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25 Jahre Wettbewerb in der GKV aus Sicht des Bundesversicherungsamts: Weder Silber und gleich gar nicht Gold.

Artikel 2620 "Die wettbewerbliche Ausgestaltung des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung hat sich nach Einschätzung aller Experten im Gesundheitswesen im Wesentlichen bewährt", so steht es im Vorwort zu dem im April 2018 veröffentlichten "Sonderbericht Wettbewerb" des Bundesversicherungsamts (BVA). Doch, so fährt der Verfasser dieses Vorworts, der BVA-Präsident Frank Plate, vier Zeilen danach fort, "es ist auch nicht alles Gold, was vermeintlich glänzt". Auch Experten scheinen Menschen zu sein, die sich irren können.

Und welche wesentlichen Voraussetzungen und Effekte des mit der Kassenwahlfreiheit im Gesundheitsstrukturgesetz von 1992 gestarteten Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung bis zum heutigen Tag nicht oder nicht richtig funktionieren, findet sich in den unterschiedlichsten Quellen. Zum einen liefert dies der Blick in die auch mit der letzten, vierten Korrektur vorhandener Dysfunktionalitäten durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz aus dem Jahr 2007 (Kerninhalt: Einführung eines Gesundheitsfonds und des so genannten morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (RSA) ab 2009) noch längst nicht beendeten Geschichte des Risikostrukturausgleichs (siehe dazu u.a. die Forderungen des Betriebskrankenkassenverbandes und einiger anderer Kassen). Und zum anderen ermöglicht dies auch der aktuelle BVA-Berichts für Nichtexperten und diejenigen der "alle Experten", die bereit sind soziale Tatsachen jenseits des Glanzes "kundenfreundlicher Empfangszonen" mit Online-Informationen an Stelle von "Kassenschaltern" mit Hängeregistraturen zu erkennen.

Wie bedeutend ein funktionierender Risikostrukturausgleich für die Bewertung des gesamten Wettbewerbssystems in der GKV ist, hat das Bundesverfassungsgericht in seinem 77-seitigen Grundsatzurteil vom 18. Juli 2005 zum RSA - 2 BvF 2/01 - Rn. (1-287), so beschrieben:

"Schon die Entstehungsgeschichte des Gesundheitsstrukturgesetzes macht deutlich, dass der Gesetzgeber ein eigenständiges, sich von der gewerblichen Wirtschaft unterscheidendes Wettbewerbsmodell für die gesetzliche Krankenversicherung entworfen hat. Gedacht war an eine Wettbewerbsordnung auf der Basis des Solidarprinzips. Der Wettbewerb sollte erst dort beginnen, wo das Solidarprinzip endet. Solidaritätswidriger Risikoselektionswettbewerb, also Wettbewerb um die guten Risiken, war nicht erwünscht (vgl. BTDrucks 12/3608, S. 68 f.)." (Seite 48 des Urteils)
Und:
"Seine (des Gesetzgebers - der Verfasser) Prognose, Kassenwahlfreiheit und Aufnahmezwang seien ohne Flankierung durch einen Risikostrukturausgleich generell nicht hinreichend geeignet, solidaritätswidrige Risikoselektion zu verhindern, ist nicht fehlsam. Zwar kann der Aufnahmezwang die unmittelbare aktive Risikoselektion durch die Krankenkasse unterbinden; Anreize zu mittelbarer aktiver Risikoselektion durch die Kasse sowie passive Risikoselektion, also Selbstselektion der Versicherten, können aber durch einen Risikostrukturausgleich deutlich besser abgemildert werden. Ohne einen solchen Ausgleich gibt es starke Anreize für eine Krankenkasse, ihre finanzielle Situation durch Gewinnung guter Risiken und Abwehr schlechter Risiken zu verbessern. Trotz Aufnahmezwangs bestehen vielfältige Möglichkeiten für mittelbare Risikoselektion durch Werbe- und Marketingmaßnahmen der Krankenkassen. Ebenso bestehen starke Anreize für die Selbstselektion der guten Risiken, die durch den Aufnahmezwang nur wenig abgemildert werden. Es sind eben die guten Risiken, die die stärkste finanzielle Motivation haben, sich in kostengünstigen Teil-Versicherungskollektiven zusammenzufinden." (S. 64)

Aber nicht nur das Fehlen eines halbwegs wirkungsvollen und nebenwirkungsfreien RSA-Gesetzes weckt Zweifel an der eingangs zitierten Expertenbewertung, der Wettbewerb habe sich bewährt, was ja bedeuten sollte, dass die Vorteile und der Nutzen Nachteile überwiegen.

Dafür braucht man noch nicht einmal die dazu bereits seit Jahren veröffentlichten wettbewerbskritischen Studien durchzuarbeiten (dort nachzuschauen ist aber trotzdem bereichernd), es reicht der Blick in den Sonderbericht des BVA.

Dort finden sich u.a. folgende, wegen ihrer Prägnanz etwas ausführlicher zitierten Feststellungen aus der Prüfpraxis des BVA und anderer dazu beauftragten Einrichtungen auf Länderebene und aus Interviews mit GKV-Akteuren:

• "Die Krankenkassen nutzen ihre Gestaltungsspielräume für zusätzliche Leistungen aus Wettbewerbsgründen rege. Insoweit ist das gesetzgeberische Ziel der Eröffnung von Gestaltungsspielräumen der Krankenkassen voll erreicht. Dabei spielt die Ausrichtung der zusätzlichen Leistungen auf bestimmte Personengruppen aus Marketingaspekten und zur gezielten Anwerbung neuer Mitglieder eine große Rolle….Auf der anderen Seite birgt die Eröffnung der zusätzlichen Gestaltungsmöglichkeiten für die Kassen vor dem Hintergrund des Wettbewerbsdrucks auch Risiken. Denn es ist zu vermuten, dass Wirksamkeit, Qualitätssicherung und Wirtschaftlichkeit der Leistungen in der Regel eher eine untergeordnete Rolle spielen. So bieten die Krankenkassen etwa keine Zusatzleistungen im Bereich der Rehabilitation an. Dafür schaffen sie aber gezielt Angebote, deren medizinische Wirksamkeit nicht sicher nachgewiesen oder Regelleistungen kaum überlegen ist. Kritiker sehen die satzungsmäßigen Zusatzangebote nach § 11 Abs. 6 SGB V aus sozialpolitischer Sicht als problematisch an, weil Zusatzangebote Selektionsprozesse begünstigten. Auch werden damit reguläre Verfahren zur Qualitätssicherung neuer Leistungen, etwa durch den G-BA, umgangen."
• "Eine wesentliche Verbesserung der Versorgung im Hinblick auf einen Qualitätswettbewerb erscheint aus hiesiger Sicht fraglich. Bonusprogramme werden von den gesetzlichen Krankenkassen als ein Instrument zur Werbung, Mitgliederakquise und Mitgliederbindung genutzt, um sich von ihren Mitkonkurrenten abzugrenzen und im Wettbewerb zu bestehen. Dennoch stellt sich die Frage, inwieweit sich der gesetzgeberische Wille, mit dem Instrument der Bonusprogramme das gesundheitsbewusste Verhalten aller Versicherten zu stärken, wirklich in der Praxis manifestiert hat. Denn nicht nur die Aussagen der Verbraucherzentrale NRW, sondern auch die vom Bundesversicherungsamt geführten Interviews belegen, dass Krankenkassen ihre Bonusprogramme vorwiegend dazu nutzen, junge, gesunde sowie sportliche Versicherte anzusprechen und an sich zu
binden. Zudem ist der Nutzen vieler angebotener Bonusprogramme nicht hinreichend qualitätsgesichert."
• "Der Grund, weshalb die meisten gesetzlichen Krankenkassen weiterhin schwerpunktmäßig individuelle Präventionsleistungen anbieten, liegt an der wettbewerblichen Ausrichtung des Krankenversicherungssystems. Jeder Versicherte kann seine Krankenkasse innerhalb eines kurzen Zeitraums wechseln, während langfristige, effektive Gesundheitsförderungs- und Präventionsangebote keine kurzfristigen wirtschaftlichen Erfolge für die Krankenkassen zeitigen. Der Krankenkassenwettbewerb verleitet die Krankenkassen eher dazu, in verhaltensbezogene individuelle Freizeit und Wellnessangebote zu investieren, um neue und vor allem junge, gesunde, sowie gut verdienende Versicherte anzulocken. Der morbiditätsorientierte RSA in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung weist für diese Versichertengruppe noch immer eine Überdeckung auf."
• "Auch stellt der Prüfdienst des Bundesversicherungsamtes in Übereinstimmung mit dem Prüfdienst eines Landes fest, dass die Krankenkassen gerade in Leistungsbereichen, die vorwiegend junge und gesunde Versicherte anlocken, wie Prävention und betriebliche Gesundheitsförderung, rechtswidrige Leistungen häufig "aus Kulanz" gewähren. Auch die Patientenbeauftragte und einzelne Krankenkassen bestätigten dem Bundesversicherungsamt, dass Krankenkassen vor allem Versicherte mit "guten Risiken" verstärkt umwerben. Darüber hinaus fand das IGES Institut in der oben genannten Studie heraus, dass einige Krankenkassenarten im Bereich der Vorsorge und Rehabilitation Ablehnungsquoten von bis zu 19,4 Prozent sowie im Bereich der Hilfsmittel von bis zu 24,5 Prozent aufweisen. Besonders betroffen von den Leistungsablehnungen waren nach Einschätzung von Patientenorganisationen ältere Personen, chronisch Kranke, bildungsbenachteiligte sowie schwerbehinderte Menschen."
• "Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die Selektivverträge von den Krankenkassen auch zu Wettbewerbszwecken eingesetzt werden und somit der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck an der Stelle durchaus erfüllt worden ist. Fraglich bleibt allerdings, ob hierdurch die Versorgung entscheidend verbessert worden ist."

Auch wenn man dem Hinweis des BVA folgt, dass ein Teil der Handlungslücken und Handlungen durch gesetzgeberische Vorgaben oder das Nebeneinander politischer Vorgaben für gemeinsames und einheitliches Handeln in der Solidargemeinschaft (z.B. im § 1 SGB V) und Leistungswettbewerb unter denselben Kassen verursacht wurden und werden, fällt es nach den zitierten Berichten aus dem Alltag des Wettbewerbs schwer, der Einschätzung "aller Experten" ohne Einschränkungen zu folgen, der Wettbewerb habe sich "bewährt" und "die Versorgung der Versicherten (habe) sich verbessert".

Zu befürchten ist aber trotzdem, dass die Protagonisten des GKV-Wettbewerbs auch angesichts der vom BVA ermittelten Fehlentwicklungen an ihm festhalten werden und glauben, dass er sich, wenn schon nicht heute dann "irgendwann" wirklich bewährt.

Wer sich noch ausführlicher über die Funde des BVA und seine Vorschläge für die weitere Entwicklung informieren will und die wahrscheinlichen Einwände von GKV-Seite überprüfen will, kann die 166 Seiten des SONDERBERICHT ZUM WETTBEWERB IN DER GESETZLICHEN KRANKENVERSICHERUNG kostenlos herunterladen.

Bernard Braun, 6.4.18


Sieglein, Sieglein an der Wand - wer ist die beste Krankenkasse im Land oder welches Siegel darf's denn sein und wer liefert!?

