischen CDU/CSU und FDP finden Sie exklusiv auf der Homepage vom Forum Gesundheitspolitik.

Jens Holst, 16.12.09


EU-Rechtsprechung birgt große Risiken für das Solidarprinzip in der GKV

Artikel 0499 Die von der Bundesregierung geplante Gesundheitsreform schwächt das Solidarprinzip in der Gesetzlichen Krankenversicherung, wodurch das System der GKV längerfristig in Konflikt mit dem europäischen Kartellrecht geraten könnte. Zu diesem Ergebnis wächst kommt Prof. Dr. Thorsten Kingreen, Professor für Sozial- und Gesundheitsrecht an der Universität Regensburg in einem Rechtsgutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung. Das geplante "GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz" (GKV-WSG) bringe Veränderungen, die "jede für sich gesehen, keinen fundamentalen Systemwechsel bedeuten", schreibt der Rechtswissenschaftler. Sie verstärkten aber die Tendenz zu "einer schleichenden Verdünnung des Solidarprinzips". Für die GKV mit ihrer staatlich geregelten Sonderstellung könne diese Entwicklung europarechtliche Konsequenzen haben. Denn bislang gelten die Krankenkassen wegen des von ihnen verfolgten Solidarprinzips nicht als Unternehmen im wettbewerbsrechtlichen Sinne und sind deshalb von den Bestimmungen des europäischen Kartellrechts ausgenommen. Grund für diese Ausnahme: Es wird davon ausgegangen, dass "der freie Wettbewerb von Versicherungsunternehmen" den Solidarausgleich zwischen gesunden und kranken, jungen und alten sowie Versicherten mit niedrigerem und höherem Einkommen "nicht gewährleisten könnte", so Kingreen.

Als tendenziell problematisch werden drei Regelungen im Gesetzesentwurf bewertet:
• Die Bestimmung über Selbstbehalte der Versicherten, weil sie ein bislang kollektiv versichertes Risiko individualisierten: "An die Stelle solidarischer Finanzierung nach Maßgabe der individuellen Leistungsfähigkeit tritt die Privatfinanzierung nach Maßgabe der Leistungsinanspruchnahme. Wegen ihrer Wechselwirkung mit den dafür erbrachten Prämienleistungen der Krankenkassen sind sie nur für tendenziell gesunde und junge Menschen attraktiv. Je nach Ausgestaltung von Selbstbehalt und Prämie profitieren zudem Besserverdienende in stärkerem Maße als Schlechterverdienende", resümiert Kingreen.

• Die Möglichkeit zur Beitragsrückerstattung, wenn Versicherte keine Leistungen der Versicherung abgerufen haben. Auch Beitragsrückerstattungen relativierten den Solidarausgleich -zwischen Gesunden und Kranken sowie zwischen jungen und alten Versicherten. "Nicht betroffen ist zwar das Verhältnis zwischen Besser- und Schlechterverdienenden ", analysiert der Jurist. "Geschwächt wird aber der Solidarausgleich zwischen Alleinstehenden und Familien, weil Beitragsrückerstattungen auch davon abhängig gemacht werden, dass volljährige mitversicherte Kinder keine Leistungen in Anspruch nehmen."

• Regelungen zur Steuerfinanzierung des Solidarausgleichs in der GKV. "Wenn und soweit" dieser Ausgleich "aus dem System ausgelagert wird, ist das System selbst nicht mehr solidarisch", gibt Kingreen zu bedenken. "An die Stelle der Binnensolidarität der Sozialversicherung tritt die Außensolidarität der Steuerzahler für eine nur noch nach dem Versicherungsprinzip handelnde Sozialversicherung." Allerdings sei die Beteiligung des Bundes an der Finanzierung der Krankenkassen bislang und auch nach den Planungen für das GKV-WSG noch "verhältnismäßig gering ". So stünden 1,5 Milliarden Euro aus Steuermitteln einem Finanzaufwand von 25,7 Milliarden Euro allein für die beitragsfreie Mitversicherung von Familienmitgliedern gegenüber.