Artikel 2572 Mit einem beachtlichen, aber gut in den Verwaltungsausgaben versteckten Betrag lässt ein Großteil der 113 Anfang 2017 noch existierenden Gesetzlichen Krankenkassen jahraus, jahrein von einer Hand von Instituten und Experten erkunden, ob oder dass sie die beliebtesten, unbürokratischsten, versichertennächsten, zuverlässigsten, schnellsten oder sonstwie herausragendste Kasse sind - Hauptsache, es springt ein buntes Siegel heraus.

Da es somit kaum eine Kasse ohne mindestens ein Siegel zu was auch immer gibt, stellte sich schon immer die Frage wie die verschiedenen natürlich völlig unabhängigen Siegel-Verleiher und Rater dies schaffen.
Anlässlich einer aktuellen Pressemitteilung vom 29. Mai 2017 der Siemens Betriebskrankenkasse (SBK), die sich unter der Überschrift "Service- und Beratungsqualität zahlen sich aus" auf Basis einer "aktuellen Befragung des "Deutschen Instituts für Service-Qualität (DISQ)" zur "beliebtesten gesetzlichen Krankenkasse Deutschlands [sic]" erklärt, soll einmal ein kritischer Blick auf die Seriosität der Siegelverleiher und Glaubwürdigkeit der Siegelträger geworfen werden.

Im Falle der SBK hat DISQ eine Onlinebefragung der "Kunden" von 19 (!) gesetzlichen Krankenkassen mit Parametern wie Service, Leistungsangebot und Zuverlässigkeit, Weiterempfehlungsbereitschaft und Kundenärgernisse durchgeführt. Warum Ergebnisse von 94 anderen gesetzlichen Krankenkassen nicht erhoben oder nicht in die Berechnungen einflossen oder wer die 19 befragten Kassen sind und auf welchem Platz welche Kasse steht, wird in der Pressemitteilung nicht erwähnt - Hauptsache man wird die beliebteste Kasse Deutschlands.
Einen Teil der Antworten auf diese Fragen erhält man nur auf der Website des DISQ. Auf den weiteren Medaillenrängen liegen danach die Techniker Krankenkasse und die AOK Plus. Die Barmer liegt zum Vergleich schon deutlich abgeschlagen auf Platz 13.

Ganz anders sieht das Qualitätsrating des Deutsches Finanz-Service Instituts (DFSI) 2016/17 aus. Dafür wurden die Leistungsfähigkeit der untersuchten Kassen in den Bereichen Leistung, Kundenservice und Finanzkraft umfassend analysiert und bewertet und zu einem Gesamtergebnis zusammengefasst. Dies ist auch etwas ausführlicher beschrieben. Untersucht wurden aber auch vom DFSI nicht die Leistungsindikatoren aller 113 oder 115 Kassen, sondern die von 29. Auf den Medaillenrängen stehen von gold bis bronze die Techniker Krankenkasse, die Hanseatische Krankenkasse und die AOK Baden-Württemberg. Auf Platz 4 folgt in diesem Rating die AOK Plus und auf Platz 15 schließlich die Barmer. Die SBK sucht man hier vergebens.

Dafür, dass aber auch die Barmer in ihrer Eigenwerbung nicht darauf verzichten muss, sich zu den "besten gesetzlichen Krankenkassen Deutschlands" zählen zu können, sorgt eine wahre Flut von Siegeln und Siegerurkunden, geballt auf ihrer Mitglieder-Webseite dokumentiert. Da findet sich Exzellenz bei der "Leistung für junge Leute" und die Barmer ist die "TOP Krankenkasse für Familien" - alles Ratings des DFSI. Und wem dies noch nicht genügt, erfährt, dass die Barmer von Focus Money für "ausgezeichnete Leistungen" oder ihren "hervorragenden Service" topgeratet wird. Ein "Experten"team der Tageszeitung WELT, von nicht näher bezeichneten Mitarbeitern der Universität Frankfurt und von ServiceValue krönt die Barmer außerdem und unübertreffbar zum "goldenen Service-Champion 2016" und Focus Money adelt die Kasse schließlich noch zum "besten Ausbildungsbetrieb" 2017.

Bereits diese wenigen Vergleiche kassenindividueller Ratings zeigen eine Reihe offenkundiger methodischer Mängel, sogar auf den ersten Blick erkennbare Tricksereien u.a. bei der Sampleauswahl und undurchsichtige aber fast immer den Vermarktungsinteressen der Auftraggeber dienende Ergebnisse. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass es bei den Siegeln etc. vieler anderer Kassen besser aussieht, d.h. GKV-Mitglieder durch sie für die Suche nach einer ihrem Bedarf entsprechenden gesetzlichen Krankenkasse wirklich seriös informiert werden. Verantwortlich dafür ist die unheilige Allianz von auftraggeberfrommen Marketingfirmen, anderen Kopflangern und nach Alleinstellungsmerkmalen im Wettbewerb gierenden Krankenkassenmanager.

Vielleicht sollten sich aber auch die auf das Marketing mit bunten Siegeln setzenden Kassen im Jahr der Sozialwahlen mal alternativ durch den Kopf gehen lassen, dass sie mit der damit verbundenen "Kunden"-Rhetorik den sozialen Status ihrer Mitglieder und Versicherten ignorieren, reduzieren und missachten. Ignoriert wird, dass die gesetzlichen Krankenkassen seit 134 Jahren bewusst keine von zahlungsfähigen Käufern oder Bestellern abhängigen Wirtschaftsunternehmen, sondern selbstverwaltete Körperschaften öffentlichen Rechts mit beitragszahlenden Pflicht- und freiwilligen Mitgliedern und Mitversicherten sind. Es sind also nicht nur "stake-", sondern auch "share-holder", die auch ohne die Bezeichnung als "Kunde" bei Kontakten zu ihrer Krankenkasse so behandelt werden sollten wie die Kunden von Karstadt, VW oder Alnatura. Die Übernahme und intensive Nutzung von privatwirtschaftlichen Marketinginstrumenten wie u.a. den Siegeln dient natürlich auch dazu, diese besondere soziale Konstellation in der GKV zu verschleiern. Nicht vorzustellen was passierte, wenn sich die Beitragszahler der GKV fragen würden, wem ihre Kassen eigentlich gehören.

Bernard Braun, 4.6.17


Prävention als betriebswirtschaftliches Risiko im Risikostrukturausgleich (RSA)!? oder nach der Reform ist vor der Reform

Artikel 2520 Eines der am meisten und regelmäßigsten novellierten, ergänzten, adjustierten gesetzlich geregelten gesundheitspolitischen Instrumente ist der so genannte Risikostrukturausgleich (RSA) - in der aktuellen Version liebevoll aber dennoch schwer verständlich Morbi-RSA (morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich) genannt.
Notwendig wurde der RSA mit der Einführung der Kassenwahlfreiheit bzw. des de facto lange Zeit überwiegend beitragsfixierten Kassenwettbewerbs durch das Gesundheitsstrukturgesetz 1992 und den Start dieser neuen Wirklichkeit der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ab 1995.

Da die verschiedenen Kassenarten aus vielfältigen historischen Gründen nicht in gleicher Weise auf diesen Wettbewerb vorbereitet waren und es Kassen mit hierfür "schlechter" (z.B. viele ältere Schwerkranke, sozial schwächere Mitglieder) oder "guter" (z.B. viel junge und gesunde Mitglieder mit höheren Einkommen) Risiko-/Versichertenstruktur gab, musste der Einstieg in ihn durch ein Ausgleichssystem, eben den RSA, ergänzt werden. In geradezu prophetischen Worten formulierte dies das Bundesverfassungsgericht in einbem Urteil vom 18.7.2005 so: "Ohne einen solchen Ausgleich gibt es starke Anreize für eine Krankenkasse, ihre finanzielle Situation durch Gewinnung guter Risiken und Abwehr schlechter Risiken zu verbessern. Trotz Aufnahmezwangs bestehen vielfältige Möglichkeiten für Risikoselektion durch Werbe- und Marketingmaßnahmen der Krankenkassen. Ebenso bestehen starke Anreize für die Selbstselektion der guten Risiken, die durch den Aufnahmezwang nur wenig abgemildert werden. Es sind eben die guten Risiken, die die stärkste finanzielle Motivation haben, sich in kostengünstigen Teil-Versicherungskollektiven zusammenzufinden."

Da sich der Wettbewerb entgegen den sozialpolitischen Absichten des Gesetzgebers und gefördert durch technische Schwächen und Fehlanreize der jeweiligen rechtlichen Bestimmungen lange Zeit und teilweise bis in die Gegenwart auf die Gewinnung "guter Risiken", einen Wettbewerb um den niedrigsten Beitragssatz und die Vermeidung aufwändiger Behandlungsprogramme z.B. für chronisch Kranke (Motto: "Wenn wir ein tolles Angebot für Diabetiker machen, kommen alle Diabetiker der Republik zu uns und dann können wir den Laden zumachen") konzentrierte, sollten bisher vier Gesetze in den Jahren 1998, 1999, 2001 und 2007 (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz u.a. mit Einführung des Gesundheitsfonds) den RSA zu einem Gewinn für alle Kassen und ihre Versicherten machen.
Praktisch jede RSA-Reform besaß einen typisch inkrementellen Charakter, d.h. der Gesetzgeber versuchte ein oder zwei Defizite zu beseitigen, wusste aber meistens zusammen mit allen Experten, dass es auch noch mindestens eine weitere Macke gab, die zu unerwünschten Wirkungen führen könnte oder sogar musste. Die Ausrede, unerwünschte Wirkungen für die eine andere Kassenart oder Leistung seien unbeabsichtigte bzw. unerkennbare Nebenwirkungen, ist daher unredlich.

So gab es bereits bei der Verabschiedung der 2007-RSA-Reform Hinweise auf die potenziell unerwünschten Nebenwirkungen des Ausklammerns bzw. der pauschalen Berücksichtigung von Prävention aus dem Ausgleichs- und Zuweisungssystem des Morbi-RSA und die ebenfalls möglicherweise problematische Begrenzung der ausgeglichenen Krankheiten auf 80.
Und spätestens nach der Bildung einer informellen RSA-Allianz aus einer Reihe von Betriebs-, Innungs- und Ersatzkassen im März 2016, tauchen in kurzen Abständen Hinweise auf diese meist schon länger bekannten oder durch aktuelle Gerichtsbeschlüsse spürbar gewordene Schwachstellen auf, deren "Korrekturen" - so der Vorstand des BKK-Dachverbands e.V., Franz Knieps - "nicht bis zur nächsten Legislaturperiode verschoben werden (können)".

Die derzeit umfassendste, d.h. mit einem umfangreichen Gutachten untermauerte Kritik an der Morbi-RSA-Praxis veröffentlichte nun der Dachverband IKK e.V. der Innungskrankenkassen am 19. April 2016.
Mit der Formulierung des Geschäftsführers "wenn Krankheitsdiagnosen mehr als Präventionserfolge wiegen - wer investiert dann noch langfristig in Prävention?" beklagen die Innungskrankenkassen wenige Monate nach Verabschiedung des Präventionsgesetzes, dass Prävention unter den geltenden Finanzausgleichs-Bedingungen ein "Verlustgeschäft" sei, da dort "Krankheit belohnt" würde. Die Innungskrankenkassen, die nach ihren eigenen Angaben 2014 pro Versicherten 4,36 Euro für primärpräventive Maßnahmen ausgegeben haben, alle Kassenarten aber im Durchschnitt nur 4,16 Euro würden durch die geltenden RSA-Regeln "systematisch finanziell bestraft". Dies könne sich noch verstärken, wenn nach dem Präventionsgesetz ab 2016 jährlich sieben Euro pro Versicherten und Jahr für Prävention ausgegeben werden müsse.

Auch wenn in dem Auftragsgutachten und in der dazu organisierten Pressekonferenz der Nutzen von Präventionsausgaben nicht in Frage gestellt wird, ja sogar die positive gesundheitliche Wirkung durch den Vergleich von Leistungsausgaben einer Präventionsgruppe mit Versicherten, die keine Prävention in Anspruch genommen haben, belegt wird, kommt einer der Gutachtenautoren zu dem Schluss: "Dass die Ergebnisse die finanzielle Benachteiligung der Kassen so klar belegen, hat uns selbst überrascht: Prävention rechnet sich betriebswirtschaftlich für die Krankenkassen nicht".
Das "Reform-der Reform-der Reform"-Paket umfasst Forderungen, die starke Orientierung des Morbi-RSA an bestimmten Krankheiten zurückzunehmen und den Präventionsanreiz z.B. durch einen "gedeckelten Ist-Kosten-Ausgleich", also durch die Orientierung der kassenindividuellen RSA-Zuweisungen für Primärprävention an den realen Ausgaben zu verstärken.

Das 94-seitige Gutachten enthält einen Überblick über die nationale und internationale Evidenz für den Nutzen von Prävention, die Zielsetzungen von Prävention in der GKV, die Krankheitsauswahl und Präventionsanreize im Morbi-RSA, die Effekte von Präventionsmaßnahmen aus Perspektive der Krankenkassen und zu den Defiziten und Lösungsansätzen des Morbi-RSA.

Nimmt man noch die Auseinandersetzungen über die Verteilung von Mitteln für Auslandsversicherte und die Zuweisungen für Krankengeld (laut BKK-Dachverband handelt es sich allein in den Jahren 2013 und 2014 um eine Umverteilungssumme von 162 Millionen Euro) hinzu, dürfte die nächste notwendige RSA-Reform vor der Tür stehen. Egal, ob dies zutrifft oder nicht, ist aber sicher, dass auch diese Reform dann nicht die letzte wichtige Reform sein wird. Solange aber dies der Fall ist, funktioniert selbst aus Sicht der Protagonisten von "mehr Wettbewerb" dieser nicht bzw. hinterlässt mehr oder weniger unerwünschte Wirkungen für einzelne GKV-Kassen und ihre Versicherten und PatientInnen. Wie oft muss es eigentlich nicht gelingen unerwünschte Wirkungen zu verhindern bis noch einmal für die GKV grundlegend über die Weichenstellung in Richtung Wettbewerb nachgedacht wird?

Das Gutachten zu Anreizen für Prävention im Morbi-RSA von D. Häckl, I. Weinhold und N. Kossack vom "WIG2 Wissenschaftliches Institut fur Gesundheitsokonomie und Gesundheitssystemforschung" in Leipzig ist komplett kostenlos erhältlich.

Für den schnellen Überblick kann man sich die Pressemappe der IKK-Pressekonferenz herunterladen.

Bernard Braun, 27.4.16


GKV-Mitglieder müssen nicht lückenlos Leistungsrecht kennen und Kassen haften für "Versicherungsvertretertricks" ihrer Mitarbeiter

Artikel 2204 Ein letztinstanzliches Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Karlsruhe vom 18. Dezember 2012 vermittelt einen interessanten Einblick in das Klima des in der GKV herrschenden Wettbewerbs um neue Mitglieder und den u.a. durch Zielvereinbarungen aufgebauten Druck auf die mit der Mitgliedergewinnung beauftragten Mitarbeiter in den GKV-Kassen. Auch wenn es dabei zu offensichtlich falschen oder ungesetzlichen Zusagen an künftige Mitglieder und zum Einsatz teilweise absurder Mittel kommt, bedeutet dies noch lange nicht, dass der "schwarze Peter" beim Mitglied hängen bleiben muss.

In dem jetzt rechtlich geklärten Fall wechselte eine Frau mit einer Krebserkrankung nach einem Beratungsgespräch mit einem Kassenmitarbeiter ihre Kasse. Das künftige Mitglied ließ sich wegen ihrer Krebserkrankung naturheilkundlich behandeln und kaufte unter anderem Nahrungsergänzungsmittel, Vitamine, Dinkelkaffee, Kräuterblut, Natron, Mineraltabletten und Bierhefe. Die Frau konnte u.a. auch durch Zeugen belegen, dass ihr der Mitarbeiter mündlich die Erstattung der Kosten für diese Mittel durch ihre neue Kasse zugesagt hatte. Die Belege für die von ihr zum Teil verauslagten Kosten für diese naturheilkundliche ärztliche Behandlung, die Nahrungsergänzungsmittel, auch für Zahnreinigung, Praxisgebühren sowie Zuzahlungen für Massagen und für Medikamente reichte sie bei dem Kassenmitarbeiter ein und bat darum sie an die Kasse weiterzuleiten. Da dem Kassenmitarbeiter aber spätestens zu diesem Zeitpunkt klar war, dass die Kostenerstattung in diesem Fall unmöglich war, griff er zu einem absurden Mittel: Er beglich die Beträge aus seiner eigenen Tasche - ohne dass die spätere Klägerin dies erkennen konnte! Nachdem dies offensichtlich nach einer Weile nicht mehr finanzierbar war, stoppte er die Erstattung. Als sich daraufhin das Neumitglied direkt an ihre Krankenkasse wandte, flog der Schwindel auf. Die Krankenkasse weigerte sich dann aber unter Berufung auf die angeblich für jedes Mitglied bekannte Rechtslage zu den engen Grenzen der Kostenerstattung, einen Betrag von mehreren Tausend Euro zu begleichen. Dabei spielten Argumente ein Rolle, die das OLG in seinem Urteil so zusammenfasste: "Unabhängig von einem Wechsel der Krankenkasse seien die geltend gemachten Kostenpositionen nicht erstattungsfähig und medizinisch nicht erforderlich. Die Klägerin treffe ein weit überwiegendes, eine Schadensersatzpflicht ausschließendes Mitverschulden. Die behauptete Zusage des Zeugen K (der Kassenmitarbeiter) sei derart lebensfremd gewesen, der Umfang der gesetzlichen Leistungen auch allgemeinhin bekannt, so dass die Klägerin nicht auf die Zusage habe vertrauen dürfen, zumindest aber darauf hätte bestehen müssen, dass ihr diese schriftlich gegeben werde."
So kam es zur Klage, die über ein vor dem Landgericht gewonnenes Verfahren zuletzt zum OLG Karlsruhe führte. Beide Gerichte hielten die Schadenersatzansprüche der Frau für rechtens.

Das OLG stellte bei dieser Gelegenheit grundsätzlich drei Dinge zum Verhältnis zwischen gesetzlichen Krankenkassen und ihren Mitgliedern fest:

• Krankenkassen sind keine Wirtschaftsunternehmen, sondern Körperschaften öffentlichen Rechts, deren Handeln besonderen Ansprüchen genügen muss. Den von Kassen mit der Gewinnung neuer Mitglieder beauftragten Mitarbeiter muss dies unmissverständlich klar gemacht werden und vor unseriösen Versprechungen als Mittel gewarnt werden. Im OLG-Urteil steht dazu u.a.: "Bei Wahrnehmung der ihr übertragenen Aufgaben im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung obliegt der Beklagten bzw. ihren zuständigen Amtsträgern - …- die Verpflichtung zu gesetzeskonformen Verwaltungshandeln. Nach § 14 SGB I sind die Sozialleistungsträger zu einer zutreffenden Beratung der Versicherten über die Rechte und Pflichte in der gesetzlichen Krankenversicherung verpflichtet. Auskünfte und Belehrungen sind grundsätzlich richtig, klar, unmissverständlich, eindeutig und vollständig zu erteilen … . Die damit im Vorfeld des Wechsels der Klägerin zur Beklagten sowie die danach entfaltete Beratungstätigkeit des Zeugen K im Rahmen von § 14 SGB I ist als hoheitliches Handeln anzusehen."
• Die in der Tat immer unübersichtlicher werdende Welt des SGB V darf sich nicht zu Lasten des Krankenversicherten auswirken. Dazu das OLG: "Aufgrund der Komplexität des Sozialversicherungsrechts und der Verzahnung der gesetzlichen Krankenversicherung mit anderen Sozialversicherungsbereichen (Pflege, Rentenrecht, Sozialhilfe) kann nicht davon ausgegangen werden, dass in der Öffentlichkeit der Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung auch in den Details in der Weise bekannt ist, dass sich die Unrichtigkeit der Auskünfte des Zeugen K der Klägerin aufdrängen musste."
• Daraus folgt dann auch, dass dem Versicherten aus seiner Unkenntnis der Rechtslage grundsätzlich kein (finanzieller) Nachteil entstehen darf. Daher schließt das OLG seine Begründung folgendermaßen: "Nach dem Schutzzweck der verletzten Amtspflicht kann die Klägerin Erstattung der Kosten verlangen, die ihr entstanden sind, weil sie nicht zutreffend über den Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung informiert worden ist und daher nicht erstattungsfähige Leistungen in Anspruch genommen hat. Gerade die Beratungspflicht nach § 14 SGB I soll Nachteilen des Versicherten vorbeugen, die ihm dadurch entstehen können, dass er sich in Unkenntnis der Leistungen des Sozialleistungsträgers befindet."

Da nicht jeder künftige Fall von Falschauskünften zum Zwecke der Mitgliedergewinnung so ablaufen muss wie der vorliegende, empfehlen Kommentatoren jeder Person in ähnlicher Konstellation, sich Leistungszusagen vor einem Kassenwechsel schriftlich geben zu lassen oder Zeugen beizuziehen.

Das Urteil des OLG Karlsruhe Urteil vom 18.12.2012, 12 U 105/12: Amtshaftung einer gesetzlichen Krankenkasse wegen unrichtiger Auskunft der Mitarbeiter über den Leistungsumfang; Gegenstand des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ist komplett kostenlos auf dem Urteils-Server der baden-württembergischen Justiz herunterladbar.

Bernard Braun, 13.1.13


Kann man duschen ohne nass zu werden? Warum die Monopolkommission das Idyll vom "Wettbewerb light" in der GKV beenden möchte

Artikel 2086 Anfang Februar 2012 schlug die Monopolkommission der Bundesregierung in einem Sondergutachten u.a. vor, die gesetzliche Krankenversicherung als "Unternehmen" zu betrachten und ihre politisch gewollten wettbewerblichen Verträge sowie ihre rasant zunehmenden Fusionen wettbewerbsrechtlich kontrollieren zu lassen - durch das Kartell- und nicht mehr durch das Bundesversicherungsamt.