An welchem Punkt die "Verdünnung des Solidarprinzips" die europäischen Kartellbehörden auf den Plan rufen könnte, sei kaum zu prognostizieren, betont der Wissenschaftler. Völlig klar sei, dass eine Umstellung der Kassenfinanzierung auf Pauschalprämien die GKV vor europarechtliche Probleme stellen würde: "Die von der CDU/CSU ins Gespräch gebrachte einheitliche Gesundheitsprämie, bei der der Solidarausgleich weitgehend auf die Gesamtgesellschaft verlagert würde, wäre ohne Zweifel das Ende des Solidarprinzips in der Sozialversicherung", so Kingreen. Das Gutachten steht hier zum Download (PDF, 48 Seiten) zur Verfügung:
Prof. Thorsten Kingreen: Europarechtliche Implikationen des Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung

Bereits vor kurzem hatten Rolf Rosenbrock und Thomas Gerlinger in einem Aufsatz in den WZB-Mitteilungen (Heft 113 September 2006) auf dieselbe Problematik aufmerksam gemacht, die beispielsweise zu Problemen bei den gesetzlichen Vorgaben zur Arzneimittel-Vergütung führen könne: "Das europäische Wirtschafts- und Wettbewerbsrecht beinhaltet unter anderem das Verbot 'wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen und Verhaltensweisen' sowie das Verbot des 'Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung'. Zugleich zählen Kollektivverhandlungen und -verträge zwischen den Verbänden der Krankenkassen und den Verbänden der Leistungsanbieter (zum Beispiel Ärzte und Krankenhäuser) zu den tragenden Säulen des Steuerungsregimes in der GKV. Der Staat hat dabei den Krankenkassen unter anderem das Recht zugewiesen, Erstattungshöchstgrenzen der GKV (Festbeträge) für bestimmte Arzneimittel festzusetzen. Im Lichte der Wettbewerbsregeln der EU stellt sich die Frage, ob das nicht dem Tatbestand der Preisabsprachen durch marktbeherrschende Unternehmen gleichkommt und die Vertragsbeziehungen zwischen Krankenkassen und Leistungsanbietern nicht als wettbewerbswidrige Kartelle angesehen werden müssen."
Der Aufsatz (PDF, 3 Seiten) steht hier zur Verfügung: "Abnehmende Autonomie - EU-Wettbewerbsrecht birgt Risiken für das deutsche Gesundheitssystem"

Gerd Marstedt, 19.1.2007


Gutachten zur GKV empfiehlt Abwendung vom Solidarprinzip

Artikel 0167 "Ökonomisch gesehen leben wir über unsere Verhältnisse. Die GKV ist derzeit nicht nachhaltig finanziert. Wir gönnen uns ein Leistungsniveau, das wir langfristig nicht finanzieren können. (...) Nur eine Finanzierung der GKV, bei der jede Generation über ihren Lebenszyklus hinweg die eigenen Gesundheitskosten trägt, ist nachhaltig." Dies ist das Fazit eines Gutachtens zur Finanzreform der GKV, das von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung in Auftrag gegeben wurde. Die Verfasser der Expertise unter Leitung von Volker Ulrich von der Universität Bayreuth vergleichen in der Studie verschiedene Reformoptionen (Bürgerversicherung, Gesundheitsprämie, Bürgerpauschale, Risikoorientierte Prämien sog. Bayreuther Modell) und empfehlen aufgrund größerer "Nachhaltigkeit" das von Peter Oberender (Unternehmensberatung Oberender & Partner, zugleich Ordinarius für Volkswirtschaftslehre und Gesundheitsökonomie an der Universität Bayreuth) entwickelte "Bayreuther Modell".

Konkret empfohlen wird für die Zukunft eine völlige Umgestaltung der GKV-Finanzierung, in der die Gesundheitsausgaben nicht mehr wie derzeit über Generationen hinweg nach dem Solidarprinzip bestritten werden (Junge unterstützten Alte, Gesunde unterstützen Kranke), sondern nach dem in der PKV geltenden Prinzip individueller Risiken. Frauen und Männer würden dort unterschiedlich hohe Beiträge bezahlen und ebenso Jüngere und Ältere.