Dieser Vorschlag mag manchem der sich trotzdem gern unternehmerisch gebarenden Krankenkassen-Vorstände und -Betriebswirte nicht passen. Er will aber etwas regeln, was im Prinzip seit der politisch gewollten und von zahlreichen Akteuren inner- und außerhalb den gesetzlichen Krankenkassen immer wieder begrüßten Einführung von wettbewerblichen Elementen nach 1993 oder 1996 (z.B. Kassenwahlfreiheit, Möglichkeiten für selektive Verträge oder Rabattverträge) in regelmäßigen Abständen angedacht, -diskutiert aber nie geklärt wurde. Es geht darum, dass dieselben gesetzlichen Krankenkassen nach dem Willen desselben Gesetzgebers für das Gemeinwohl nicht nur ein agiler Haufen von Wettbewerbern, sondern eine "Solidargemeinschaft" (§ 1 SGB V) sein sollen. Sie sollen allen Versicherten in zahlreichen Bereichen "gemeinsam und einheitlich" (z.B. § 20 Abs. 1 SGB V) Leistungen anbieten. Dahinter steckt die nicht ganz unsinnige Position, dass gesetzlich Krankenversicherte, die in den meisten Fällen prozentual denselben Einheitsbeitrag bezahlen, nicht völlig unterschiedliche Leistungen erhalten sollen.

Der gesetzlich verordnete Orientierungs- und Handlungsspagat führt bisher u.a. dazu, dass sich Krankenkassenmanager, Gerichte oder Leistungsanbieter immer das herauspicken, was ihnen gerade passt. Kassenmanager sind so lange begeisterte Anhänger von Wettbewerb, solange sie - wodurch auch immer - Mitglieder gewinnen, jammern aber über "ungerechte" Effekte des Wettbewerbs, wenn sie z.B. wegen des Erhebens von Zusatzbeiträgen spürbar Mitglieder verlieren. Politiker träumten und träumen davon, bald nur noch 30 fusionierte Krankenkassen zu haben, die den Produzenten von Arzneimitteln oder Rollstühlen durch ihre Nachfragemacht "aldimäßig" niedrigere Preise und höhere Qualität abverhandeln. Die u.a. durch Fusionen etc. gebildete Nachfragemacht von Barmer GEK, TK, DAK und/oder AOK stellt quantitativ aber nichts anderes als ein oder zwei Oligopole dar. Oligopole und nicht erst Monopole entsprechen aber weder dem reinen Wettbewerbsideal noch tragen sie zwangsläufig zum Wohl der Versicherten und PatientInnen bei. Trotzdem werden die für solche Konstellationen entwickelten Schutzmechanismen und -instrumente der Oligopol- und Monopolkontrolle als staatsdirigistische Eingriff in die Selbstverwaltung und als selber wettbewerbsgefährdend abgestempelt und abgelehnt.

Wettbewerb ohne das Risiko richtig Verlierer zu sein, unternehmerisches Gebaren oder Vorstandseinkünfte ohne einen mit DAX-Wirtschaftsunternehmen vergleichbaren Zwang zur ständigen Erwirtschaftung von Einnahmen und Gewinnen oder eine oligopolistische Marktmacht ohne Schutz gegen deren Missbrauch durch übereifrige Betriebswirte wirken aber wie der Versuch duschen zu wollen ohne nass zu werden.

Um schlimmere Folgen einer unkontrollierten Marktmacht für Versicherte und Anbieter von Gesundheitsleistungen zu verhindern oder das Risiko zu vermeiden, dass der gesetzlich induzierte Spagat den sozialen oder solidarischen Kern der gesetzlichen Krankenversicherung zerreißt, gibt es drei Lösungswege:

• Erstens die Beendigung des jetzigen "Spagat"-Wettbewerbs zwischen Mitgliedern einer Solidargemeinschaft und der Rück- und Abbau der Vorstellung, gesetzliche Krankenkassen könnten und sollten nur als marktwirtschaftliche Unternehmen zum Gemeinwohl beitragen.
• Wenn man davon nicht überzeugt ist, gibt es zweitens die Möglichkeit der Überleitung in ein System des "Duschens mit Nasswerden", d.h. die Überführung der GKV und ihrer Versicherten in ein richtig und durchgängig wettbewerbliches System wie z.B. dem der privaten Krankenversicherung (PKV) mit den dann aber für richtige Wirtschaftsunternehmen geltenden Kontrollen und Korrekturen oligopolistischen oder quasimonopolistischen Handelns.
• Eine Art dritter Weg wäre schließlich die Umsetzung der Vorschläge der Monopolkommission, für den wettbewerbsorientierten Teil der gesetzlichen Krankenversicherung Regelungen des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) anzuwenden.

Die Monopolkommission schlägt dafür eine Ergänzung des § 4 SBG V vor, die folgenden Wortlaut haben könnte: "Das Handeln der gesetzlichen Krankenkassen ist unternehmerisches Handeln im Sinne des GWB. Ausnahmen sind solche Bereiche, in denen die Kassen zur Erfüllung ihres Versorgungsauftrags zu kollektivem Handeln verpflichtet sind. Dies gilt insbesondere für Verträge zwischen Krankenkassen oder deren Verbänden mit Leistungserbringern, zu deren Abschluss die Krankenkassen oder deren Verbände gesetzlich verpflichtet sind und bei deren Nichtzustandekommen eine Schiedsamtsregelung gilt."

Dieser Vorschlag beruht u.a. auf folgenden Wahrnehmungen oder Feststellungen der in der Monopolkommission arbeitenden Juristen und Ökonomen:

• "Die gesetzlichen Krankenkassen stehen auf dem Versicherungsmarkt mit ihrem Angebot im Preis- und Qualitätswettbewerb um Versicherte. Auf dem Leistungsmarkt kaufen sie die Dienstleistungen von Ärzten, Produkte von Pharmafirmen und weitere Leistungen ein. Die zunehmenden Möglichkeiten der Kassen, individuell zu handeln, haben einen sich sukzessive verstärkenden Wettbewerbs- und Leistungsdruck zur Folge, durch den Effizienzpotenziale im Gesundheitswesen erschlossen werden sollen."
• "Allerdings nimmt dabei auch der Anreiz für die Kassen zu, sich durch individuell oder kollektiv wettbewerbsbeschränkendes Verhalten Vorteile am Markt zu verschaffen. Als Beispiele seien mögliche Absprachen der Kassen bei der Beitragserhebung, die Koordination der Kassen auf den Beschaffungsmärkten, die Möglichkeit der Diskriminierung von Anbietern oder unkontrollierte Fusionen zum Aufbau von marktbeherrschenden Stellungen genannt."
• "Mit der sukzessiven Einführung von Wettbewerbselementen in das Gesundheitswesen hat sich das Erfordernis, gegen wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen vorzugehen, deutlich verschärft. Ein kartellrechtlicher Schutzbedarf ergibt sich sowohl im Verhältnis der Krankenkassen zu ihren Mitgliedern auf dem Versicherungsmarkt als auch zu den Leistungserbringern auf dem Leistungsmarkt. Daneben ist das Verhältnis der Krankenkassen untereinander betroffen, da eine zunehmende Konzentration der Kassen ebenfalls den Wettbewerb stören kann."
• "Soll der angestoßene Wettbewerbsprozess zu den gewünschten gemeinwohlfördernden Ergebnissen führen, ist er analog zu anderen Märkten vor Konzentrationstendenzen und Beschränkungen zu schützen."

Realistisch geht die Monopolkommission davon aus, dass es nicht den GKV-Akteuren überlassen bleiben sollte, den "Wettbewerb à la GKV" abzuschaffen, auf den sie geistig, mental und materiell eingeschworen sind und in dem sie sich mittlerweile auch sehr gut eingerichtet haben. Da dies auch dafür gilt die unerwünschten Effekte des jetzigen Wettbewerbs zu verhindern, weist die Monopolkommission die Aufgabe, den selbstgeschaffenen Spagat zu beenden zu Recht dem Gesetzgeber zu.

Das 62-seitige Sondergutachten gemäß § 44 Abs. 1 Satz 4 GWB der Monopolkommission mit dem Titel "Die 8. GWB-Novelle aus wettbewerbspolitischer Sicht" ist komplett als PDF-Datei erhältlich.

Bernard Braun, 25.2.12


Neues und Fundiertes zur Kritik der schwarz-gelben Gesundheitspolitik

Artikel 2045 Fast pünktlich zum Ende der ersten Halbzeit der schwarz-gelben Regierungsperiode erschien das neue Jahrbuch für Kritische Medizin und Gesundheitswissenschaften mit dem Titel Zur Kritik schwarz-gelber Gesundheitspolitik. Gut zwei Jahre ist es her, dass die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP mit dem erklärten Ziel eines grundlegenden Politikwechsels antrat. Der vermeintliche Shooting-Star Philipp Rösler, der erste liberale Gesundheitsminister dieser Republik und dieser Koalition, verkündete damals vollmundig jedem, egal ob es hören wollte oder nicht: "Wir schaffen damit ein robustes Gesundheitssystem, das nicht mehr alle zwei bis drei Jahre reformiert werden muss". So zitiert ihn auch ein Beitrag im Deutschen Ärzteblatt, der mit dem viel sagenden Satz endet: "Die private Krankenversicherung begrüßte die Beschlüsse der Koalitionäre als Richtungswechsel zu mehr Gestaltungsfreiheit und weniger Staatseinfluss."

Die Regierungsvereinbarung zwischen CDU/CSU und FDP mit dem Titel Wachstum. Bildung. Zusammenhalt enthält deutliche Hinweise auf die Zielsetzung der schwarz-gelber Koalition im Hinblick auf die Finanzierung und Versorgung im deutschen Gesundheitswesen, wie auch in dem Beitrag Bedenkliche Schlagseite gesundheitspolitischer Ziele im Koalitionsvertrag auf der Homepage des Forum Gesundheitspolitik nachzulesen ist. So heißt es zur schwarz-gelber Vorstellung von der zukünftigen Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV): "Beitrag und Leistung müssen in einem adäquaten Verhältnis stehen" (S. 85). Weiter heißt es: "Langfristig wird das bestehende Ausgleichssystem überführt in eine Ordnung mit mehr Beitragsautonomie, regionalen Differenzierungsmöglichkeiten und einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträgen, die sozial ausgeglichen werden. Weil wir eine weitgehende Entkoppelung der Gesundheitskosten von den Lohnzusatzkosten wollen, bleibt der Arbeitgeberanteil fest."

Es war also von Anfang an klar, dass der angekündigte generelle Politikwechsel nicht vor der Gesundheitspolitik halt machen würde. Allen anfänglichen Querelen zwischen den Koalitionären zum Trotz - besonders oft und laut knirschte es zwischen der durch ihren grandiosen Wahlerfolg fast größenwahnsinnig wirkenden FDP und der sich unerwartet stark des s in ihrem Namen erinnernden CSU - hat die schwarz-gelbe Regierung einige grundlegende gesundheitspolitische Weichen gestellt. Die veröffentlichte Meinung spiegelt die Bedeutung des sich anbahnenden Wandels nur teilweise wider, so dass die grundlegende Neuausrichtung der Gesundheitspolitik in diesem Lande insgesamt nicht die Wahrnehmung erhält, die sie eigentlich verdient.

Dem Jahrbuch für Kritische Medizin und Gesundheitswissenschaften waren die tendenziell unterschätzten politischen Akzente und Weichenstellungen Anlass genug, sich einmal gründlicher mit der schwarz-gelben Gesundheitspolitik zu befassen. Nach gut zwei Jahren konservativ-liberaler Regierung zieht der vorliegende Band nicht nur eine erste Zwischenbilanz der bisherigen Reformschritte, sondern wirft auch einen kritischen Blick auf die zentralen Argumentationsmuster, Inhalte und Vorhaben ihrer Gesundheitspolitik.

Nach dem Editorial, das die bisher erfolgten Maßnahmen zusammenstellt und eine Bilanz der bisherigen schwarz-gelben Gesundheitspolitik zieht, liefert Band 47 des JKMG zunächst eine kritische Auseinandersetzung mit der Kopfpauschale - semantisch passabler Gesundheitsprämie genannt - in der es weniger um die mit dem GKV-Finanzierungsgesetz eingeleitete schrittweise Umstellung von der einkommensabhängigen auf eine einkommensunabhängige GKV-Finanzierung geht, sondern in erster Linie um deren grundsätzliche Ziele und Wirkungen. Mit klassischen Mythen der Gesundheitspolitik befassen sich die drei folgenden Artikel, in denen man detailliert nachlesen kann, warum eine Senkung der Krankenkassenbeiträge weder wirksam die Lohnnebenkosten verringern noch zur Standortsicherung beitragen würde, das vermeintliche Damoklesschwert des demographischen Wandels weder apokalyptisch oder unentrinnbar noch ungestaltbar ist und die Idee einer kapitalgedeckten Kranken- und Pflegeversicherung eher einer Hausväterökonomie ent- als eine nachhaltig gesicherte Finanzierung verspricht. Zwei weitere Beiträge im JKMG 47 über die möglichen Folgen der auch von schwarz-gelb dezidiert verfolgten stärkeren Wettbewerbssteuerung der GKV vor dem Hintergrund des europäischen Wettbewerbsrechts und im Hinblick auf die gemeinsame Selbstverwaltung der GKV ergänzen die ausgesprochen informative und kenntnisreiche Kritik an der Gesundheitspolitik nicht nur von Konservativen und Liberalen. Ein Artikel über Professionsentwicklungen in der Pflege unter besonderer Berücksichtigung von Hindernissen und Möglichkeiten patientenorientierter Versorgungsgestaltung beschließt diesen Band.

Gerade durch die hochaktuelle und tiefschürfende Analyse grundlegender, "unkaputtbarer" Denkmuster konservativer und insbesondere (neo-)liberaler Gesundheitspolitik, vor denen auch Teile der deutschen Sozialdemokratie und der Grünen nicht gefeit sind, macht den 47. Band des JKMG trotz des aktuellen Aufhängers zu einem zeitlosen Beitrag zur gesundheitspolitischen Debatte in Deutschland. Neben der soliden Analyse heutiger tagespolitischer Ansätze, Interessen und Denkschablonen reihen sich mehrere Beiträge in die Tradition einer kritischen Auseinandersetzung mit den allgegenwärtigen Mythen und Halbwahrheiten ein, welche die Gesundheitspolitik in einem Maße bestimmen, das ihrem Wahrheitsgehalt bzw. der empirischen Belegbarkeit diametral entgegensteht.

Mittlerweile steht auf der Homepage des JKMG der gesamte Band 47 zum kostenfreien Download zur Verfügung. Weiterhin ist direkt beim Argument-Verlag die Printversion von Band 47 zu beziehen.

Jens Holst, 3.12.11


Sind gesetzliche Krankenkassen Unternehmen oder trotz "Wettbewerb" immer noch Körperschaften öffentlichen Rechts? Zwischenstand

Artikel 2041 Nach der am 25. Januar 2010 stattgefundenen öffentlichen Ankündigung der Vorstandsvorsitzenden von acht gesetzlichen Krankenkassen, man wolle der Ehrlichkeit halber gemeinsam Zusatzbeiträge einführen, strömten viele ihrer Versicherten in andere Kassen. Herein kam am 17. Februar 2010 ein so genannter Auskunftsbeschluss der Wettbewerbshüter des Bundeskartellamts, die in der Presse-Show abgestimmtes Verhalten von im Wettbewerb stehenden Krankenkassenunternehmen witterten und daher weitere Einzelheiten zum Hintergrund wissen wollten. Wenn der Wettbewerb zwischen Wirtschaftsunternehmen bedroht ist, ist in der Bundesrepublik das Bundeskartellamt mit dem entsprechenden Kartellrecht zuständig.

Dieselben Vorstandsvorsitzenden, die bei anderen Gelegenheiten gerne das "Kassen-Image" loswerden und als "Unternehmen" auftreten wollen und dafür viel Geld in unternehmerische Alleinstellungsmerkmale investieren, fanden diese Anfrage nicht rechtens. Darin wurden sie durch eine Pressemitteilung des nach dem Gesetz auch für viele Angelegenheiten der GKV-Kassen zuständigen Bundesversicherungsamtes vom 8. März 2010 bestärkt. Darin erklärte das Bundesversicherungsamt, dass es die Bedenken des Bundeskartellamtes nicht teile. Die vom Bundeskartellamt unterstellte Unternehmenseigenschaft von Krankenkassen sei zu verneinen. Am 19. März 2010 ging schließlich die Klage einer der angeschriebenen Krankenkassen gegen das Auskunftsbegehren beim Hessischen Landessozialgericht ein.

Und dieses hat nun am 15. September 2011 einen Beschluss gefasst, der zwei grundsätzliche Punkte hervorhob: Erstens wäre "dem Bundesversicherungsamt für bundesunmittelbare Versicherungsträger eine umfassende und ausschließliche Rechtsaufsicht zugewiesen", was bedeutet, dass "für eine parallele Zuständigkeit der Kartellaufsicht durch das Bundeskartellamt über Krankenkassen kein Raum (besteht)." Und: "Krankenkassen handeln im 'Wettbewerb' um beitragszahlende Mitglieder nicht als Unternehmen im Sinne des Art. 101 AEUV oder §§ 1, 130 GWB."

Dieser Tenor wird durch eine Reihe lesenswerter normativer Feststellungen untermauert:

• So sei "das Handeln im Wettbewerb der Krankenkassen untereinander um beitragszahlende Mitglieder auch unter Berücksichtigung der Novellierungen des SGB V seit 2004 keine wirtschaftliche Tätigkeit."
• "Krankenkassen sind nach wie vor gesetzlich verpflichtet, ihren Mitgliedern im Wesentlichen gleiche Pflichtleistungen anzubieten, die unabhängig von der Beitragshöhe sind. Sie haben außerhalb der geringfügigen Bandbreite der Wahltarife keine Möglichkeit, auf diese Leistungen Einfluss zu nehmen. Sie sind auch nach der Gesundheitsreform 2007 zu einer kassenübergreifenden Solidargemeinschaft zusammengeschlossen, die es ihnen ermöglicht, untereinander einen Kosten- und Risikoausgleich vorzunehmen. … Bei der Einführung des Gesundheitsfonds handelt es sich um eine Schwächung des Selbstverwaltungsgedankens, nicht aber um eine Verantwortungsverlagerung, die den Solidarcharakter des Krankenkassenhandelns beseitigen könnte."
• "Der Spielraum, über den die Krankenkassen verfügen, um ihre Wahltarife festzulegen und untereinander einen gewissen Wettbewerb um Mitglieder auszulösen, führt nicht zu einer anderen Bewertung. So ist die Einführung der Wahltarife nach § 53 SGB V im Zusammenhang mit der Abschaffung unterschiedlicher Beitragssätze in der GKV durch das GKV-WSG zu sehen, die ab 2009 zu einem bundeseinheitlichen Beitragssatz für alle Krankenkassen geführt hat und kassenindividuell nur noch die Erhebung eines Zusatzbeitrags in Höhe von maximal 1 v.H. der Bemessungsgrundlage zulässt. … Dem damit einhergehenden Abbau von Gestaltungsräumen der Krankenkassen hat der Gesetzgeber zur Effizienzsteigerung neue Versorgungsformen und Wahltarife flankierend an die Seite gestellt, um auch weiterhin im Rahmen eines eingeschränkten Wettbewerbs das Funktionieren des Gesamtsystems so effizient und kostengünstig wie möglich zu gestalten."
• "Der (Europäische) Gerichtshof erkennt damit an, dass der Gesetzgeber den Trägern sozialer Sicherheit ökonomische Instrumente in die Hand geben kann, um im Rahmen eines "best practice" zu einer bestmöglichen Allokation öffentlicher Mittel zu gelangen, ohne dass dies als wirtschaftliche Tätigkeit gewertet werden muss. … Der "Krankenkassenwettbewerb" dient ausweislich der Begründung des Entwurfs des GKV-WSG der Qualitäts- und Effizienzsteigerung bei der Aufgabenerfüllung …; im Übrigen zielt "Wettbewerbsstärkung" nach den Materialien im Wesentlichen auf die Stärkung des Wettbewerbs der Leistungserbringer untereinander und auf das - hier nicht einschlägige - Verhältnis der Krankenkassen untereinander als Nachfrager. Die Nutzung des Wettbewerbs zur Qualitäts- und Effizienzsteigerung der Tätigkeit der Träger eines Systems der sozialen Sicherheit wahrt am o.g. Maßstab gerade die Zielsetzung sozialer Art und ist keine wirtschaftliche Tätigkeit außerhalb der Aufgaben rein sozialer Art."

Ob nicht doch eine Reihe weiterer Aktivitäten der GKV-Kassen nicht nur unternehmerisch daherkommt, sondern dem Handeln eines Wirtschaftsunternehmens entspricht, wollte das LSG Hessen wohl nicht selber materiell entscheiden. Die Richter überließen dies "wegen grundsätzlicher Bedeutung" dem Bundessozialgericht. Das Revisionsverfahren vor diesem Gericht war daher zuzulassen.
Auf die Gefahr, dass die GKV-Kassen durch die "Verdünnung des Solidargedankens" z.B. durch Beitragsrückerstattungen oder die immer wieder angedachte einkommensunabhängigen Gesundheitsprämie europarechtlich immer mehr zu Wirtschaftsunternehmen mutierten und dann auch so behandelt werden, wiesen bereits vor einiger Zeit Juristen und Gesundheitswissenschaftler prophylaktisch hin.

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 15.9.2011 (Aktenzeichen: L 1 KR 89/10 KL) ist in ganzer Länge kostenlos zugänglich und auch für Nichtjuristen interessant. Auf das BSG-Urteil darf man gespannt sein.

Bernard Braun, 23.11.11


Steuerung durch Kassenwettbewerb - wenn ja, wie viel?

Artikel 1872 Seit etlichen Jahren bestimmt ein Thema zu beachtlichen Teilen die gesundheitspolitische Debatte in Deutschland und anderswo. Wettbewerbselemente sollen die Effizienz des Gesundheitswesens steigern und zur Kostendämpfung beitragen. Während der Wettbewerb unter Leistungserbringern vor allem im ambulanten Bereich bisher kaum eine Rolle spielt, hat die Politik seit den 1990er Jahren auf der Finanzierungsseite Marktelemente eingeführt. Der Kassenwettbewerb hat das bisher eher beschaulich-bürokratische Dasein der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erschüttert und die Zahl der öffentlichen Kassen in einen Bereich verringert, den man auch ohne Kenntnis der Vorgeschichte der sozialen Krankenversicherung in Deutschland akzeptieren mag.