Das Bayreuther Modell sieht vor, die intergenerative Umverteilung von Einkommen in der GKV vollständig abzubauen. Die Expertise beschreibt das Szenario so: "Im Reformjahr 2005 steigen alle GKV-Versicherten, die jünger als 40 Jahre alt sind, auf alters- und geschlechtsspezifische Prämien um. Die älteren Jahrgänge verbleiben in der alten GKV, die weiterhin nach dem Umlageverfahren organisiert ist. Im Unterschied zu den bisherigen Szenarien, unterscheiden wir damit zwischen einer alten und einer neuen GKV. Die alte GKV verliert mit der Reform über 30 Mio. ihrer Versicherten. (...) Die neue GKV hat im Jahre 2005 38,3 Mio. Mitglieder mit einem Anteil von 85 % Altversicherten. Das Gesamtausgabenvolumen der GKV-Neuversicherten beläuft sich auf 40,25 Mrd. €. Die Mitglieder der neuen GKV zahlen altersgerechte Prämien, die zudem nach Geschlecht differenziert sind. (...) In den folgenden Jahren steigen die Prämien gemäß dem Altersrisiko bzw. dem generellen Ausgabenwachstum." (Gutachten S. 73f)

Unter dem Motto "Die heilsame Kraft des Marktes - Fehlsteuerung beenden - Kräfte des Marktes nutzen - Solidarischen Ausgleich schaffen" hatte sich zuvor schon die Initiative "Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM)" für das Bayreuther Modell ausgesprochen und in Kooperation mit FOCUS MONEY eine 20seitige Broschüre "Die heilsame Kraft des Marktes" publiziert. Die Initiative INSM wird nach eigener Aussage "derzeit mit rund 8,8 Mio. Euro jährlich, nach Abzug von Steuern, von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektro-Industrie finanziell getragen."

PDF-Datei zum Gutachten im Auftrag der KBV Stärkung der Nachhaltigkeit in der Finanzierung des Versicherungsschutzes der GKV-Versicherten

Gerd Marstedt, 31.10.2005


Solidarität und Eigenverantwortung: Unser Gesundheitssystem im Urteil der Bürger

Artikel 0092 Forderung nach einer radikalen Veränderung in der Finanzierung unseres Gesundheitssystems finden sich derzeit zuhauf in Parteiprogrammen, aber auch Stellungnahmen etwa von Arbeitgeberverbänden. Diejenigen, die es betrifft, Versicherte in der GKV, kommen recht selten zu Wort. Eine repräsentative Bevölkerungsumfrage des "Gesundheitsmonitor" hat zu diesem Thema jedoch überaus interessante Ergebnisse zutage gebracht.

Ein zentrales Ergebnis der Studie (Verfasser: Gerd Marstedt) ist, "dass es in der Bevölkerung nach wie vor einen breiten Konsens für das Solidarprinzip gibt. Radikale marktwirtschaftliche Positionen, die eine flächendeckende Einführung privater Risikovorsorge in der Krankenversicherung wünschen, finden nur bei einer sehr kleinen Minderheit der Versicherten Zustimmung. Ebenso findet die zuletzt vielfach diskutierte und in Wahlprogrammen angekündigte Einführung von Grund- und Wahlleistungen nur etwa bei jedem Dritten Sympathie." Die mit dem Solidarprinzip verbundenen finanziellen Umverteilungsmechanismen, von denen man nicht voraussetzen kann, dass sie zum elementaren Wissensbestand aller Versicherten zählen, werden gleichwohl auch bei expliziter Benennung dieser Umverteilungsströme von der großen Mehrheit als durchweg gerecht empfunden."

Bemerkenswert ist auch ein anderer Befund: Je höher der soziale Status ist, gemessen am Bildungsniveau oder auch Einkommen, umso häufiger werden Interessen an Wahl- und Zusatztarifen innerhalb der GKV artikuliert. Interpretiert wird dies so, dass das Votum für Grund- und Wahlleistungen den Wunsch nach mehr "Supermarkt"-Charakter in der Krankenversicherung beinhaltet: Mehr Auswahlmöglichkeiten, eine größere Angebotsvielfalt, allerdings bei staatlich kontrollierter Qualität - denn die Alternative der Privaten Krankenversicherung, die diese Vielfalt schon jetzt offeriert, wird ja von nur sehr wenigen Befragten befürwortet.

Ergebnisse einer Bevölkerungsumfrage zur GKV: Solidarität und Eigenverantwortung

Gerd Marstedt, 13.8.2005