Neuen Auftrieb erhält die Idee von der steuernden Wirkung des Kassenwettbewerbs allerdings durch die neueste Entwicklung in Deutschland. Dafür sorgt der Zusatzbeitrag, den bereits die Große Koalition der GKV zugestanden hat, um finanzielle Engpässe oder Dauermängel zu überwinden. Vor einiger Zeit kam es zu einem zunehmenden Wechsel von den Kassen, die den Zusatzbeitrag bereits erheben, zu solchen, die bisher nicht mehr als den 14,9-prozentigen Beitrag kassieren. Der Stern hatte sogar nachgezählt und meldete 500.000 wechseln Kasse. Der einkommensunabhängige Festbeitrag treibt in erster Linie Hartz-IV-EmpfängerInnen und RentnerInnen in die Flucht zu derzeit preisgünstigeren Kassen. Wettbewerb bedeutet eben immer auch Selektion. Und in diesem Fall gewährleistet er, dass alsbald auch die anderen Krankenkassen einen Zusatzbeitrag erheben müssen. Dank letzten Reformmaßnahme von Gesundheitsminister Philipp Rösler, die eine Verdoppelung des maximalen Belastungsanteils von einem auf zwei Prozent des Einkommens durch Zusatzbeiträge erlaubt, wird der Kassenwettbewerb noch effizienter die Gruppe aus den Versicherungen heraustreiben, die die geringsten Beiträge leisten und den größten Behandlungsbedarf haben. Schließlich soll Kassenwettbewerb ja die Effizienz steigern.

Theorien und Ideen sind ja eine schöne Sache - doch was steckt wirklich hinter dem gesundheitspolitischen Mantra des Krankenkassenwettbewerbs? Zu dieser Frage veröffentlichte die Zeitschrift Health Expectations kürzlich eine interessante niederländische Studie mit dem Titel The intention to switch health insurer and actual switching behaviour: are there differences between groups of people?. Darin untersuchen die Wissenschaftler von Zentrum für Versorgungsforschung in Utrecht gemeinsam mit Kollegen von der dortigen Universität die Bereitschaft von Versicherten, ihre Krankenkasse zu wechseln, und verglichen dies mit der Zahl der tatsächlichen Kassenwechsler nach einem gegebenen Stichtag.

Im Oktober 2006 gaben nur 166 von 12.249 befragten NiederländerInnen, also gerade einmal (1,4 %) an, ihre Krankenkasse zum Jahresende wechseln zu wollen; die große Mehrheit der Kohorte, nämlich 10 547 bzw. 86 % der Befragten beabsichtigten keinen Kassenwechsel, und die übrigen 1.536 (13%) wussten nicht, ob sie ihre Krankenversicherung wechseln würden. Dabei zeigten Frauen, ältere Menschen und solche mit geringerer Bildung, langjährige Mitglieder einer Versicherung und Personen mit schlechtem oder mäßigem Gesundheitszustand weniger geneigt, ihre Krankenkasse zu wechseln.

Nach dem Jahreswechsel, an dem ein Kassenwechsel möglich war, wechselten allerdings nur 31 % der wechselwilligen Befragten tatsächlich ihre Kasse, während 39 % bei ihrer vorherigen Versicherung geblieben waren. Immerhin 164 Personen bzw. 2 % aus der großen Gruppe der wechselwilligen Versicherten und 72 bzw. 7 % der zuvor Unentschiedenen gehörten nach dem Jahreswechsel einer anderen Kasse an, so dass in absoluten Zahlen mehr wechselunwillige als -willige tatsächlich eine neue Kasse bevorzugten.

Bezogen auf frühere Einschätzungen beispielsweise von Maarse und Kollegen in Health Care Analysis, 2006; 14 (1): 37-49 ziehen die Autoren eine eher ernüchternde Schlussfolgerung: " We might have to temper the optimistic expectations on enhanced choice". Was sie allerdings nicht davon abhält, immanent in der Logik des Kassenwettbewerbs zu verharren: "Future research should determine why people do not switch health insurer when they intend to and which barriers they experience."

Ein paar Anregungen aus einer Untersuchung über die Gründe der Nichtnutzer der Kassenwahlfreiheit in Deutschland aus dem Zentrum für Soizialpolitik der Universität Bremen, finden sich in einem früheren "Forum-Gesundheitspolitik-Beitrag". Maßgeblich sind dafür Wechselbarrieren verantwortlich, die aus grundlegenden Missverständnisse der Effekte des Kassenwechsel bestehen.

Von dem Artikel von Groenewegen und KollegInnen steht kostenlos nur das Abstract zur Verfügung.

Jens Holst, 10.11.10


Wettbewerb à la GKV oder wie kritisch darf eine gesetzliche Krankenkasse mit Direktverträgen anderer gesetzlichen Kassen umgehen?

Artikel 1695 Im 5. Buch des Sozialgesetzbuchs finden sich spätestens seit dem Wettbewerbsstärkungsgesetz aus dem Jahr 2007 eine Fülle von Möglichkeiten, dass einzelne Krankenkassen mit einzelnen Leistungserbringern so genannte Direkt- oder Selektivverträge abschließen können. Der Wettbewerb sollte nach dem Willen des Gesetzgebers nicht mehr länger mit niedrigen Beiträgen um möglichst junge und gesunde Mitglieder stattfinden, sondern z.B. auch mit guten Versorgungsangeboten für chronisch Kranke. Bis Mitte 2009 gehörte auch die hausarztzentrierte Versorgung zu den Möglichkeiten einzelner Kassen durch tatsächlich oder vermutlich gute ambulante Versorgung aufzufallen und Mitglieder zu gewinnen oder zu halten. Nachdem diese Wettbewerbsmöglichkeit von relativ wenigen Krankenkassen genutzt wurde und dazu noch äußerst phantasielos, müssen seit dem 1.7.2009 alle gesetzlichen Krankenkassen hausarztzentrierte Versorgung anbieten.

Aus der Zeit des möglichen "echten" Wettbewerbs um Hausarztversorgung stammt nun ein Rechtsstreit zwischen mehreren gesetzlichen Krankenkassen, der am 2. November 2009 durch ein Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg abgeschlossen wurde und bemerkenswerte Grundsätze für das Wettbewerbsverständnis in der GKV enthält.

Zu den Requisiten des Rechtsstreites gehören:

• Eine kritische Veröffentlichung der BKK-Verbund Plus über einen Hausarztvertrag einer konkurrierenden Innungskrankenkasse. Dort hieß es auf komparativen Krawall gebürstet unter der Überschrift "Schlucken Sie nicht jede Pille! - Gut versorgt beim Hausarzt? - eine Versicherten-Information Ihrer Krankenkassen" u.a.: "In Hausarztmodellen sind Sie in der Wahl Ihres Arztes eingeschränkt! Sie binden sich damit vertraglich für mindestens 1 Jahr an einen Hausarzt. Als Patient ist es Ihr gutes Recht, Ihren Arzt selbst und frei zu wählen! Wir schreiben Ihnen die Wahl Ihres Arztes nicht vor. Der richtige Arzt für Sie nimmt sich ausreichend Zeit für das Gespräch mit Ihnen, informiert Sie über alle Schritte und lässt Sie nicht warten.
Kein Hausarzt ohne Facharzt! Neben der qualifizierten hausärztlichen Behandlung halten wir für Sie eine umfassende und optimale Therapie auch mit Fachärzten und Klinischer Therapie für notwendig. Mit dieser "Hand in Hand-Versorgung" haben Sie die besten Möglichkeiten zur Genesung. Therapiefreiheit für Ihren Hausarzt! In Hausarztmodellen wird auf die Therapiefreiheit von Ärzten aktiv Einfluss genommen. Mit dem dadurch eingesparten Geld, soll ein Hausarztmodell vorwiegend finanziert werden."
• In diesen Äußerungen sah eine konkurrierende Krankenkasse mit Hausarztvertrag einen unzulässigen Eingriff in ihren Geschäftsbetrieb und versuchte der BKK-Verbund Plus diese Werbeaussagen durch ein einstweiliges Anordnungsverfahren vor dem Sozialgericht untersagen zu lassen. Vor allem enthielten die Äußerungen der BKK unwahre Tatsachenbehauptungen. Vor allem gehe die hausarztzentrierte Versorgung mit keiner Einschränkung der ärztlichen Therapiefreiheit einher.
• Sowohl das Sozialgericht als auch das danach angerufene Landessozialgericht sahen allerdings keinen Anlass für eine einstweilige Anordnung. Das zentrale Argument lautete: Auf das Verhältnis der gesetzlichen Krankenkassen untereinander, also alles Körperschaften öffentlichen Rechts, könne das klassische Wettbewerbsrecht zwischen Unternehmen nicht angewendet werden. Jedem der immer zahlreicher werdenden, mit Mitgliederhalte- und gewinnungsaufgaben betrauten KassenmitarbeiterInnen schreiben die LSG-Richter in ihrer Urteilsbegründung ein paar bemerkenswert wirklichkeitsnahe Merksätze ins Stammbuch: "Der Antragstellerin drohen keine gegenwärtigen Nachteile durch das von den Antragsgegnern vertriebene Informationsblatt. Denn die streitigen Informationen sind bereits am 12. Mai 2009 von der betreffenden Internetseite der Antragsgegnerin zu 2 gelöscht worden und diese wurde angewiesen, das Informationsblatt nicht mehr zu verwenden. Die Antragstellerin weist zwar zutreffend darauf hin, dass allein damit eine Wiederholungsgefahr nicht beseitigt wird. Das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr als Voraussetzung für einen Unterlassungsanspruch begründet in Fallkonstellationen der vorliegenden Art jedoch noch keinen Anordnungsgrund. Zur Durchsetzung eines Unterlassungsanspruches gegen ein tatsächliches oder vermeintliches Fehlverhalten einer Krankenkasse oder ihres Verbandes im Bereich der Mitgliederwerbung - hierzu rechnet der Senat das von den Antragsgegnerinnen herausgegebene Informationsblatt - kann den Beteiligten grundsätzlich die Klärung der streitigen Fragen in einem Hauptsacheverfahren zugemutet werden, da eine mögliche Reaktion der Versicherten auf das beanstandete Verhalten in der Regel nicht sofort zu größeren wirtschaftlichen Nachteilen bei einer Krankenkasse führt. Solche wirtschaftlichen Nachteile sind im Übrigen auch nicht konkret bezeichnet und belegt worden".
• Trotz der Nichtdringlichkeit einer Entscheidung kommen die Richter dann aber zu einem Urteil bzw. aus seiner Sicht einzuhaltenden Wettbewerbsregeln, die wahrscheinlich die wettbewerbseifrigen Marketingabteilungen der gesetzlichen Krankenkassen noch mehr erschüttern. Die Entscheidung gegen die Verbreiterin der Informationsbroschüre wird u.a. mit folgenden Argumenten begründet: "Die [BKKen] könnten mit den von der Antragstellerin beanstandeten Aussagen [...] gegen das öffentlich-rechtliche Gebot der Rücksichtnahme und die Pflicht zur sachbezogenen Information verstoßen. Schon der Umstand, dass die Antragsgegner die hausarztzentrierte Versorgung nahezu ausschließlich negativ darstellen, dürfte mit einer sachbezogenen Information kaum vereinbar sein, da es sich dabei um ein besondere Versorgungsform handelt, die nicht nur im Gesetz vorgesehen ist, sondern die nach § 73b Abs. 1 SGB V alle Krankenkassen anbieten müssen. Darüber hinaus spricht viel dafür, dass die Antragsgegner mit diesen Äußerungen den Eindruck erwecken, den Versicherten werde die Wahl ihres Arztes vorgeschrieben. Dabei ist die Teilnahme an der hausarztzentrierten Versorgung freiwillig (§ 73b Abs. 3 Satz 1 SGB V). Die Aussagen zur Therapiefreiheit in Hausarztmodellen entsprechen wohl ebenfalls nicht den Tatsachen. Denn die ärztliche Therapiefreiheit darf in der hausarztzentrierten Versorgung nicht eingeschränkt werden und wird es auch nicht. Die Behauptung der Antragsgegner, das Informationsblatt sei als interne Argumentationshilfe für Mitarbeiter herausgegeben worden, dürfte schon durch die Überschrift widerlegt werden. Darin werden die Ausführungen als "Versicherten-Information Ihrer Krankenkassen" bezeichnet; außerdem werden die Versicherten auch an anderer Stelle direkt angesprochen."

Der juristische Kommentator Robert Kazemi bewertet auf der Fach-Website "medizinRecht" das Urteil dann auch am 2. November 2009 so: "Meinungsfreiheit auf Seiten der gesetzlichen Krankenversicherung hat Grenzen. Anders als grundrechtsgeschützte Privatpersonen und Vereinigungen sind die gesetzlichen Krankenkassen in hohem Maße der Neutralität verpflichtet. Offene Kritik am System steht ihnen nicht zu".

Rechnet man zu diesen Besonderheiten gesetzlicher Krankenkassen auch noch die besondere Verpflichtung zur Wahrheit und Bedarfsgerechtigkeit der ihren Versicherten angebotenen Leistungen hinzu, kann sich jeder gesetzlich Krankenversicherte anhand der Broschürenberge seiner Kasse ein Bild über die Größe der Diskrepanz zwischen Norm und Wirklichkeit machen.

Den Beschluss des LSG Baden-Württemberg vom 02.11.2009 (AZ L 11 KR 3727-09 ER/B) können Interessenten kostenlos nachlesen.

Bernard Braun, 18.12.09


Jedem sein "Wahlpaket", aber welches Leistungs-Paket schnüren wir dieses Jahr? 86 Seiten gegen die Unübersichtlichkeit in der GKV

Artikel 1385 Das deutsche Gesundheitssystem ist in seiner gegliederten Struktur von Trägern, Leistungsbereichen (ambulant, stationär) und Leistungserbringern eines der weltweit für die Versicherten und natürlich vor allem für akut Leistungsbedürftige unübersichtlichsten Systeme. Ein Dauerthema der gesundheitspolitischen Debatte und Regulierung der letzten 30 Jahre ist daher mehr oder überhaupt Transparenz herzustellen, Zuständigkeiten zu bündeln, durch Kooperationsverpflichtungen den Suchaufwand für Leistungsbedürftige zu minimieren oder durch Case- und Caremanagement bzw. Lotsen bedarfsgerechte Versorgung möglichst nahtlos und zügig erhältlich zu machen.

Obwohl selbst diese erkanntermaßen notwendigen Aktivitäten (noch) nicht besonders gut funktionieren (Vorsicht ist aber schon wegen ihrer fehlenden Evaluation dringlich geboten) und als ob es nicht jahrelange Diskussionen über die begrenzten Informationsbeschaffungs- und -bewertungskapazitäten von "Kunden" im Allgemeinen und gesunden wie besonders kranken Versicherten gäbe, forciert die Gesundheitspolitik an anderer Stelle und in den letzten Jahren im Zeichen des Wettbewerbs gerade noch die Vielfalt und -zahl von Leistungsangeboten. Wer also von der Unübersichtlichkeit der Handytarife noch nicht genug hat, kann sich im Gesundheitswesen in zunehmendem Maße in einer ähnlichen Wahllandschaft bewegen. Nur, dass es dabei um Versicherungs-Wahltarife geht und die Folgen einer falschen Wahl wesentlich schwerer wiegen als bei einem falschen Telefon- oder KFZ-Haftpflichttarif.

Hier wie an anderer Stelle gibt es aber dann auch gleich "Hilfe" und zwar durch privatwirtschaftliche oder auch öffentliche Anbieter von Leitfäden oder Handbüchern. Diese sind nach langjährigen Erfahrungen im In- aber vor allem auch im Ausland (in den USA sind um den Tarif- und Versicherungswahl-Termin im jeweiligen Dezember herum Dutzende derartiger Werke an jedem Zeitungskiosk zu erstehen und zusammen mit weiteren fünf Dutzend Internet-Onlineleitfäden Grundlage für einen kognitiv extrem aufwändigen (Aus-)Wahlprozess) selbst umfangreiche und methodisch anspruchsvolle Werke geworden.

Dazu zählt - für den Anfang - auch der gerade erschienene 86 Seiten umfassende Open-Source-"Leitfaden Wahltarife der gesetzlichen Krankenversicherungen (einschließlich eines Wahltarife-Bewertungsmodells)" von Prof. Dr. med. Dipl.-Kfm. Rainer Riedel (Direktor Institut für Medizin-Ökonomie & Medizinische Versorgungsforschung an der Rheinischen Fachhochschule Köln [RFH]), Markus Rolle (Medizincontroller, BARMER Ersatzkasse Hauptverwaltung Wuppertal), Kirsten Ulrich, Dipl. oek./Medizin (RFH) und Madeleine Worringer (Wissenschaftliche Mitarbeiterin RFH)

Seit April 2007 haben gesetzliche Krankenkassen die Möglichkeit, Wahltarife anzubieten. Der Gesetzgeber erhofft sich dadurch mehr Wahlfreiheit für die Versicherten sowie mehr Transparenz und Wettbewerb zwischen den Krankenkassen. Zwei Varianten werden unterschieden: Versorgungsbezogene Wahltarife motivieren beispielsweise chronisch Kranke zur aktiven Teilnahme an strukturierten Behandlungsprogrammen (z.B. DMP, Hausarztmodell) oder bestimmte Versichertengruppen zu einem gesundheitsbewussten Leben und bieten dafür beispielsweise eine Ermäßigung der Praxisgebühr. Zum anderen gibt es die monetären Wahltarife, die finanzielle Anreize durch Selbstbehalte, Kostenerstattungstarife und Beitragsrückerstattungen anbieten.

Die Autoren bieten eine detaillierte Gegenüberstellung der aktuellen Wahltarife der 18 größten gesetzlichen Krankenkassen und eine Analyse der unterschiedlichen Tarife. Die Berechnungen sind anhand eines Punktesystems leicht nachvollziehbar. Das Analysemodell kann sowohl vom Einzelnen als auch von Krankenkassen, Versicherungsberatern oder von Verbraucherorganisationen genutzt werden. So können Versicherte versuchen, den besten und günstigsten Wahltarif für ihre persönliche finanzielle, gesundheitliche und familiäre Situation zu finden und selber zu berechnen. Im Leitfaden finden sich alle derzeit angebotenen kassenindividuellen Wahltarife der in die Studie einbezogenen gesetzlichen Krankenkassen.

Nicht weiter verwunderlich ist, dass "die Autoren ... in der Einführung der GKV-Wahltarife einen großen Mehrwert für den mündigen Versicherten (sehen). Jeder gesetzlich Versicherte kann so sein "Wahlpaket" seinen individuellen Bedürfnissen schüren. Dies sei als großer Fortschritt in Richtung einer Erhöhung der Patientenselbstverantwortung zu werten." Und weiter heißt es in der Pressemitteilung der Leitfadenschreiber: "Von Krankenkassenseite wird bestätigt, das es zur Zeit keine vergleichbare Publikation gibt, mit der Versicherte selbst entscheiden und abwägen können, was aus dem vielfältigen Angebot der Wahl- und Selbstbehalttarife für ihre persönliche Situation gut sein könnte."

Warum sich Versicherte, die es hier mit den politischen Vorgaben zur Differenzierung der Leistungsangebote in der GKV zu tun bekommen, nun mit diesem Leitfaden und seinen kostenfreien oder -pflichtigen Nachfolgern rumschlagen müssen und nicht von der GKV-Gemeinschaft (in § 1 SGB V steht immer noch etwas von der "Krankenversicherung als Solidargemeinschaft") zentral und aus Beiträgen finanziert über den "Tarifdschungel" informiert werden, gehört zu den vielen unerwünschten Folgen der Wettbewerbsorientierung in der GKV.

Wer das Pech hat bzw. die Wahl traf nicht in einer der 18 hier untersuchten GKV-Kassen Mitglied zu sein, tut sich mit deren Wahltarifen schon etwas schwerer. Doch keine Sorge: Das nächste Handbuch kommt bestimmt und auch in den 18 Kassen gibt es bald noch mehr nützliche oder auch unnütze Wahlmöglichkeiten.

Den 86-seitigen Leitfaden Wahltarife der gesetzlichen Krankenversicherungen, einschl. eines Wahltarife-Bewertungsmodells gibt es kostenlos auf der Homepage der Rheinischen Fachhochschule Köln (RFH).

Bernard Braun, 5.11.08


Gutachten zur Gesundheitsreform fordert mehr echten Wettbewerb

Artikel 0371 Mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen ist nötig und möglich. Das zeigt ein Gutachten namhafter Wissenschaftler, das der AOK-Bundesverband in Auftrag gegeben hat. Es enthält neben Vorschlägen für praktische und schnell umsetzbare Regelungen sogar Formulierungen für die nötigen gesetzlichen Änderungen. In der 101 Seiten umfassenden Untersuchung haben die Wissenschaftler Prof. Dieter Cassel, Dr. Stefan Greß und Prof. Jürgen Wasem von der Universität Duisburg-Essen, Prof. Ingwer Ebsen von der Universität Frankfurt sowie Sabine Schulze und Dr. Klaus Jacobs vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) die bisherigen Wettbewerbsinstrumente in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) analysiert und daraus Empfehlungen erarbeitet, um kurzfristig den Wettbewerb vor zwischen den Leistungserbringern zu verstärken. Die Autoren machen konkrete Vorschläge, welche Gesetzesänderungen notwendig sind, damit ein so genannter Vertragswettbewerb zwischen Kassen und Leistungserbringern um qualitativ hochwertige und wirtschaftliche Versorgungsformen rasch in Gang kommen kann.

Die Wissenschaftler halten in ihrem Gutachten fest, dass in den vergangenen Jahren der Gesetzgeber zwar eine Vielzahl von Einzelschritten hin zu mehr Wettbewerb gemacht hat, diese Schritte aber in sich nicht schlüssig und nicht aufeinander abgestimmt waren. Das gelte auch für den bisherigen Entwurf der Gesundheitsreform. "All die guten Vorschläge können nicht verwirklicht werden mangels Geld", kritisierte Gesundheitökonom Wasem in Berlin. Als dringend ergänzungsbedürftig bezeichnete AOK-Chef Ahrens deshalb die im bisherigen Reformentwurf enthaltenen Finanzierungsregelungen. So sei zwar vorgesehen, die niedergelassenen Ärzte künftig abhängig von der Krankheitshäufigkeit der Patienten zu vergüten. Aber es fehlten die entsprechenden Regelungen für einen krankheitsorientierten Risikostrukturausgleich zwischen den Kassen.

• Die Wissenschaftlergruppe schlägt vor, die Möglichkeiten für Einzelverträge zwischen Kassen und Leistungserbringern wie etwa niedergelassenen Ärzten oder Kliniken auszubauen. Mit solchen Einzelverträgen sollen medizinische Behandlungen, die bislang in Kollektivverträgen vereinbart werden, nach anderen Regeln und Anforderungen vergütet werden, wie das bisher bei der so genannten Integrierten Versorgung möglich ist.
• Außerdem plädieren die Forscher dafür, diese Selektivverträge nicht nur dann zuzulassen, wenn damit ambulante und stationäre Versorgung miteinander stärker verzahnt werden.Vielmehr sollen Selektivverträge nach den Regeln der Integrierten Versorgung auch ausschließlich mit Krankenhäusern oder mit Gruppen von niedergelassenen Haus- oder Fachärzten erlaubt werden.
• In der Arzneimittelversorgung sollen die Kassen ebenfalls mehr Handlungsfreiheit erhalten. Sie sollen künftig direkt mit den Pharmaherstellern aushandeln, zu welchem Preis ihre jeweiligen Versicherten die Präparate bekommen.

Hier finden Sie die 101seitige Langfassung: Weiterentwicklung des Vertragswettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung - Vorschläge für kurzfristig umsetzbare Reformschritte

Gerd Marstedt, 6.12.2006


MDK: Unabhängigkeit und sozialmedizinische Kompetenz versus Wettbewerbsassistenz

Artikel 0277 Im Zuge der verstärkten Standardisierung der medizinischen und pflegerischen Versorgung im deutschen Gesundheitswesen, der darauf mit basierenden erweiterten Möglichkeiten Qualitätssicherung und Begutachtung im ambulanten und stationären Bereich zu betreiben und mit den gesetzlich erweiterten Möglichkeiten der Krankenkassen für Verträge mit ausgewählten Leistungsanbietern, entwickelte sich der "Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK)" zu einem vielfach präsenten und potenten Akteur im Gesundheitswesen.

Lange weitgehend ausgeklammert aus den unterschiedlichsten Ansätzen zu einer stärkeren Wettbewerbsorientierung des Systems der sozialen Krankenversicherung hat der in dieser Form seit 1.1. 1989 existierende MDK die Funktion einer unabhängigen Begutachtungs- und Beratungsinstitution der Gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung. Seine Auftraggeber sind die einzelnen Kranken- und Pflegekassen. Deren Wettbewerb berührt auf vielfältige und widersprüchliche Weise die Aufgaben, die Arbeitsweise, die Beziehungen zu den Krankenkassen, zu den Versicherten, zu den medizinischen Dienstleistern und auch die Unabhängigkeit des MDK.

Jens-Uwe Niehoff, bis 1995 Direktor des Instituts für Sozialmedizin und Epidemiologie an der Charité und danach auch zeitweise in einem regionalen MDK tätig, untersucht und diskutiert in einem umfangreichen als PDF-Dokument erhältlichen Gutachten mit dem Titel "Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung zwischen Korporatismus und Wettbewerb" die sich derzeit vollziehenden widersprüchlichen Entwicklungen im Verhältnis von Krankenversicherung, Krankenkassen und MDK. Dabei steht der Zusammenhang mit dem zunehmenden politisch gewünschten Wettbewerb der einzelnen Kassen untereinander im Vordergrund.

Im Ergebnis wird die Auffassung vertreten, dass der MDK als Institution der Krankenversicherung solange unverzichtbar sein wird, wie eine sozial undiskriminierte, nach Maßgabe sozialer Lebenslagen und regionaler Bedingungen allgemein zugängliche und am individuellen Bedarf orientierte Versorgung für alle Bürger unabhängig von Geschlecht, Alter, Einkommen und ethnischer Zugehörigkeit als politisches Ziel hinreichend konsensfähig ist.

Vor allem diese Ziele machen eine unabhängige Institution notwendig, die
• in den Sachfragen der medizinischen Versorgung individueller Patienten und
• in den Fragen der Gestaltung von effektiven, d.h. an Zielen orientierten Versorgungsstrukturen und -prozessen professionell sozialmedizinisch und gesundheitswissenschaftlich und vor allem
• interessenunabhängig Expertisen erstellt und Kontrollen durchführt.

Angesichts des Wettbewerbsdrucks auf die einzelnen Kassen sieht Niehoff im Interesse der Versicherten die Notwendigkeit die Relationen zwischen den Aufgaben in der medizinischen Begutachtung bzw. Beratung einzelner Leistungsfälle und in der sozialmedizinischen Beratung der heranwachsenden und übergreifenden systembezogenen Problemstellungen für die Versicherten neu zu bestimmen. Die wichtigsten Gründe hierfür ergeben sich aus den Veränderungen der Eigentumsformen und der Eigentümerbeziehungen sowie den nachfolgenden sich neu etablierenden Interessengeflechte im Gesundheitssystem. Hierzu bedarf es der Weiterentwicklung eines rechtlichen Ordnungsrahmens, der den MDK in seiner unabhängigen, wettbewerbsneutralen und überregionalen Arbeitsfähigkeit stärkt und ihn als eine Institution der Mitglieder der Krankenversicherung schärfer profiliert und normiert.

Offizielle Informationen über Struktur und Aufgaben des MDK auf der MDK-Homepage.

Bernard Braun, 2.11.2006


Krankenkassen vernachlässigen Wettbewerb um Neumitglieder

Artikel 0214 Eine jetzt veröffentlichte Studie des Coaching- und Beratungsunternehmens in-prove aus Veitsbronn zeigt auf: Krankenkassen-Mitarbeiter sind zwar freundlich und zuvorkommend bei Telefonanfragen potentieller Neukunden, aber zugleich wenig überzeugend, was ihre Informationen anbetrifft. Insgesamt 1.358 Test-Telefongespräche bei 197 Krankenkassen quer durch alle Kassenarten haben Michael Reichl, Autor der Studie und seine im-prove-Mitarbeiter geführt. Das Ergebnis: 96 Prozent der Krankenkassenmitarbeiter nutzten die Chance zum Neukundenkontakt nicht ausreichend.

In der Studie wurden zwei Gesprächstypen realisiert. In Variante 1 wurde sehr direkt gefragt: "Guten Tag, wie hoch ist denn Ihr aktueller Beitragssatz?". Variante 2 sollte in Erfahrung bringen, wie die Servicefreundlichkeit ist, ob der Fragende als potentieller Kunde erkannt wird, welche Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft der Krankenkassenmitarbeiter an den Tag legt. Die Frage lautete: "Guten Tag, ich bin gerade auf der Suche nach einer neuen Krankenkasse und möchte mich erkundigen, was denn für die … spricht bzw. was Sie so alles anbieten?" Bei beiden Fragetypen hatten die Krankenkassen-Mitarbeiter ausreichend Gelegenheit, ein weiterführendes Gespräch mit dem Interessenten in Gang zu setzen.

Das Ergebnis zeigt wenig Wettbewerbsorientierung bei den Kassen: Von 653 Gesprächen der Variante 1 wurde in 626 Fällen vom Krankenkassenmitarbeiter nach Auskunft des Beitragssatzes das Gespräch beendet. Das bedeutet, dass 96 Prozent der Anrufer nicht als Interessent und potentielles Neumitglied erkannt wurden. In Variante 2 versuchte nur knapp ein Viertel, im Rahmen einer klassischen Gesprächseröffnung die Bedürfnisse des Kunden zu ermitteln nach dem Motto "Was ist Ihnen denn wichtig bei Ihrer Krankenkasse?" oder "Was für Anforderungen stellen Sie an Ihre Krankenkasse?". Nicht einmal die Hälfte aller Krankenkassen-Mitarbeiter (40%) sah sich in der Lage, die Vorteile des eigenen Unternehmens aufzuzählen. Ein gutes weiteres Viertel (27%) verwies schlicht auf Unterlagen, die man dem Kunden zuschicken wolle und in denen alles nachzulesen sei.

In einem Interview mit dem Studien-Autor Michael Reichl sind die wichtigsten Ergebnisse der Befragung zusammengefasst: "Wie vertriebsorientiert denken gesetzliche Krankenkassen? 96 Prozent nutzen ihre Chancen nicht". Die komplette Studie kann angefordert werden bei im-prove

Gerd Marstedt, 11.12.2005


Risikoselektion in der GKV: Ein noch ungelöstes Problem

Artikel 0135 Eine der Funktionsbedingungen für Kassenwettbewerb ist, dass Risikoselektion unterbunden wird. Denn Gegenstand des Kassenwettbewerbs sollen nicht bestimmte Merkmale von Versicherten sein (z.B. chronische Erkrankung, Verdiensthöhe, Alter), vielmehr sollen die Anreize zur Verbesserung der Qualität und Effizienz der medizinischen Versorgung verstärkt werden. In einem wettbewerblichen Krankenversicherungssystem mit Risikoselektion werden die Interessen schlechter Risiken unzureichend berücksichtigt. Risikoselektion in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) soll zwar durch den Risikostrukturausgleich (RSA) verhindert werden. Die bislang unzureichende Funktion des RSA wird in einer neuen Studie ebenso aufgezeigt wie vielfältige empirische Beispiele für die Vorgehensweise von Kassen, um "gute und schlechte Risiken" bei der Gestaltung ihrer Versichertenstruktur zu unterscheiden. Die Versichertenmerkmale Einkommen und Morbidität werden im RSA nicht hinreichend ausgeglichen. Theoretisch bestehen für die Krankenkassen also deutliche Anreize, Risikoselektion zu betreiben.

Dass dies auch faktisch geschieht, zeigen die Autoren der Studie anhand zahlreicher Beispiele auf. Sie beschreiben vielfältige Möglichkeiten, mit denen Kassen versuchen, ihre Versichertenstruktur zu beeinflussen, z.B.: Gezielte Gestaltung des Versicherungsangebots bzw. der Zusatzversicherung, das Anbieten von weiteren Versicherungsprodukten, die nicht im Zusammenhang mit Krankheitsrisiken stehen, selektive Werbe- und Marketingstrategien, Anzahl und Lage der Geschäftsstellen sowie regionale Tätigkeit der Kassen, guter oder schlechter Service, Informieren über einen Kassenwechsel oder Warnen vor einem Wechsel, Risikoselektion im Zusammenhang mit Kassenfusionen. Beispiel für letzteres: Eine BKK in Abwicklung überließ einen Großteil ihrer Berufstätigen und freiwillig Versicherten einer anderen BKK. Teilweise geschah dies ohne vorherige Einwilligung der Betroffenen. Den Rentnern der abgewickelten BKK hingegen wurde in einem Schreiben ausdrücklich empfohlen, eine Ersatzkasse zu wählen.

Die Autoren kommen zu dem Schluss: "Es hat sich gezeigt, dass der Risikostrukturausgleich in Deutschland die Merkmale Morbidität und Einkommen unzureichend berücksichtigt. Damit besteht für Kassen ein deutlicher Anreiz zur Risikoselektion. Dies wird durch zahlreiche Beispiele von Selektionsmaßnahmen aus der Praxis bestätigt. Dabei zeigt sich in acht Jahren Kassenwettbewerb eine breite Palette an Selektionsformen, die vom Einfallsreichtum der Kassen zeugen. Auch vor Gesetzesübertretungen wird dabei zum Teil nicht zurückgeschreckt. Bei diesen Beispielen handelt es sich wahrscheinlich nur um die Spitze des Eisberges, es ist von zahlreichen weiteren, unaufgedeckten Maßnahmen und einer großen Grauzone auszugehen." (S. 59).

Das 64seitige Gutachten (Autoren: Karin Höppner, Stefan Greß, Heinz Rothgang, Jürgen Wasem, Bernard Braun, Martin Buitkamp) kann auf der Homepage des Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen als PDF-Datei heruntergeladen werden.

Gutachten "Grenzen und Dysfunktionalitäten des Kassenwettbewerbs in der GKV: Theorie und Empirie der Risikoselektion in Deutschland"

Gerd Marstedt, 3.10.2005